Nr. 8
22. Jahrgang
Die Gleichheit
Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen
Mit den Beilagen: Für unsere Mütter und Hausfrauen und Für unsere Kinder
Die Gleichbett erscheint alle vierzehn Tage einmal. Prets der Nummer 10 Pfennig, durch die Post vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pfennig; unter Kreuzband 85 Pfennig. Jabres- Abonnement 2,60 Mart.
Inhaltsverzeichnis.
-
Jm Asyl. Von R. Luxemburg. Zwei Welten. Vor der Ent scheidung. Von Luise Ziez. Für unser Bürgerrecht. Zur Lage der Heimarbeiterinnen in der Hutfabrikation. I. Von Johannes Heiden. Mutter und Kinder in der Armenpflege. Von Edmund Fischer .
-
-
Aus der Bewegung: Von der Agitation. Von den Drganisationen. - Tätigkeitsbericht der Leipziger Kinderschutzkommission. Wir können euch doch schlagen! Von Emma Dölz. Politische RundEin Tänzeschau. Von H. B.- Gewerkschaftliche Rundschau. rinnenstreif. Genossenschaftliche Rundschau. Von H. F. Notizenteil: Dienstbotenfrage. Fürsorge für Mutter und Kind.- Soziale Gesetzgebung. Sozialistische Frauenbewegung im Ausland. Frauenstimmrecht. Frauenbewegung.
-
Im Asyl.
Unsere Reichshauptstadt ist in ihrer Feiertagsstimmung grausam gestört worden. Gerade hatten fromme Gemüter das schöne alte Lied angestimmt: O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit! als sich die Nachricht verbreitete, daß im städtischen Asyl für Obdachlose eine Massenvergiftung vorgekommen war. Alte und Junge fielen ihr zum Opfer: Handlungsgehilfe Joseph Geihe, 21 Jahre alt, Arbeiter Karl Melchior, 47 Jahre alt, Lucian Szczyptierowski, 65 Jahre alt jeden Tag kamen neue Listen der vergifteten Obdachlosen. Der Tod fand sie überall: im Asyl, im Gefängnis, in der Wärmehalle oder einfach auf der Straße, in einer Scheune verkrochen. Bevor das neue Jahr mit Glockengeläute eingezogen war, wanden sich anderthalbhundert Obdachlose in Todesschmerzen, hatten siebzig das Beitliche gesegnet.
-
Mehrere Tage lang stand das schlichte Gebäude in der Fröbelstraße, das sonst jeder gerne meidet, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Woher kamen die Massenerkranfungen? War es eine Epidemie, war es eine Vergiftung durch den Genuß fauler Speise? Die Polizeibehörden beeilten sich, die gute Bürgerschaft zu beruhigen: es war feine ansteckende Krankheit, das heißt: es lag feine Gefahr vor für die anständige Einwohnerschaft, für die besseren Leute in der Stadt. Der Massentod blieb nur auf die„ Asylistenkreise" beschränkt, auf die Leute, die sich den Genuß sehr billiger", stinkender Bücklinge oder giftigen Fusels zu Weihnachten geleistet hatten. Woher hatten die Leute aber jene stinkenden Bücklinge genommen? Hatten sie sie von einem ,, fliegenden Fischhändler" gekauft oder aus dem Kehricht in der Markthalle aufgelesen? Lettere Mutmaßung wurde abgelehnt aus einem gewichtigen Grunde: der Abfall in den städtischen Markthallen ist nicht, wie sich oberflächliche und nationalökonomisch ungebildete Leute vorstellen, herrenloses Gut, das sich der erste beste Obdachlose aneignen dürfte. Dieser Abfall wird gesammelt und an große Schweinemästereien verkauft, wo er, erst sorgfältig desinfiziert und vermahlen, als Futter für die Schweine dient. Wachsame Organe der Markthallenpolizei sorgen dafür, daß menschliches Gesindel
Zuschriften an die Redaktion der Gleichbeit find zu richten an Frau Klara Zetkin ( 3undel), Wilhelmshöhe, Poft Degerloch bei Stuttgart . Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furtbach- Straße 12.
hier nicht den Schweinen ihr Futter unbefugterweise wegschnappt, um es undesinfiziert und unvermahlen zu verschlingen. Die Obdachlosen konnten also unmöglich, wie sich mancher das so leicht denkt, ihren Weihnachtsschmaus aus dem Kehricht der Markthalle aufgelesen haben. Die Polizei fahndet demnach nach dem„ fliegenden Fischhändler" oder dem Budiker, der den Obdachlosen den Giftfusel verkauft hat.
-
Ihr ganzes Leben lang hatten Joseph Geihe, Karl Melchior, Lucian Szczyptierowski nicht so viel Aufmerksamkeit mit ihrem bescheidenen Dasein erregt. Jetzt- welche Ehre! Wirkliche Geheime Medizinalräte wühlen eigenhändig in ihren Gedärmen. Der Inhalt ihres Magens, der der Welt so durchaus gleichgültig gewesen war, wird jezt peinlich geprüft und in der ganzen Presse besprochen. Zehn Herren- hieß es in den Zeitungen sind mit der Züchtung von Reinkulturen des Bazillus beschäftigt, an dem die Asylisten gestorben sind. Die Welt will auch genau wissen, wo jeder Obdachlose erfrankte: ob in der Scheune, wo er tot von der Polizei aufgefunden wurde, oder schon im Asyl, wo er vorher übernachtet hatte. Lucian Szczyptierowski ist plötzlich zu einer gewichtigen Persönlichkeit geworden, und er würde sich sicher bor Eitelkeit blähen, läge er nicht als übelriechende Leiche auf dem Seziertisch.
Ja, selbst der Kaiser - der gottlob durch die jüngste Teuerungszulage von drei Millionen Mark zu seiner Zivilliste als preußischer König wenigstens vor dem ärgsten bewahrt isterkundigte sich angelegentlich nach dem Befinden der Vergifteten im städtischen Obdach. Und seine hohe Gattin ließ in echter Weiblichkeit durch den Kammerherrn v. Winterfeldt dem Oberbürgermeister Kirschner ihr Beileid ausdrücken. Der Oberbürgermeister Kirschner hat zwar von dem faulen Bückling trotz dessen Billigkeit nichts genossen und befindet sich nebst Familie in ausgezeichneter Gesundheit. Auch ist er unseres Wissens mit Joseph Geihe und Lucian Szczyptierowski weder verwandt noch verschwägert. Aber schließlich wem sollte der Kammerherr v. Winterfeldt das Beileid der Kaiserin ausdrücken? Vor den Zeichenteilen auf dem Seziertisch konnte er nicht gut die Grüße der Majestät ausrichten. Und die trauernden Hinterbliebenen"? Wer kennt sie, wer findet sie in den Spelunken, Findelhäusern, den Prostituiertenvierteln oder auch in den Fabriken und Gruben heraus? So nahm der Oberbürgermeister Kirschner in ihrem Namen das Beileid der Kaiserin entgegen, und es gab ihm Kraft, den Schmerz der Szczyptierowskis mit Fassung zu ertragen. Auch im Rathaus bewies man bei der Ratastrophe im Asyl mannhafte Roltblütigkeit. Man refognoizierte, fontrollierte, protokollierte, beschrieb lange Bogen Papier , behielt aber bei alledem den Kopf oben und blieb bei den Todeswindungen andere so mutig und standhaft wie antife Helden im Angesicht des eigenen Todes.
Und doch hat der ganze Vorfall einen schrillen Migton in das öffentliche Leben hineingebracht. Für gewöhnlich sieht unsere Gesellschaft im ganzen ziemlich wohlanständig aus; sie hält auf Ehrbarkeit, auf Ordnung und gute Sitten. Frei