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Die Gleichheit

lich gibt es Mängel und Unvollkommenheiten im Bau und Leben des Staates. Aber hat denn die Sonne nicht auch ihre Flecken? Und gibt es denn überhaupt etwas Vollkom­menes hienieden? Die Arbeiter selbst, namentlich die beffer gestellten, die organisierten, glauben gern, daß alles in allem Dasein und Kampf des Proletariats in den Grenzen der Ehrbarkeit und Wohlanständigkeit abläuft. Ist denn die ,, Verelendung" nicht als graue Theorie längst widerlegt? Jedermann weiß, daß es Asyle, daß es Bettler, Prostituierte, Geheimpolizisten, Verbrecher und lichtscheue Elemente" gibt. Aber das alles wird gewöhnlich als etwas Fernes und Frem­des empfunden, als etwas, das irgendwo außerhalb der eigentlichen Gesellschaft liegt. Zwischen der rechtschaffenen Arbeiterschaft und jenen Ausgestoßenen steht eine Mauer, und man denkt selten an den Jammer, der jenseits der Mauer im Rot friecht. Plötzlich passiert etwas, das so wirkt, wie wenn inmitten eines Kreises wohlerzogener, feiner und freundlicher Menschen jemand zufällig unter kostbaren Möbeln Spuren scheußlicher Verbrechen, schamloser Aus­schweifungen aufdecken würde. Plötzlich wird unserer Ge­sellschaft durch ein grauenhaftes Gespenst des Elends die Maske der Wohlanständigkeit abgerissen, ihre Ehrbarkeit als die Schminke einer Dirne erwiesen. Plötzlich zeigt sich, daß unter dem äußeren Rausch und Tand der Zivilisation ein Abgrund der Barbarei, der Vertierung gähnt; Bilder der Hölle steigen auf, wo menschliche Geschöpfe im Nehricht nach Abfällen wühlen, in Todeszuckungen sich winden und verreckend ihren Besthauch nach oben senden.

Und die Mauer, die uns von diesem düsteren Reich der Schatten trennt, erweist sich plöglich als eine bloße bemalte papierene Kulisse.

Wer sind die Bewohner des Asyls, die dem faulen Bück­ling oder dem giftigen Fusel zum Opfer fielen? Ein Hand­lungsgehilfe, ein Bautechniker, ein Dreher, ein Schlosser Arbeiter, Arbeiter lauter Arbeiter. Und wer sind die Namenlosen, die von der Polizei nicht refognosziert werden fonnten? Arbeiter, lauter Arbeiter oder solche, die es noch gestern waren.

Und kein Arbeiter ist vor dem Asyl, vor dem vergifteten Bückling und Fusel gesichert. Heute noch rüstig, ehrbar, fleißig- - was wird aus ihm, wenn er morgen entlassen ist, weil er die fatale Grenze der vierzig Jahre erreicht hat, bei der ihn der Unternehmer für unbrauchbar" erklärt? Was, Denn er morgen einen Unfall erleidet, der ihn zum Krüppel, zum Rentenbettler macht?

Man sagt: zum großen Teil verfallen dem Armenhaus und dem Gefängnis nur schwache und schlechte Elemente: schwachsinnige Greise, jugendliche Verbrecher, abnorm ver­anlagte Menschen mit verminderter Zurechnungsfähigkeit. Mag stimmen. Aber schwache und schlechte Naturen aus höheren Klassen kommen nicht ins Asyl, sondern in Sana­torien oder in den Kolonialdienst, wo sie an den Negern und Negerweibern ihre Instinkte ausleben können. Idiotisch ge­wordene ehemalige Königinnen und Herzoginnen verleben den Rest. ihrer Tage in abgeschlossenen Palästen, umgeben von Luxus und ehrerbietiger Dienerschaft. Für das alte irr­sinnige Scheusal, das Tausende von Menschenleben auf dem Gewissen hat, und dessen Sinne durch Mord und geschlecht­liche Ausschweifung stumpf geworden sind, für den Sultan Abdul Hamid hat die Gesellschaft als legten Ruhewinkel eine prunkvolle Villa mit Luftgärten, perfekten Köchen und einen Harem aus blühenden Mädchen vom zwölften Jahre aufwärts. Für den jugendlichen Verbrecher Prosper Aren­berg ein Buchthaus mit Champagner, Austern und lustiger Herrengesellschaft. Für abnorm veranlagte Fürsten   die Schonung der Gerichte, die Pflege heroischer Gattinnen und der stille Trost eines guten alten Weinkellers. Für die sinnesfranke unzurechnungsfähige Offiziersfrau aus Allen­ stein  , die einen Mord und einen Sebstmord verschuldet hat­ein behagliches bürgerliches Dasein, Seidentoiletten und dis­frete Sympathie der Gesellschaft.

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Aber die alten, schwachen, unzurechnungsfähigen Prole­tarier verreden wie die Hunde in Konstantinopel   auf den Straßen, an Zäunen, in Asylen, in Gossen, und neben ihnen den Schwanz findet man als einzige Hinterlassenschaft eines fauligen Bücklings. Die Klassenspaltung zieht sich schroff und grausam bis in den Irrsinn, bis ins Verbrechen, bis in den Tod hinein. Für das besigende Gefindet- Scho­nung und Lebensgenuß bis zum letzten Atemzug, für den proletarischen Lazarus proletarischen Lazarus   Skorpione des Hungers und der

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Giftbazillus des Todes auf dem Kehrichthaufen.

Hier schließt sich der Ring des proletarischen Daseins in der kapitalistischen   Gesellschaft. Der Proletarier beginnt als tüchtiger und ehrbarer Arbeiter, von Kindesbeinen auf in der Tretmühle der geduldigen täglichen Fron für das Kapital. Zu Millionen und aber Millionen sammelt sich die goldene Ernte in den Scheunen der Kapitalisten, ein immer mäch­tigerer Strom der Reichtümer wälzt sich durch die Banken, durch die Börsen, indes die Arbeiter in grauer unscheinbarer schweigender Masse tagtäglich die Tore der Fabriken und Werke verlassen, wie sie sie am Morgen betreten- als Habe­nichtse, als ewige Händler, die das Einzige zu Markte tragen, was sie besitzen die eigene Haut.

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Von Zeit zu Zeit fegt sie ein Unfall, ein schlagendes Wetter zu Dußenden und Hunderten unter die Erde ein kurzer Zeitungsbericht, eine runde Zahl meldet das Unglüd, nach einigen Tagen sind sie vergessen, ihr letzter Seufzer wird von dem Keuchen und Stampfen der geschäftigen Profitmacherei erstickt. Nach einigen Tagen stehen neue Duzende und Hunderte an ihrer Stelle im Joche des Kapitals.

Von Zeit zu Zeit kommt eine Arise, fommen Wochen und Monate der Arbeitslosigkeit, des verzweifelten Ringens mit dem Hunger. Immer wieder gelingt es dem Arbeiter, fich auf eine Stufe der Tretmühle zu schwingen, glücklich, daß er wieder für das Kapital Muskeln und Nerven an­spannen darf.

Doch die Kraft versagt allmählich. Eine längere Arbeits­losigkeit, ein Unfall, das nahende Alter und dieser und jener muß zur ersten besten Beschäftigung greifen, gleitet aus dem Beruf und sinkt unaufhaltsam hinab. Die Arbeits­losigkeit wird immer länger, die Beschäftigung immer un­regelmäßiger. Der Zufall beherrscht bald das Dasein des Proletariers, das Unglück verfolgt ihn, die Teuerung trifft ihn am härtesten. Die ewig gestraffte Energie im Ringen um das Stück Brot lockert sich endlich, die Selbstachtung läßt nach er steht vor den Toren des Asyls für Obdachlose oder, je nachdem, vor den Toren des Gefängnisses.

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Jedes Jahr sinken so Tausende von proletarischen Exi­stenzen aus den normalen Klassenbedingungen der Arbeiter­schaft in das Dunkel der Verelendung. Sie sinken unhör­bar, wie der Bodensat, auf den Grund der Gesellschaft als verbrauchte nutzlose Elemente, aus denen das Kapital feine Säfte mehr auspressen kann, als menschlicher Kehricht, der mit eisernem Besen weggefegt wird: der Arm des Gesetzes, Hunger und Kälte wirken hier um die Wette. Und zunt Schluß reicht die bürgerliche Gesellschaft ihren Ausgestoßenen den Giftbecher.

Das öffentliche Armenwesen sagt Karl Mary im ,, Ra­pital" bildet das Invalidenhaus der beschäftigten Ar­beiter und das tote Gewicht der Arbeitslosen. Die Ent­stehung der öffentlichen Armut ist unzertrennlich verbunden mit der Entstehung der vorrätigen unbeschäftigten Arbeiter­schicht, beide sind gleich notwendig, beide sind Lebensbedin­gung der kapitalistischen   Produktion und Entwicklung des Reichtums. Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das aus­beutende Kapital, der Umfang und die Energie seines Wachs­tums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Ergiebigkeit seiner Arbeit, desto größer die Schicht der Ar­beitslosen. Je größer aber diese Schicht im Verhältnis zur beschäftigten Arbeitermasse, desto massenhafter die überzähli gen Berarmten. Dies ist das absolute allgemeine Gesetz der kapitalistischen   Produktion.