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Die Gleichheit

Arena, und die anschwellende rote Flut droht große Wählermassen aus dem klerikalen Lager zu reißen. Das Zentrum, das lange schon die Frau als stille, heimliche Helferin in politischen Dingen sich nutzbar gemacht hat, lernt nun auch ihre öffentliche politische Mit­arbeit anerkennen. Das zeigte sich gelegentlich des Zentrumssieges bei der Kölner Stadtverordnetenwahl dritter Klasse am 8. No­bember. In einer Wählerversammlung des Zentrums äußerte der Parteivorsitzende Dr. Mertens in seinem Schlußwort unter großem Beifall: Nach alter deutscher Sitte danke ich zunächst den Frauen. Zum ersten Male, seitdem die Kölner Zentrumspartei besteht, haben wir die von unseren Frauen uns angebotenen Dienste angenommen und uns gern zunuze gemacht. Viele von ihnen haben eifrig und tatkräftig in der Agitation mitgeholfen und bewiesen, daß sie es verdienen, an unserer politischen Arbeit teil­zunehmen." Daß die Frauen es verdienen, nicht bloß an der Arbeit, sondern auch an den politischen Rechten der Männer teil­zunehmen, hat der Zentrumsführer noch nicht ausgesprochen. So viel Gerechtigkeitssinn betätigt einstweilen von allen großen Par­teien in Deutschland einzig und allein die Sozialdemokratie, auch nicht die Partei für Wahrheit, Freiheit und Recht". Aber es wird die Zeit kommen, wo das Zentrum die Konsequenzen aus dem Wandel der Dinge und Werte, aus der politischen Betätigung der Frauen ziehen muß, wie dies jetzt zum Beispiel Dr. Heim tut. Wie start das Drängen katholischer Frauenkreise nach Betätigung am politischen Leben ist, beweist die Entwicklung des Düssel­ dorfer Frauenvereins. Es ist das ein Frauenverein gegen das Frauenwahlrecht; außerordentlich rührig ist aber der Anteil, den seine Mitglieder am Kampfe gegen die Sozialdemokratie nehmen, und rasch wächst unter frommer Begönnerung die Zahl der Or ganisierten, die er umschließt. Erscheinungen dieser Art im Lager eines Feindes müssen die Genofsinnen und Genossen anspornen, mit verzehnfachter Energie an der Erweckung und Schulung des weiblichen Proletariats zu arbeiten. Der jeßige Wahlkampf zeigt, daß das Wettrennen der bürgerlichen Parteien um die Wahlhilfe der armen Frau beginnt.

Die liberalen Berliner Frauen im Wahlkampf. Wie wir be­reits mitteilten, wollen die liberalen Damen unter Fräulein Lisch­newskas Führung den ersten Wahlkreis der Reichshauptstadt gegen den Ansturm der Sozialdemokratie verteidigen helfen. Eine Ver­sammlung, die sie zu diesem Zwecke nach dem Tiergartenhof" ein­berufen hatten, hinterließ gerade keinen überwältigenden Eindruck. Wohl war der kleine Saal dicht besetzt, allein der stolz gepredigte Vernichtungszug gegen die böse Sozialdemokratie ward in Wirk lichkeit ein Froschmäusekrieg zwischen den Gönnerinnen des ent­schiedenen, vollen und ganzen" Liberalismus des Herrn Kämpf und den Anhängerinnen des Obersten a. D. Gädke von der Demokratischen Vereinigung . Fräulein Lisch newska war die Löwin des Abends. Sie fühlte sich schon ganz unter den Palmen unferer tropischen Kolonien. Majestätisch grollte ihr Sehnsuchts­schrei nach neuen geraubten Länderstrecken, die die überschüssige deutsche Bevölkerung aufnehmen sollen, während der gut vater­ländische Kapitalist durch seine Streitbrecheragenten Böhmen , Jta­liener hereinrufen läßt, um die Lebenshaltung der deutschen Ar­beiter womöglich auf das Niveau von Kulis herabzudrücken. Von den königlichen Kaufleuten und Großindustriellen im Hansabund erhofft Fräulein Lischnewska mit Hilfe der Frauen eine Wieder­geburt des Liberalismus, der Deutschland herrlichen Tagen ent­gegenführen wird, die die kühnsten Kolonialträume erfüllen. Und um dieser Hoffnung willen brachte es Fräulein Lischnewska fertig, die Ergebnisse des Reichstags der Hottentottenwahl zu rühmen: das polizeilich verschandelte Reichsvereinsgesetz, den volksfeind­lichen Schwindel der Finanzreform, ja sogar das Gemisch von Flickwerk und Ausnahmerecht der Reichsversicherungsordnung. Herr Kämpf aber ist berufen, an den weiteren Wunderwerken des Liberalismus hervorragend mitzuwirken. Ihm muß daher die Wahlhilfe aller liberalen Frauen zuteil werden. Die demokra­tischen Frauenrechtlerinnen sparten an diesen Ausführungen nicht mit ihrer Kritik. Nach ihnen ist Herr Gädke der auserlesene Mann, für den die Frauen eintreten müssen, denn mit Sachkenntnis kann er über den Militarismus urteilen, und ohne Schwanken tritt er für die Frauenrechte ein. Ach, gehen Sie doch mit Ihrem Herrn Gädke in andere Kreise," hieß es von einer Seite. Unmutig schallte es zurück: Stören Sie uns hier im ersten Wahlkreis nicht, wir müssen sorgen, daß nicht ganz Berlin rot wird." Dies Wort verriet des Pudels Kern. Der pußige Sturm im Finken näpfchen endete zuguterlegt mit Fräulein Lischnewstas feierlichem Schwur, daß die liberalen Frauen im Bunde mit dem Liberalis­mus und gegen die Sozialdemokratie für Deutschlands Zukunft fämpfen wollen. Bittere, Byzanz!

Verschiedenes.

Nr. 7

Eine alltägliche Geschichte. Ein zartes, schwaches Mädchen wird auf meine Abteilung gebracht; ich untersuche es im großen Krantensaal und finde nichts als ein leicht erregbares, nervöses Herz, eine allgemeine Erschöpfung, die inneren Organe scheinen durchaus gesund zu sein. Instinktiv weiß ich, hier liegt hauptsächlich ein see­lisches Leiden vor, hier hilft nicht der Arzt, sondern nur der teil­nehmende, mitfühlende und verstehende Mensch. Ich bitte daher die Patientin in mein Sprechzimmer, geleitet von der Hoffnung, daß es mir in einer Unterredung unter vier Augen gelingen möge, das Ver trauen des Mädchens zu gewinnen, es zu einer offenen Aussprache zu veranlassen. Das Mädchen erzählte mir eine ganz alltägliche Geschichte.

" Ich liebte einen Ingenieur, meine Eltern, einfache Arbeiter, bezweifelten von der ersten Minute an den Ernst seiner Absichten und warnten mich unaufhörlich vor dem vornehmen Freier. Ich schlug alle Warnungen in den Wind und glaubte den Worten meines Geliebten. Freudestrahlend ging ich mit ihm, so oft er aus der benachbarten Stadt zu einem Stelldichein kam. Aber nicht lange sollte mein Glück währen. Es war bald kein Zweifel mehr möglich, ich war schwanger, und die Mitteilung hiervon beant wortete mein Bräutigam mit tiefem Schweigen. Von dieser Stunde an hat er kein Wort mehr geschrieben, sich nie nach meinem Bes finden erkundigt, feinen Pfennig Geld hat er geschickt, damit ich für das Kindchen sorgen konnte.

Was sollte ich tun? Tagsüber mußte ich mit freundlichem Ge sicht hinter dem Ladentisch stehen und Kunden bedienen, die Nächte verbrachte ich schlaflos, gequält von Verzweiflung, Kummer, Sorge und Angst. Angst vor dem Vater, der von meinem Zustand nichts ahnte. Am schlimmsten von allem aber war die grenzenlose Ent täuschung, der Abscheu und Elel vor dem Verführer.

Nach und nach wurde meine körperliche Schwäche und Hinfällig­feit so groß, daß ich einen Arzt aufsuchen mußte. Dieser zog noch einen zweiten zu Rate, und die Herren beschlossen mit Rücksicht auf meine Hinfälligkeit und aus Furcht vor einer beginnenden Lungenerkrantung die Schwangerschaft künstlich zu unterbrechen. Ohne Wissen meiner Eltern lag ich im Krankenhaus, die Operation wurde vorgenommen. Schimpf und Schande wurden von mir ab gewendet, aber- obwohl auch die Lunge wieder ausgeheilt ist- ich kann dieses Erlebnis nicht überwinden, ich kann nicht mehr zu Kräften kommen, mein Lebensmut ist gebrochen. Ein volles Jahr lag ich schon im Krankenhaus, über 1000 Mt. haben meine armen Eltern für mich bezahlen müssen, denn ich gehöre keiner Kasse an." Wem drängen sich bei einer solchen Erzählung nicht eine Menge Gedanken auf?

Man könnte darauf hinweisen, daß es für ein Mädchen immer sehr unklug und in vieler Hinsicht sehr gewagt ist, sich vor der Ver­heiratung in geschlechtlichen Verkehr einzulassen; man fönnte warnen, den Eintritt in eine Krankenkasse nicht zu unterlassen usw. Mich interessiert hier aber nur die Frage, wie weit der Mann gesetz lich verpflichtet gewesen wäre, für den entstandenen materiellen und ideellen Schaden aufzukommen. Mir will scheinen, daß die§§ 1715 und 1300 des Bürgerlichen Gesetzbuchs darüber Aufschluß geben. Nach§ 1715 ist der Mann verpflichtet, der unehelichen Mutter die Kosten der Entbindung sowie die Kosten des Unterhaltes für die ersten sechs Wochen nach der Entbindung zu ersehen, ebenso auch die weiteren Aufwendungen, die infolge der Schwangerschaft oder Entbindung notwendig werden. Der Anspruch steht der Mutter auch zu, wenn das Kind tot geboren ist.§ 1300 lautet:" Hat eine unbescholtene Verlobte ihrem Verlobten die Beiwohnung ge stattet, so kann sie, wenn die Voraussetzungen des§ 1298 oder des § 1299 vorliegen, auch wegen des Schadens, der nicht Vermögens schaden ist, eine billige Entschädigung in Geld verlangen."

Es scheint aber unzweifelhaft aus dem Gesetz hervorzugehen, daß der Mann die 1000 Mt. und noch mehr hätte zahlen müssen. Weder dem Mädchen noch mir war etwas von diesen Paragraphen bekannt. Ich mußte erst im Gesetzbuch nachlesen, um mich über den Rechtsanspruch der Patientin zu vergewissern. Da ich fürchte, daß noch mehr Menschen unsere Unkenntnis teilen und fein Ge­setzbuch zur Hand haben, habe ich diese kleine alltägliche Geschichte geschrieben, um zu mahnen, daß sich junge Mädchen oder ihre Ver wandten in ähnlichen Fällen ja an einen Rechtsanwalt, ein Ar beitersekretariat oder eine Rechtsschutzstelle wenden möchten. Es kann dann wenigstens ein Teil der materiellen Schädigung wieder gutgemacht werden, der der Verlassenen zugefügt worden ist.

Dr. med. Marie Kaufmann.

Berantwortlich für die Redaktion: Frau Klara Bettin( Bundel), Wilhelmshöhe, Poft Degerloch bet Stuttgart .

Druck und Verlag von J. H. W. Diez Nachf. G.m.b.g. in Stuttgart .