Nr. 17

22. Jahrgang

Die Gleichheit

Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen

Mit den Beilagen: Für unsere Mütter und Hausfrauen und Für unsere Kinder

Die Gleichheit erscheint alle vierzehn Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Vost vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pfennig; unter Kreuzband 85 Pfennig.

Jabres- Abonnement 2,60 Mart.

Inhaltsverzeichnis.

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Stuttgart  

15. Mai 1912

Spezialisierte Agitation unter den Vom neuen Liberalismus. Spezialisierte Agitation unter den Frauen. II. Von Luise Zieß. Der Massenmord der Arbeiter in den Lenagoldbergwerken. Von Ed. Ten. Die weiblichen An­gestellten im Gastwirtsgewerbe. Von Hugo Poetzsch. Gewert schaftliche Arbeiterinnenorganisation in Italien  . Von Angelita

Balabanoff.

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Aus der Bewegung: Von der Agitation. Von den Organisationen. Otto Müller  , Wirges  . Politische Rundschau. Von H. B. Gewerkschaftliche Rundschau.- Aussperrung der Textilarbeiter in Neumünster  . Aus der Holzindustrie. Von fk. Die Beendi gung des Kampfes im Schneidergewerbe. Von H. Stühmer. Notizenteil: Dienstbotenfrage.- Sozialistische Frauenbewegung im Ausland. Frauenstimmrecht. Die Frau in öffentlichen Ämtern. Verschiedenes.

Vom neuen Liberalismus.

Mit vielem Gefühl und falscher Stimme sangen nach den Neichstagswahlen die journalistischen Harfenmädchen des ,, entschiedenen Liberalismus" von dem Siege über den blau­schwarzen Block und der liberalen Mehrheit im neugewählten Parlament. Diese Mehrheit konnte wahre Wunder der so­zialen Erneuerung, des demokratischen Fortschritts wirken, wenn sie nur wollte. Und daß die Linke wollen würde, wollen müßte, wer hätte daran zweifeln dürfen? Hatte sie sich doch angeblich im Kampfe gegen die junkerlich- klerifale Reaktion zu einem einigen Volk von Brüdern zusammengefunden. Der Wille und die Entschiedenheit des Liberalismus zu ..positiver Arbeit" wurde täglich im Berliner Tageblatt" beschworen, wo sich der Tatendrang der Fortschrittler um so wortreicher austobt, je geringer der Einfluß dieses Organs auf die Politik der Volkspartei ist. Die lauten länge vom auferstandenen Liberalismus, der wagen würde, wirklich Liberalismus zu sein, fanden hier und da ein Echo in den sozialdemokratischen Blättern. Mit dem bekannten Wenn und Aber" wurde der Häckerling von Redensarten und Hoff­nungen zu dem Golde einer möglichen Umbildung des Liberalismus nach links" gemacht. Hatte der Liberalismus im letzten Wahlkampf nicht schärfere Töne gegen die Regie­rung und die Rechtsreaktionäre gefunden, hatte er sich nicht steifnadiger erwiesen als zuvor? Wie falt und grausam hat der Wind im Verlauf von nur einigen Wochen parlamenta  rischer Verhandlungen im Reichstag und im preußischen Ab­geordnetenhaus die Blütenträume von dem neuen" Libera­lismus verweht.

Die volle und ganze" Gegnerschaft der Liberalen gegen die volksfeindliche Zoll- und Steuerpolik der Blauschwarzen hat ihren Ausdrud im Reichstag darin gefunden, daß nicht einmal die Volksparteiler von den Nationalliberalen zu schweigen mit der Sozialdemokratie zusammen für die fofortige glatte Aufhebung des Kartoffelzolls gewesen sind, der die Ärmsten der Armen am härtesten trifft. Die Herren sind vielmehr dem entsprechenden sozialdemokratischen An­trag in den Rücken gefallen. Junkerfromm haben sie sich da­

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Zuschriften an die Redaktion der Gleichbett find zu richten an Frau Klara Zetkin  ( 3undel), Wilhelmshöbe, Poft Degerloch bei Stuttgart  . Die Expedition befindet sic in Stuttgart  . Furtbach- Straße 12.

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mit begnügt, nur eine vorläufige Außerkraftsegung der Be­stimmung vom 15. Februar bis 1. Mai zu verlangen. Das ist die berühmte Rückzugspolitik des nur Erreichbaren", die durch ihr Ducken den Schamlosigkeiten der Zoll- und Steuer­räuber einen Schein der Rechtfertigung verleiht. Im preu­Bischen Abgeordnetenhaus aber sind in der Kommission für die Beratung des neuen Einkommensteuergesetzes die Volfs­parteiler wie die Nationalliberalen noch einen Schritt weiter gegangen. Sie sanken den Junkern und Klerikalen verständ­nisinnig ans treue kapitalistische Herz. Mit den Blau­schwarzen" im Bunde haben sie sich dafür erklärt, daß den Haus- und Grundbesizern an Steuern für den Staat 4/2 Millionen, für die Gemeinde 8 bis 9 Millionen jährlich ge­schenkt werden. Diese Beträge kapitalisiert, machen die nette Liebesgabe" von 300 Millionen Mark aus, um die das Vermögen der bedachten Notleidenden wächst. Die Haus­und Grundbesitzer dürfen nämlich nach den Beschlüssen der Kommission von dem steuerpflichtigen Einkommen als Werbungskosten" die kommunalen Realsteuern bis zur Höhe der staatlich veranlagten Grund-, Gebäude- und Ge­werbesteuer abziehen. Was die Rechte großmütig verschwen­det, muß natürlich die Linke wieder einzubringen suchen. Nach den reformeifrigen Volksparteilern werden in Preußen nicht Einkommen bis zu 1500 Mt. Steuerfrei bleiben, wie die Sozialdemokratie es fordert. Die Steuerpflicht soll vielmehr schon bei 1200 Mt. beginnen, ein Fortschritt", für den sich die preußische Regierung schon vor 30 Jahren erklärt hat. Das Langsam- Voran des Krähwinkler Landsturms ist noc heute das Marschtempo der Fortschrittler geblieben, wenn es sich um die Interessen der Werftätigen handelt. Die an­geführten Tatsachen geben einen Vorgeschmack von der Steif­nadigkeit", mit der der neue Liberalismus den verheißenen Abbau" der lastenden Zölle und indirekten Steuern be­treiben wird, wie die Durchführung einer Reichserbschafts. und Einkommensteuer zur Deckung der Kosten des Rüstungs­wahnsinns. Bei der ersten Beratung über die neue Webr­vorlage hat der Nationalliberale Paasche bereits feierlich be. schworen, daß seine Partei nicht daran denkt, dem Militaris. mus den Brocken einer Erbschaftssteuer in den unersättlichen Rachen zu werfen.

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Ein anderes Blatt der parlamentarischen Arbeit: Sozial­politik und Koalitionsfreiheit. Der nationalliberale Serr Bassermann brachte es im Reichstag fertig, mit schluchzender Nührung von den großen Lasten zu reden, die dem Unter­nehmertum zugunsten der Arbeiter durch die Sozialreform aufgebürdet worden sind. In hohen Tönen rühmte er die Besonnenheit" der Sozialpolitik des Reiches. Der Fort­schrittler aber hatte für die Weiterentwicklung der Sozial­gesetzgebung seiner Meinung nach genug getan, wenn er be­scheiden das Geständnis stammelte, seiner Partei sei es zwar unangenehm", daß die Reichsversicherungsordnung so viele Verschlechterungen enthalte, sie anerkenne jedoch auch deren viele Verbesserungen. Im preußischen Abgeordnetenhaus rafte der volksparteiliche Herr Ehlers ganz im Stile eines Anti­