Nr. 8

Die Gleichheit

Sturm der Entrüftung. In der Versammlung wollten nun die Arbeiter Abrechnung mit dem nationalen Arbeitersekretär" halten. Dieser hatte es aber trotz schriftlicher Aufforderung vor­gezogen, nicht zu erscheinen. Die Versammelten waren sich alle einig darüber, daß sie am besten Vergeltung für die Unternehmer­willkür üben durch Abgabe eines sozialdemokratischen Stimm­zettels am 12. Januar. Eine größere Anzahl Parteimitglieder und auch Abonnenten für die Parteipresse wurden auf der Tour gewonnen. Margarete Raschewski.

Eine Agitationstour durch den braunschweigischen Harzkreis führte die Unterzeichnete in die Orte Cattenstedt  , Timm- rode, gorge, Hohegeis, Braunlage  , Rübeland­Neuwert und Hasselfelde  . Die Tagesordnung lautete: " Die Frauen und die bevorstehenden Reichstagswahlen". Der Harzkreis ist ein abseits liegendes Stück des ersten braun­schweigischen Wahlkreises. Durch seine Bevölkerung geht seit langem der Geist des Sozialismus. Man kann wohl sagen, daß die Hälfte Sozialdemokraten find- wenn zum Teil auch nur aus dem Gefühl heraus. Wenigstens ist in dem Kreise stets eine an­sehnliche Stimmenzahl für den sozialdemokratischen Kandidaten aufgebracht worden. Die Versammlungen waren denn auch - ausgenommen die in 8orge gut, ja außerordentlich gut besucht. Trotzdem in Braunschweig  , bis das neue Vereinsgeset in Kraft trat, an den politischen Versammlungen die Frauen nicht teilnehmen durften, haben sich diese nun schon an den Besuch poli­tischer Veranstaltungen gewöhnt. Nur in Hohegeis war keine Frau in der Versammlung anwesend, sonst waren sie überall zahlreich vertreten. Und die Frauen haben nicht nur den Vortrag mit sichtlichem Interesse verfolgt, sondern es traten auch eine An­zahl von ihnen den sozialdemokratischen Ortsvereinen als Mit­glieder bei. In den meist kleinen Orten ist wohl eine entwickelte Industrie vorhanden, doch spielt für sie die Frauenarbeit fast feine Rolle. Nichtsdestoweniger sind die Frauen mit Mühen und Plagen überlastet. Bei dem niedrigen Verdienst der Männer ist beinahe jede Familie darauf angewiesen, ein Stückchen Acker zu bebauen und etwas Vieh zu halten. Die Hauptlast der Wirtschaft fällt den Frauen zu. Sie müssen dem harten Boden die Früchte förmlich abringen, und in dem aufgezogenen Schwein steckt vor allem ihre Blackerei. Die gesamte Arbeiterbevölkerung dieses herr­lichen Gebirgslandes kommt nur selten zum Genuß all der Schön­heiten, die Tausende von Fremden alljährlich dorthin führt. Nach getaner Arbeit haben die Männer nicht selten lange Nachhause­wege. Die Sonntage dürfen auch durchaus nicht immer der Er­holung dienen. In der Wirtschaft der Familie gibt es immer auch für den Mann zu tun. So befonders im Sommer. Ist das Gras zu mähen, so zieht man wohl Sonnabend abend auf die fern­liegende Wiese und übernachtet dort, um am frühen Morgen gleich mit der Arbeit beginnen zu können, die erst spät abends abge= brochen wird. So ist das Leben dieser Gebirgsbewohner ein stetes Ringen um die Existenz. So haben es denn auch viele von ihnen begriffen, daß die sozialen Verhältnisse unbedingt geändert werden müssen. Diese Überzeugung hat die Politik unserer Gegner in den letzten Jahren besonders gestärkt. Bei den Wahlen wird das sicher­lich zum Ausdruck kommen. Frida Wulff.

Von den Organisationen. In zwei gut besuchten Versamm­lungen für die weiblichen Mitglieder der sozialdemokratischen Parteiorganisation von Altona   und Wilhelmsburg   sprach Genoffin Brandenburg im Dezember letzten Jahres über Sittlich keit und sexuelle Erziehung" und" Seguelle Aufklärung in der Familie". Die besonders in Wilhelmsburg   sehr zahlreich erschienenen Genossinnen folgten mit großem Interesse dem Vor­trag, der die Forderungen der modernen Pädagogik berücksichtigte und unter anderem ein planmäßiges Zusammenwirken von Schule und Haus befürwortete. Anschließende Vorlesungen aus dem vom Dürerbund herausgegebenen Buch: Am Lebensquell" beleuchteten trefflich das Neuland der seruellen Erziehung. So wurde in dieser wichtigen Frage ein Stück Aufklärungsarbeit geleistet. Erwähnt sei, daß die meisten Genossinnen sich noch nicht mit der Frage beschäftigt hatten. Lebhaft wurden Wiederholungen ähnlicher Vor­träge gewünscht.

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Die Hamburger Genossinnen haben sich rüstig für den poli tischen Kampf vorbereitet. Seit Oktober sind acht Versammlungen abgehalten worden. über Die Frau und die sozialistische Presse" referierte Redakteur Genosse Köpke. Er betonte die Notwendig­feit von regelmäßig erscheinenden Artikeln, die die Frau als Haus­frau, Mutter, Erwerbstätige und Staatsbürgerin interessieren. Die Genoffinnen und Leserinnen der sozialdemokratischen Tages. blätter dürften nicht aufhören, ihren Anspruch auf die Berück­fichtigung ihrer besonderen Bedürfnisse geltend zu machen. Die

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Frau als Trägerin des Genossenschaftswesens", so lautete das Thema, das Genosse Huffmeier behandelte. Der Referent würdigte die Mitgliedschaft der Frau in einem Arbeiterkonsum­verein als eine Vorschule der Frau für ihre spätere gewerkschaft­liche und politische Betätigung. Die Genossenschaft biete den besten Anschauungsunterricht, den Vorteil des einzelnen durch den Zu­sammenschluß vieler kennen und hierdurch die Macht großer Ar beiterorganisationen schäßen zu lernen. Sehr interessant war das Referat des Genossen Kleemann: Die Reform der Fürsorge­erziehung". Die Diskussion nahm auf die unmenschlichen Zustände in der Blohmschen Wildnis" und in Mieltschin Bezug, sie be­leuchtete noch andere charakteristische Greuel der sogenannten staatlichen Fürsorge unter der Herrschaft des Kapitalismus  . Als Gegenstück wurden die Verhältniffe in der Fürsorge- und Er­ziehungsanstalt Behlendorf   bei Berlin   geschildert, die nach den Grundsätzen der modernen Pädagogik geleitet wird und daher auch die Eigenart der einzelnen Zöglinge berücksichtigt. Ein weiterer Vortrag behandelte gründlich unfer Koalitionsrecht", das zwar gefehlich gewährleistet ist, doch vom Unternehmertum oft mit den schäbigsten Mitteln bekämpft wird und in Zukunft durch die in Aussicht stehende Reform des Strafgesetzbuchs noch mehr gefährdet ist. In vier Bersammlungen wurde eingehend über:" Die Frau und die Reichstagswahlen" gesprochen. Die Aufmerksamkeit der weiblichen Organisierten für alle politischen Vorgänge ist erfreu­licherweise immer reger geworden. Ihr Verlangen nach praktischer Mithilfe im Wahlkampf ist gewachsen. Die regelmäßigen monat lichen Zusammenkünfte der tätigen Genoffinnen zweds Vor­bereitung auf alle praktischen Parteiarbeiten bilden einen festen, willigen und arbeitsfreudigen Stamm von Kämpferinnen heraus, die gewillt und fähig sind, sich ihr Recht im öffentlichen Leben zu verschaffen. Die Reichstagswahlen bieten ihnen reichlich Gelegen­heit zu eifriger Mitarbeit.

eg.

Tätigkeitsbericht der Leipziger   Kinderschuhkommiffion. Seit der Neuorganisation der Leipziger   Kinderschutzkommission ift mehr als ein Jahr verflossen. Dieser Zeitraum hat ausgereicht, um zu zeigen, welch umfangreiche und außerordentlich nützliche Arbeit von der Kinderschuhkommission bei systematischem Auf- und Ausbau ihrer Organisation geleistet werden kann. Die neugebildete Kommission seht sich zusammen aus der fünfgliedrigen Zentral­tommission, sechs Bezirksvertrauenspersonen und mehr als sechzig Vertrauenspersonen. Im April 1910 nahm fie ihre Tätigkeit auf, und bis Ende Juni 1911 hat sie 149 Fälle erledigt, die 292 Kinder berührten. Will man die Tätigkeit einigermaßen richtig würdigen, so muß man bedenken, welche umfangreiche Arbeit zu ihrer Erlebi gung notwendig war, mit welchen Schwierigkeiten insbesondere die Vertrauenspersonen in verschiedenen Fällen zu kämpfen hatten. Erfordert diese Arbeit doch nicht allein opferfreudigen Eifer, son­dern vor allem auch ein Herz für die Kinder, Verständnis für die Ursachen ihrer Leiden und ein jederzeit taktvolles Auftreten.

In den 149 Fällen haben sich die Vertrauenspersonen nach Kräften bemüht, ihrer schwierigen Aufgabe gerecht zu werden, und in den weitaus meisten ist ihnen das durch Fürsprache bei den Eltern und Pflegeeltern, durch Belehrung und fortgesetzte Beobach­tung auch gelungen. Immerhin mußten 34 Fälle an die Zentral­fommiffion zur Weiterverfolgung abgegeben werden, weil jede Einwirkung der Vertrauenspersonen auf die betreffenden Eltern erfolglos blieb. Die Zentralfommission hat das ihr übergebene Material den zuständigen Behörden zugestellt, die mit Ausnahme einiger Gemeindevorstände der Kinderschutzkommiffion das größte Entgegenkommen zeigten. Die unterbreiteten Fälle wurden schnell und eingehend untersucht, wo es möglich war, ward Abhilfe ge­schaffen, und von dem Ausgang der Sache wurde in der Regel die Zentralfommiffion in Kenntnis gesetzt.

Von den erledigten Fällen betrafen 93 eheliche oder Stief­finder, 17 betrafen Zieh kinder und 3 Waifentinder, außerdem mußte die Kinderschußkommission in 36 Fällen gegen gewerbliche Ausnutzung der Kinder vorgehen. Die bei ihr eingereichten Beschwerden richteten sich in 26 Fällen gegen beide Eltern, in 31 gegen die Mutter, in 20 gegen den Vater, in 16 gegen die Stiefmutter, in 7 gegen den Stiefvater, in 14 gegen die Pflege­mutter, in 19 gegen den Arbeitgeber, in 9 gegen andere Personen, und in 7 waren befonders mißliche Familienverhältnisse die Ur­sache des Kinderelends. Am häufigsten machte sich ein Einschreiten gegen Mihhandlung von Kindern notwendig, nämlich 45mal; in 38 Fällen war mangelhafte Pflege und Erziehung die Ursache; in weiteren 26 Fällen lag schlechte Behand I ung der Kinder und in 13 drohende Berwahrlofung und fittliche Gefährdung bor  ; 27mal handelte es sich um übertretung des Kinderschuhgefehes.