262

Die Gleichheit

Tiere Arbeiter, Männer und Frauen, Ledige und Verhei­ratete, hier werden Kinder gezeugt, hier kommen sie zur Welt und gehen elendiglich in unbekannten Massen zu­grunde. Der Inspektor Bogdanaritch, der im Auftrag der Regierung die Verhältnisse des Lenagebiets untersuchte, fonnte sich nur mit Mühe von den Läufen säubern, die seine Kleidung bedeckten, nachdem er mehrere dieser Baracken be­sucht hatte." In den überfüllten Baracken herrscht eine stickige Luft, und die Arbeiter, die 10 bis 11 Stunden in Kälte und Nässe schufteten, haben auf den harten Pritschen kaum Play, die steifgewordenen Glieder zu strecken. Hunderte schmutziger Körper drängen sich um das Feuer, auf dem das färgliche Essen kocht und über dem die nassen Kleider und Hemden ge­trocknet werden. Damit sich aber der Arbeiter wider all diese schamlose Ausbeutung und Bedrückung nicht auflehnen kann, sind ihm auch juristische Fesseln angelegt. Auf Grund einer ,, freien", aber nichtsdestoweniger selbst nach russischem Gesetz völlig unzulässigen Vereinbarung dürfen die Arbeiter bei Streitigkeiten mit den Unternehmern keinen Rechts­beistand anrufen. Ang

Als Folge solch menschenunwürdiger Zustände sind Ar­beiterausstände auf den sibirischen Goldfeldern nicht selten. Der jetzige Streik brach Ende Februar aus. 900 Mann der Andreasgrube legten zunächst die Arbeit nieder unter Hin­weis auf die schlechte Behandlung, Mißstände bei der Berech­nung und Auszahlung der Löhne, den Mangel an ärztlicher Hilfe und den gesundheitsschädlichen Zustand der Arbeiter­wohnungen. Sie verlangten Lohnerhöhung, Auszahlung der Löhne in barem Gelde und unentgeltliche Benußung der der Gesellschaft gehörenden Eisenbahn. Die Antwort der Verwaltung auf diese Forderungen war, daß sie die Rädels­führer" entließ und die Behörden um polizeilichen Schutz anging. Nunmehr griff der Streit auch auf die anderen Gruben über, und im März war das ganze Gebiet mit gegen 6000 Mann ausständig. Die Ausständigen wählten einen Streifausschuß und einigten sich auf gemeinschaftliche Forde­rungen: achtstündige Arbeitszeit, dreißigprozentige Rohn­erhöhung, Abschaffung der Geldstrafen und der Auszahlung des Lohnes in Warentalons. Von den Forderungen seien noch hervorgehoben: Aufhebung des 3wanges, die Frauen zur Arbeit in den Bergwerken heran­zuziehen und der anderen Vorschrift, in den Baracken der Grubenherren zu wohnen, vor allem in den Massenquar­tieren, Trennung der Verheirateten und Ledigen; ferner Auszahlung des Lohnes in Krankheitstagen und bei Un­fällen, Bezahlung des Lohnes für die Dauer des Streiks, Zurückerstattung der von der Gesellschaft zurückbehal tenen Arbeiterlöhne, die sich auf 300 000 Rubel be­laufen. Die Arbeiter verlangen auch, daß sie von den Berg­behörden nicht mit Du angeredet werden. Diese Forderung einer höflicheren Anrede hat der ehemalige Minister und jezige Goldgrubenherr Timirasjew als eine politische Forderung bezeichnet, der man sozialistische Einflüsse an­merke. Mit dem Hinweis auf diese Einflüsse" will Timi­rasjew die kleine Zahl von administrativ Verbannten bei der Polizei denunzieren, die die bitterste Not in das Garn des Goldgrubenkapitals getrieben hat.

Die Gesellschaft lehnte es ab, die Forderungen der Ar­beiter auch nur zu prüfen. Die Streifenden verhielten sich aber ruhig und friedfertig. Die Behörden hielten es daher, trotz der stürmischen Bitten der Grubenverwaltung, für un­nötig, Militär in das Streifgebiet zu senden. Doch die Hauptverwaltung in Petersburg   trieb darauf hin, den Aus­stand mit Waffengewalt zu unterdrücken. Der Genere!- direktor der Gesellschaft machte geltend, daß der Streik un­gebeure Verluste verursache, namentlich infolge der Früh lingsüberschwemmung der Werke. Um dem vorzubeugen, sei es unbedingt notwendig, den Streit selbst mit den Waffen in der Hand zu unterdrücken. Und die Goldgrubenkapitalisten setzten es durch, daß das Handelsministerium den örtlichen Behörden befahl, Militär

Nr. 17

zu entsenden. Auf den Werken zogen ein Gendarmerieritt­meister mit 200 Mann und der Staatsanwalt ein. Die Unterhandlungen mit den Ausständigen, die dank der Ver­mittlung des Bezirksingenieurs Tultschinski eingeleitet wor­den waren, wurden abgebrochen und das Streiffomitee ver­haftet. Die Arbeiter verlangen die Befreiung des Komitees und unterstützen diese Forderung durch einen Massenzug. Sie verhalten sich bei dieser Kundgebung ruhig, und man unterhandelt mit Tultschinski. Da, ohne vorher die vor­schriftsmäßige Aufforderung, auseinander zu gehen, zu er­lassen, kommandiert der Rittmeister Feuer", und ein halbes Tausend Menschen wälzen sich in ihrem Blute.

Die gesamte russische bürgerliche Presse, von dem Organ der liberalen Kadettenpartei der Rietsch" bis hinab zu der von der Regierung ausgehaltenen Presse, wie sie die ,, Nowoje Wremja", der Kolokol" und andere darstellen, ist einig in der Verurteilung der kapitalistischen   Untat in Sibirien  . Selbst die Mehrheitspartei der dritten Duma, die regierungstreuen Oktobristen haben sich zu einer Inter­pellation aufgeschwungen. Woher mit einem Male der edle Zorn über vergossenes Arbeiterblut? Ja nun man steht in Rußland   vor dem 1. Mai, und da war es zum mindesten verbrecherischer Leichtsinn, die mit Mühe zit­rückgehaltene Empörung der Arbeitermassen zu reizen, don Groll, der in ihnen glimmt, zur gefährlichen Flamme anzu­fachen. Hatten die Unvorsichtigen denn schon die Jahre 1905 und 1906 vergessen, daß sie in einem so ungeeigneten Augen­blick auf die Nerven der Arbeiter schlugen? Und die Bcr­urteilung des Vorgehens der zaristischen Bluthunde in Ci­birien kann sich die patriotische Presse um so eher leisten, als glücklicherweise nicht alle der Goldgrubenbesitzer echt rus­sische Leute sind. Außer Engländern gibt es o Wonne einen leibhaftigen Juden unter ihnen. Welche Aussicht cr­öffnet diese Tatsache dem Schwarzen Hundert  ? Aber auch die heilige Empörung der liberalen Parteien in Rußland  ist nicht ohne Grund: man steht vor den Wahlen zur viertent Duma, und da tut es gut, das Mäntelchen der Arbeiter­freundschaft aus der Rumpelkammer zu holen und sich gra­ziös um die Schultern zu hängen.

Heiß und unverfälscht ist allein der Zorn der Arbeiter­klasse. Denn die Opfer des Goldkapitals sind Fleisch von ihrem Fleische und Blut von ihrem Blute. Keine Teil­nahme, keine Beileidskundgebungen ihrer falschen Freunde wie echten Feinde vermag sie zu trösten. Auch können keine Versprechungen der Regierung, eine objektive" Unter­suchung einzuleiten, sie über das Schicksal ihrer lebenden Kameraden in den Lenagoldfeldern beruhigen. Denn wäh­rend der mit der Untersuchung betraute Generalgouverneur Mitschenko auf nähere Aufklärung über seine Aufgabe wartet, während die Toten noch haufenweis unbegraben liegen und die Verwundeten aus Mangel an Verbandmitteln ihren Verlegungen erliegen, herrscht uneingeschränkt die Mordbubenbande. Derselbe Offizier, der den Befehl zumt Feuern gegeben hat, ist eifrig am Werke, den Boden für die ,, objektive" Untersuchung zu bearbeiten. Nachträglich ge­fundene" Steine, eiserne Gegenstände sollen als Schuldbe­weise gegen die Arbeiter dienen, und viele von denen, die dem Tode entgangen sind, erwartet die Zwangsarbeit.

Doch die Arbeiterschaft Rußlands   schlägt nicht nach bürger­licher Art die Hände über dem Kopfe zusammen jammernd und wehklagend ob der Verworfenheit der kapitalistischen  Welt. Sie nimunt mit erneuter Kraft den Kampf gegen diese Welt auf. Die Arbeiter eines Riewer Maschinen­betriebs eröffneten den Reigen der Kundgebungen für die gefallenen Brüder und gegen ihre Mörder. Sie haben nach Absingen des dumpf düsteren Klagegesangs Ewiges Gedenken" die Arbeit zum Zeichen des Protestes niedr gelegt. Ihnen folgten die Arbeiter der Fabriken in Odessa  , Cherson   und Saratow  ; fie traten in einen 24stündic Streik. Natürlich geht die Polizei gegen die Streifenden ver. Am Sonntag den 28. April demonstrierten in Peters­

"