Nr. 12

22. Jahrgang

Die Gleichheit

Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen

Mit den Beilagen: Für unsere Mütter und Hausfrauen und Für unsere Kinder

Die Gleichbett erscheint alle vierzehn Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Poſt vierteljäbritch ohne Bestellgeld 55 Pfennig; unter Kreuzband 85 Pfennig. Jabres- Abonnement 2,60 Mart.

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Inhaltsverzeichnis.

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Stuttgart 4. März 1912

Mädchenhandel. Spezialisierte Agitation unter den Frauen. Von Luise Zietz . Die Teuerung.( Für die Lese- und Diskussions­abende.) Von Käte Duncker . Den Müttern der darbenden Jugend. Von B. Selinger. Ein Pionier. Von Meta L. Stern. Die Tariferneuerung in der Holzindustrie. Von fk. Aus der Bewegung: Von der Agitation.- Bericht über die Tätig feit der Genossinnen des fünften sächsischen Wahlkreises im Vereins­jahr 1910/11. Agitationsliteratur. Pauline Hennig Politische Rundschau. Von H. B. Gewerkschaftliche Rundschau.

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Kinderarbeit.

Die Arbeitslosenzählung im Deutschen Textilarbeiterverband. Genossenschaftliche Rundschau. Von H. F. Notizenteil: Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen. -Soziale Gesetzgebung. Landarbeiterfrage. Frauenstimm­recht. Die Frau in öffentlichen Amtern. Frauenbewegung.

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Mädchenhandel.

Die Verhandlungen des Reichstags haben vor kurzem eine der scheußlichsten sozialen Erscheinungen unserer Zeit gestreift: den Mädchenhandel, der zu der Ehrbarkeit" der bürgerlichen Che und des bürgerlichen Geschäfts gehört, wie die Ausbeutung des Menschen zur Herrschaft des Besizes, wie der Diebstahl zum Eigentum. Die Regierung hatte den Entwurf eines Aus­führungsgesetzes zu dem internationalen Übereinkommen vom 4. Mai 1910 vorgelegt, das sich gegen den Mädchenhandel wendet. Danach sollen auch im Deutschen Reiche die von dieser Konven­tion erfaßten Praktiken des Mädchenhandels ohne weiteres unter die strafbaren Handlungen fallen, wegen deren eine Ausliefe­rung auf Grund der Verträge mit den Staaten erfolgt, für welche das Abkommen gilt. Es erstreckt sich auf folgende drei zehn Länder: Deutschland , Österreich- Ungarn , die Niederlande , Dänemart, Schweden , Rußland , Großbritannien , Frankreich , Belgien , Italien , Spanien , Portugal und Brasilien . Die Redner aller Parteien vom Konservativen bis zu dem Sozialdemo­fraten stimmten in dem Ausdruck ihrer Befriedigung über die gesetzlichen Maßnahmen zur Bekämpfung des schändlichen Handels mit Luftsflavinnen überein. Naive Gemüter konnten wähnen, daß die einander sonst heftig befehdenden Vertreter gegensäglichster sozialer Interessen sich über Nacht zu einem großen Zugendbund zusammengefunden hätten. Welch ein Erfolg positiver Arbeit!"

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Wer wäre dogmenfanatisch" genug, angesichts des schönen Eifers der bürgerlichen Parteien, der Moral zu ihrem Rechte zu verhelfen, sich an verschiedene Kleinigkeiten" zu erinnern. So an die innere Wesensverwandtschaft der Konservativen mit den Landwirtschaftsbündlern, deren große Tagungen in Berlin von Dirnen und Zuhältern sehnsüchtig als die ertragreichen Jahresmessen ihres Gewerbes erwartet werden. Oder viel­leicht an die Zähigkeit, mit der liberale hamburgische Sena toren die Existenz der bekannten modernen" Einrichtungen der Hansastadt verteidigen, die nicht Bordelle im polizei­technischen Sinne des Wortes sind". Schließlich gar an die antisemitische Hand, die den Mantel einsichtigen, weitherzigen Verstehens und Verzeihens über die Triole" des echten Ger­manen Schack zieht, derweilen der antisemitische Mund dazu

Buschriften an die Redaktion der Gleichbett find zu richten an Frau Klara Zetkin ( 3undel), Wilhelmshöhe, Poft Degerloch bet Stuttgart . Die Erpedition befindet sic in Stuttgart , Furtbach- Straße 12.

aufruft, jeden jüdischen Mädchenhändler an dem ersten besten Baume aufzuhängen".

Die sozialen Dinge haben ihre eigene Logit, die über den Absichten, Worten und Taten der Menschen steht. Und sie mischt dem Kampfe der bürgerlichen Gesellschaft gegen die geschlechtliche Unmoral stets eine Dosis Verlogenheit und Heuchelei bei, mögen die einzelnen Träger des Stampfes per­sönlich noch so ehrlich, noch so überzeugt sein. Die Bestrebungen zur Unterdrückung des Mädchenhandels können sich diesem Los nicht entziehen, denn das fressende übel, das sie ausrotten wollen, ist unlöslich mit dem Wesen der kapitalistischen Ord­nung selbst verwachsen. Bei der Zustimmung zu dem Gesetz­entwurf konnte sich die kompakte Mehrheit eines parlamen­tarischen Blocks von Bethmann Hollweg bis Bebel zusammen­finden. In der Würdigung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Mädchenhandel und bürgerlicher Gesellschaft dagegen stand die Sozialdemokratie in jener, glänzenden Isolierung", die ihre größte Stärke ist, weil sie die Augen der Massen außerhalb der Parlamente auf die Natur der herrschenden sozialen Ordnung zwingt und damit wachsende Heere von Stämpfern gegen eben diese Drdnung um sich schart. Wir be­dauern daher die Selbstbeschränkung, mit welcher der sozial­demokratische Redner, Genosse Göhre, darauf verzichtet hat, ein breit und wuchtig hingestrichenes Bild von den großen und dauernden Ursachen des Mädchenhandels der Genug­tuung gegenüberzustellen, mit der die bürgerlichen Politiker die endlich erreichte bescheidene gesetzgeberische Reform feierten.

Bescheiden in ihren Wirkungen zur Tilgung eines Schand­flecks der Zivilisation auch dann noch, wenn die internationale Gesetzgebung den sich lückenlos schließenden Ring" von Be­stimmungen schmiedet, den Genosse Göhre gegen die raffinierten Händler mit den Leibern und Seelen unglückseliger Frauen forderte. Denn solche Bestimmungen- mit welchem juristischen Scharfsinn sie auch formuliert sein mögen werden in der Hauptsache nur Gesellen sassen, die die Ausmuzung der Non­junktur auf dem internationalen Lastermarkt zu ihrem Gewerbe machen. Sie sind aber ohnmächtig, den Kräften zu wehren, die diesen Markt selbst schaffen, die die Nachfrage nach fäuf­lichem Geschlechtsverkehr erzeugen, wie auch das Angebot zu seiner Befriedigung.

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Auf das Walten und die Macht dieser gesellschaftlichen Sträfte Tenkt schon der Umstand die Aufmerksamkeit, daß- von Brasilien abgesehen die amerikanischen Staaten und die Kolonialländer Großbritanniens , des bibelstarken, prüden Albions !, dem inter­nationalen Abkommen zur Bekämpfung des Mädchenhandels bis jetzt noch nicht beigetreten sind. Es sind das die sogenannten " Importländer" des entsetzlichen Geschäfts. Sind sie etwa der Konvention ferngeblieben, weil in ihnen das durchschnittliche Sittlichkeitsempfinden viel niedriger wäre als in den vertrag­schließenden Ländern? Das glaube, wer die Pestilenzgerücje nicht wahrnimmt, die den Lasterhöhlen der großen europäischen Residenz- und Hafenstädten entsteigen; wer nie sich vor Ab scheu geschüttelt hat, wenn standinavische Schriftsteller und Schriftstellerinnen die Syphilisation und geschlechtliche Unmoral