258Die GleichheitNr. 17semiten oder anderen zünftigen Mittelständlers gegen dieGewerbeaufsicht. Gewiß hat fein Parteigenosse Herr Gothcinim Reichstag bei den Verhandlungen über den Ausstand derBergarbeiter sehr entschieden der Koalitionsfreiheit der Arbeiter die Stange gehalten. Die Ausführungen anderer fortschrittlicher und gar erst nationaliberaler Redner über dieseLebensfrage des Proletariats waren dagegen bedenklich vondes kapitalistischen Gedankens Blässe angekränkelt. Da klangwieder und wieder der Grundton durch, die Koalitionsfreiheit müsse„für alle Seiten" gegen Terrorismus geschütztwerden, lies: der Kapitalistenstaat habe die verdammtePflicht und Schuldigkeit, mit dem Schwerte seiner Machtmittel den kämpfenden Lohnsklaven in den Arm zu fallen.Was denn hatte der„neue" Liberalismus zu Stadthagenswuchtiger Anklagerede gegen die Klassenjustiz zu sagen? DerVertreter der Nationalliberalen pries die Schreckensurteileim Ruhrrevier. Der Volksparteiler fand einige Nichter-sprüche zwar hart, drückte sich aber um die Stellungnahmezur Hauptfrage herum: der Klassenjustiz gegen Streikende.Die kapitalistische Seele, die sich im Reichstag des allgemeinen Wahlrechts nur verschämt offenbarte, trat hinter densicheren Wällen des preußischen Geldsackparlaments unverhüllter hervor. Der neue Liberalismus wird weder einSturmgeselle im Kampfe für wirksame Sozialreform nochfür Sicherung der Koalitionsfreiheit gegen Gesetzesauslegung und Maschinengewehre sein. Ans den Mastern derkapitalistischen Entwicklung— mit ihrer Verschärfung derKlassengegensätze zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten,mit ihrer Abschleifung der Gegensätze zwischen den verschiedenen Schichten der ausbeutenden Klassen— verlieren sichdie paar Tröpfchen sozialliberalen Ols, mit denen einzelneehrliche bürgerliche Träumer den brausenden Wogenschwalldes Klassenkampfes zu beschwichtigen gedachten.Wird jedoch nicht das Gebiet„reiner Kulturforderungen"die freudige, vorwärtsdrängende Kraft des neuen Liberalismus erweisen? Bis jetzt starren den Fragenden auch aufdiesem Felde nur dürre Reiser statt grünender, blühenderZweige entgegen. Herr Kerschensteiner, der bekannte Münchener Pädagog, eine neue Leuchte der Volkspartei im Reichstag, forderte von dem„neutralen Staate" der Armeleutebildung, des erziehenden Schutzmannssäbels, der BluturteileWider Streikende„eine Erziehungspolitik" als„Schutzwallgegen die Sozialdemokratie". Welch wirklich„neutrale" Verkörperung des Ideals der Erziehung und der bürgerlichenFreiheit I Im preußischen Abgeordnetenhaus kam es natürlich noch besser. Dort traten die fortschrittlichen SchulmännerKopsch, Ernst und Schepp Seite an Seite mit den Junkernund Klerikalen für den Religionsunterricht in der Volksschule ein. Zwar setzten sich diese merkwürdigen Jugendbildner dadurch in Widerspruch zu einer Hauptforderungder Erziehungswissenschaft und der wirklich fortschrittlich gesinnten Lehrer. Dafür aber fanden sie sich mit dem allerhöchstseligen Geist Wilhelms I. in der Erkenntnis zusammen:„Dem Volke muß die Religion erhalten bleiben." HerrSchepp krönte übrigens die volksparteiliche Kulturarbeitdurch das Bekenntnis, wie der neue Liberalismus überBürgerrecht denkt. Er erklärte:„Ein Lehrer darf keinSozialdemokrat sein." Und das nennt sich bürgerliche Demokratie! Die bekundete Auffassung von der Pflicht der Staatsbeamten wurde von den Fortschrittlern im Reichstag würdigergänzt. Sie stimmten der Ostmarkenzulage für Postbeamtezu, einem Korruptionsgeld, mit dem der sonst so schäbigeArbeitgeber Staat seiner polenfresserischen Politik gefügigeWerkzeuge sichern will. Die demokratische Gesinnungstüchtigkeit des neuen Liberalismus endet also wie die des altenbeim Sprachenparagraphen mit der Praxis, die reaktionäreVergewaltigung einer Nationalität zu unterstützen.Im Wahlkamps hatte der Liberalismus unter ohrenbetäubendem patriotischem Trommelwirbel bekräftigt, wasdurch seine Taten schon früher den Massen ins Bewußtseingebrannt worden war: daß die„Vollen und Ganzen" imBewilligungseifer für Heer-, Flotten- und Kolonialzweckehinter den blauschwarzen Blockbrüdern wahrlich nicht zurückstehen. Wie könnte es auch anders sein? Der Imperialismus,der aus den Widersprüchen der kapitalistischen Ordnung geboren, all ihre Übel und Verruchtheiten für die frondendenMillionen auf die Spitze treibt, ist zur bestimmenden, herrschenden Form der bürgerlichen Politik geworden. Trotzdemfehlte es nicht an liebenswürdigen Schwärmern, die dienebelhafte Entwicklung des Liberalismus nach links bereitsvon der Morgenröte einer möglichen Politik der Abrüstungund der internationalen Schiedsgerichte beglänzt sehen. Wieschön und ohne an harte Sachen zu stoßen, ließen sich imluftleeren Raum der Gedankenspekulation die Aussichten erörtern, daß breite Schichten des Bürgertums durch ihre„wohlverstandenen höheren Interessen" veranlaßt werdenkönnten, dem imperialistischen Rüstungswahnsinn in dieZügel zu fallen. Die Sozialdemokratie müßte nur ihre Aufgabe als politische Erzieherin dieser Schichten richtig verstehen und sich mit Geduld und taktischem Geschick von derschlecht belehrten Bourgeoisie an die besser zu belehrendewenden.Nun haben wir bereits eine Probe aufs Exempel diesesWähnens. Wäre von dem neuen Liberalismus auch nur einAufbäumen gegen die Skorpionen des Rüstungswahnsinnszu hoffen, so hätte er die jetzige Wehrvorlage zerrissen derRegierung in das dreiste Antlitz schleudern müssen. Wasist statt dessen geschehen? Nach dem nationalen HerrnVasscrmann haben die Volksparteiler Schweikhardt undHaußmann in treuer Gemeinschaft mit Zentrümlern undKonservativen der Regierung bescheinigt, daß„alles zurbesseren Ausgestaltung der Wehrmacht getan werden müsse".Mehr Soldaten, Kanonen, Schiffe wollen sie vor den Altardes Mords- und Prozentpatriotismus schleifen, unbekümmert darum, daß das neue Aufrüsten des Deutschen Reichesdie berüchtigte Schraube ohne Ende weiter dreht: daß jederVermehrung des Heeres und der Flotte hier steigende Rüstungen im Ausland folgen müssen, die ihrerseits zum Spornfür neue Wehrvorlagen bei uns werden.Dürfen wir angesichts dieser Sachlage das bißchen nationalliberale und fortschrittliche Kopfhängerei wegen derDeckungsfrage ernst nehmen? Die besorgt Zahlen murmelnden Lippen werden schließlich doch ja sagen, auch wenndie Deckung der neuen Mehrausgaben eitel Spiegelfechtereiist, auch wenn auf jeden Pfennig, der günstigsten Falles vonden Reichen durch Besitz- und Erbschaftssteuer genommenwerden sollte, Mark über Mark aus den Taschen der Armenkäme. Aber die unerschrockenen und scharfen Worte, die dieHerren Haußmann, Müller-Meiningen und andere ihrerFarbe gegen die Flottentreiberei, gegen Kriegsministcr undReichskanzler gefunden haben? Aber die bittere Kritik, diesie an manchen Einrichtungen und Erscheinungen des Militarismus, an Einzelheiten der Regierungsforderungcn üben?Wir müßten nichts gelernt und alles vergessen haben, wollten wir darob in einen hoffnungsseligen Taumel des Entzückens geraten. Das alles haben wir seinerzeit von EugenRichter viel wuchtiger und schneidiger gehört. Nicht einmalseine Meisterschaft, groß im kleinen einfacher Nechcnexempclzu sein, ist auf seine politischen Erben gekommen. IhreNörgelei am System, das sie anbeten, verhält sich zu EugenNichters Opposition wie das Zwerghündchen einer Damezum Bullenbeißer des Metzgermeisters.Die ini Kaffeesatz als möglich entdeckte Entwicklung desLiberalismus vollzieht sich in der Rüstungsfrage nach demMuster der Echternacher Springprozcssion: einen Schrittvorwärts, zwei Schritte zurück. Die Volksparteiler stimmenin der Budgetkommission der sozialdemokratischen Forderungzu, die attive Dienstzeit der Kavallerie auf zwei Jabre herabzusetzen. Mit den Blauschwarzen zusammen verwerfen sieden anderen wichtigeren Antrag unserer Partei, für die Infanterie die«injährige Dienstzeit einzuführen. Schließlichapportieren sie der Regierung die ungefährlich gezauste