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Die Gleichheit

in die Nacht für ein Geschäft in Dresden   die Kinder auch auf das beste erzogen sind, erhält sie doch im ganzen Dorfe feine Wohnung, denn alle Hausbesizer sind von ihrer Lage unterrichtet. Die wenigen, die vielleicht selbst kein Interesse daran haben, daß die Familie abgeschoben wird, fürchten Un­annehmlichkeiten, wenn sie die Frau ins Haus nehmen. Man rät dieser, in einem Nachbarort eine Wohnung zu suchen, wo sie unbekannt ist. Hier kommt sie auch unter die erste Ge­die erste Ge­meinde ist die Familie los.

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Nun aber wird der Leidensweg der Frau erst recht qual voll. Die neue Gemeinde gibt ihr zunächst nur 3 Mt. Unter stüßung pro Woche, denn sie zahlt ihren Drtsarmen nicht mehr und befürchtet, daß diese mit Forderungen kommen werden, wenn sie erfahren, daß Landarme höhere Unterstützungssäge erhalten. 8 Mr. erhielt die Frau mit vieler Mühe und nach vielen Laufereien wieder auf Veranlassung der Regierungs­behörde. Aber nun wird ihr die Wohnung gekündigt! Man hat dem Hauswirt gesagt, er werde die Souterrainwohnung seines Hauses nicht mehr vermieten dürfen, wenn er Leute ins Haus aufnehme, welche die Gemeinde belasten. Tagtäglich rennt nun die Armste umher, Wohnung zu suchen, niemand nimmt sie auf, denn schon sind alle Hausbesizer von ihren Verhält niffen unterrichtet. Während der zwei Monate, welche die Frau im Orte wohnte, ist sie nicht zur Ruhe und zum Arbeiten gekommen. Mitten im Winter steht sie nun, hochschwangeren Leibes, mit ihren fünf Kindern auf der Straße. Jm Armen­haus ist nur noch die Krankenstube" frei, ein kleines Kämmer­chen; hier wird sie nun untergebracht; hier schenkt sie dem sechsten Kinde das Leben. Schließlich findet sie wieder in einer andern Nachbargemeinde eine Wohnung und auch die zweite Gemeinde ist die Familie los!

Das Abschiebungsverfahren beginnt hier nun wieder in der­selben Weise: nach dem ersten Monat wird der Frau die Woh nung gekündigt. Der Gemeindevorstand läßt den Hausbesitzer dazu einfach durch den Ortsdiener auffordern. Verzweifelt läuft das arme Weib wieder umher, um eine Wohnung zu erhalten; niemand vermietet an die Familie. Eine Zeitlang haust diese nun in einem dunklen Kellerloch, das gar nicht vermietet werden darf. Endlich findet die Frau in Dresden   eine Woh­nung. Nun hat sich auch die dritte Gemeinde diese Familie vom Halse geschafft.

In Dresden   beginnt nun wieder dasselbe Spiel: die Armen­verwaltung weigert sich, die Miete zu bezahlen- obwohl sie das Geld vom Landarmenverband zurückbekommt!- und die Frau mit ihren sechs Kindern wird auf die Straße gesetzt. Was wir erzählen, hat sich in jeder Einzelheit so zugetragen. Wie ein wildes Tier ist das betreffende arme Weib mit ihren Kindern von Ort zu Ort gehetzt worden; während eines vollen Jahres konnte die Familie keine Ruhe finden. Und das ge­kennzeichnete indirekte Abschiebungsverfahren wird ganz allge mein geübt in tausenden von Fällen.

Die landarmen Familien sind aber trotzdem in den klei­neren Orten vielfach noch wesentlich besser daran, als die anderen Drtsarmen. Denn diese erhalten in der Regel viel weniger an Unterstützung. In Vororten von Dresden  , wo großstädtische Lebensverhältnisse herrschen, erhält eine allein­stehende Frau, wenn sie arbeitsfähig ist, für sich nichts, nur für jedes Kind pro Woche eine Mark. Einer Witwe mit fünf Kindern im Alter von vier bis zwölf Jahren wurden 5 Mk. pro Woche gewährt; eine Zeitlang aber gar nur 2 Mt., dann 4 Mt., schließlich 3 Mt. Frauen mit drei Kindern erhalten höchstens 3 Mt., vielfach nur 2 Mt. pro Woche und kein Wohnungs­geld. Es dürfte allgemein bekannt sein, welche Behandlung und welche Demütigungen solche Frauen in kleineren Orten erfahren. Als Ausgestoßene, wie Verbrecher werden sie viel fach behandelt.

Mit der Einführung der Witwen- und Waisenversicherung wird an der Lage dieser Frauen nichts oder nicht viel geändert. Nur ein Teil der Witwen fällt unter die Versicherung. Die Unterstützungssäge sind so gering, daß die Armenunterstützung trotzdem noch wird einsetzen müssen. Schließlich handelt es sich

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aber auch nicht immer um Witwen und Waisen, sondern oft­mals um eheverlassene Frauen, deren Ehemänner zum Unter­halt der Familie aus irgend einem Grunde nichts beitragen oder beitragen können: um Familien von Trinfern, geistig Minderwertigen, zwangsweise Untergebrachten usw.

Eine beffere Unterstützung und Versorgung dieser Armen zu erreichen, hält in den meisten Orten sehr schwer. Für nichts sind die bürgerlichen Mehrheiten in den Gemeindeparlamenten schwerer zu haben, als für Armenausgaben. Sehr nüßlich könnte es sein, wenn sich dieser Frauen und Kinder die Kinder­schußkommissionen annehmen würden, vor allem in den kleineren und mittleren Städten und in den Dörfern. Sie könnten ein großes und wertvolles Material zur Beleuchtung der vorliegenden tieftraurigen Zustände sammeln. Durch Be­sprechen der einzelnen Fälle in Versammlungen und in der Presse vermöchten sie außerdem hier und da einen wirksameren Druck auf die Gemeindeverwaltungen ausüben, als die kleine sozialdemokratische Minderheit im Gemeindeparlament. Edmund Fischer  .

Aus der Bewegung.

Von der Agitation. Die Frauen und die Reichstagswahlen", so lautete das Thema, das Genossin Zieh in Leipzig  , Markran­ städt   und Gommern   in stark besuchten Versammlungen behandelte. über" Teuerung, Kriegsgefahr und Reichstagswahl" sprach die­selbe Genoffin in überfüllten Versammlungen in Vegesac und Hemelingen  . Im letteren Ort verbot der Landrat die Versamm­lung, weil sie am Bußtag stattfand. Der Vorsitzende Genosse Frasunkewitz machte daraufhin den Vorschlag, die öffentliche Bersammlung zu einer Mitgliederversammlung umzuwandeln, und forderte zu dem Zwecke die Nichtmitglieder auf, den Saal zu verlassen. Das geschah. Im Vorraum traten zirka hundert Per­sonen dem sozialdemokratischen Verein bei und erwirkten sich damit das Recht der Beteiligung an der Versammlung, die nun ungehindert tagen fonnte und mit großem Interesse und lebhafter Begeisterung das Referat entgegennahm. Daß hundert bisher Nichtorganisierter Buße tun und ihrer Parteiorganisation bei­treten würden, diesen Erfolg" seines Verbots hatte der Herr Landrat jedenfalls nicht vorausgesehen. Der unfreiwilligen Unter­stützung des Herrn unseren Dank. 30 bis 50 Neuaufnahmen von Mitgliedern brachten übrigens auch die anderen Versammlungen. Wenn unsere Genossinnen überall gut die Agitationsversamm­lungen während der Wahlzeit benußen, werden wir im Wahljahr auch mit unserer Organisation, günstige Fortschritte machen. L. Z.

Im Auftrag des Parteisekretariats des Wahlkreises Quedlin burg- Aschersleben sprach die Unterzeichnete in der Zeit vom 28. No­vember bis 3. Dezember in Versammlungen zu Aschersleben  , Staßfurt  , Quedlinburg  , Aten, Calbe   und Schöne­bed über das Thema:" Die Vergeltung naht!" Der Versamm lungsbesuch war in allen Orten sehr gut. Nur Staßfurt   machte hiervon eine Ausnahme. Das ist um so bedauerlicher, als gerade dort die Arbeiter in der Kaliindustrie sehr ausgebeutet werden. In den zahlreichen chemischen Fabriken und in den ausgedehnten Salzbergwerken müssen die Arbeiter für fargen Lohn fronden. Zum großen Teil gehören die Bergwerke dem Staate, und daraus erklärt sich wohl auch die Scheu der Arbeiter, unsere Versamm­lungen zu besuchen. Hoffentlich haben sie am Tage der Wahl etwas mehr Mut, als nur die Faust in der Tasche zu ballen. Be­sonders hervorzuheben ist die Versammlung in Quedlinburg  . Der große Saal war überfüllt, so daß Hunderte der Zuhörer stehen mußten. Hier hatte nicht allein das Interesse für die Reichs­tagswahlen, nicht nur der Zorn über die Wucherpolitik der herr­schenden Parteien die große Zahl der arbeitenden Männer und Frauen in die Versammlung getrieben, noch ein besonderer Um­stand ließ die Wellen der Empörung unter der Arbeiterschaft sehr hoch gehen. Kurz vorher hatten in Quedlinburg   die Stadtverord netenwahlen stattgefunden, und bei dieser hatten sechs Arbeiter der Firma Gebrüder Dippe  , Gärtnerei und Samenzüchterci, es gewagt, öffentlich für den Kandidaten der Sozialdemokratie zu stimmen. Auf Grund einer Denunziation des nationalen Ar­beitersekretärs" Krause wurden darauf die sechs Arbeiter sämt lich Familienväter entlassen. Unter ihnen befand sich auch ein 58jähriger Mann, der 16 Jahre bei der Firma gearbeitet hatte. Dieser rohe Gewaltstreich des Unternehmers, der da glaubt, seine Lohnfflaven hätten ihm nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch ihre Gesinnung verkauft, entfesselte in der Arbeiterschaft einen

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