Nr. 20

Die Gleichheit

Träume von einem Zusammengehen der Sozialdemokratie mit dem Liberalismus gegen die Reaktion wie Seifenblasen zerstieben zu lassen. Ein Bündnis zwischen beiden kann nur das eine Ergebnis haben: die Macht der Arbeiterklasse zu lähmen, das proletarische Klassenbewußtsein zu verwirren und die Bourgeoisie noch schneller der Reaktion in die Arme 311 treiben. Statt der erhofften Zerschmetterung der Reaktion tritt ihre Stärkung ein. Die Bündnistaktik erweist sich als prinzipieller Verrat an der proletarischen Klassenaufklärung und als praktisches Pfuschwerk obendrein.

Das letzte Jahrzehnt bringt Schlag auf Schlag die Be­weise. Hageldicht regnen die Streiche auf die unverbesser lichen Schwärmer für ein sozialistisch- liberales Bündnis her­nieder. Vor zehn Jahren der Bankrott der Blockpolitik in Frankreich in der Schmach des Milleranderperiments; vor zwei Jahren das offizielle Eingeständnis des Bankrotts der parlamentarischen Illusionen der Parteiführer in Italien und der völligen Zerrüttung der Partei unter ihrem Einfluß; in diesem Jahre im Januar das Fiasko des Stichwahlbünd­nisses zwischen der Sozialdemokratie und dem Liberalismus in Deutschland ; im Februar der Mißerfolg des sozialdemo­kratisch- liberalen Wahlblocks gegen das Zentrum in Bayern ; soeben der Zusammenbruch der zehnjährigen Blockpolitik in Belgien und die groteske Niederlage der vereinigten Oppo­sition im ungarischen Parlament.

Sind der Lehren nicht endlich genug? Die Zukunft der freiheitlichen Entwicklung in allen modernen Staaten beruht einzig und allein auf der Macht des Proletariats. Die Macht des Proletariats aber gründet sich auf sein Klassenbewußt­sein, auf die revolutionäre Energie der Maffen, die aus jenem Bewußtsein geboren wird, und auf die selbständige, rücksichtslose und konsequente Politik der Sozialdemokratie, die allein jene Energie der Massen entfesseln und zum ent­scheidenden Faktor des politischen Lebens gestalten kann. R. Luremburg.

Die Frau in der Industrie und Landwirtschaft Württembergs.

IV.

Brauchte der Mann früher einen Anzug, so ging er zum Schneidermeister. Der nahm das Maß zur Hand: Brust umfang, Taillenweite, Beinlänge, alles wurde genau ge­messen, die Zahlen trug der Meister fein säuberlich in sein Büchlein ein. Nach acht oder vierzehn Tagen fand die erste Anprobe statt. Die nur lose zusammengeheftete Kleidung wurde am Leibe des Kunden auf passenden Siz probiert, hier etwas nachgelassen, dort etwas weggenommen. Nach einer weiteren Wartezeit war das Werk vollendet. Mit an­dächtiger Rührung nahm der Kunde den Anzug in Empfang.

Wenn heute der kleine Mann" Kleidung braucht, so geht er in ein Ladengeschäft. Der Verkäufer tagiert mit raschem Blid Größe und Umfang des Kunden, auch die Größe seines Portemonnaies. Dann schleppt er eine Anzahl fertiger An­ziige herbei. Die ersten drei oder vier passen nicht recht, der fünfte sitzt schon besser, der sechste wird gekauft. Ist noch eine kleine Änderung nötig, so führt sie der Schneider des Geschäftes in fürzester Zeit aus. Eine Stunde später stol­ziert der Käufer bereits im neuen Anzug durch die Straßen.

Die Massenanfertigung besserer Herrenkleidung, die bes­fere Herrenkonfektion" ist in Württemberg einer der wichtigsten Zweige der Bekleidungsindustrie. Die In­dustrialisierung des Landes, das Anwachsen der städtischen und insbesondere der Arbeiterbevölkerung haben den Markt für fertige und billigere Kleidung geschaffen, als sie der Schneidermeister herstellen kann. In der ersten Zeit haftete der Konfektionsarbeit denn auch der Geruch des Minder­1pertigen an. Mehr und mehr geht aber die Männerwelt des besser situierten Mittelstandes ebenfalls dazu über, den Dedarf an Kleidung im Konfektionshaus zu kaufen. Immer

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seltener verirrt sich ein Kunde zum Schneidermeister, um sich einen Anzug anmessen zu lassen.

In der Großstadt hat man sich so schon längst zur Kon­fektion bekehrt. Der Verbrauch fertiger Herrengarderobe dringt in neuerer Zeit aber sehr rasch mit dem steigenden Verkehr auch in Kleinstädten und auf dem Lande vor. Der kleine selbständige Schneidermeister verschwindet auch hier mehr und mehr. Er wird wie anderwärts zum Heim. arbeiter in der Konfektionsbranche. Der Großunter­nehmer liefert ihm die in der Fabrik zugeschnittenen Teile eines Kleidungsstücks. Der eine Meister" verfertigt das Jahr hindurch Hosen, Hosen und wieder Hosen, der zweite näht Westen, der dritte Jacketts, der vierte Gehröcke usw. Frau und Kinder müssen helfen und können helfen. Es ist ja keine Kunst mehr, immer und immer wieder dasselbe Kleidungsstück anzufertigen, dessen einzelne Teile schon zu­geschnitten sind. Das lernt in verhältnismäßig kurzer Zeit nebenbei die Frau, deren Arbeit bei der Anfertigung von Männerkleidern das zünftige Schneiderhandwerk streng ver­pönt hatte. Die weibliche Arbeitskraft dringt denn auch in der Herrenkonfektion unaufhaltsam vor. In der Stadt und auf dem Lande sind viele tausend Frauen mit der Anferti­gung von Männerkleidern beschäftigt. Die Statistik gibt über ihre Zahl nur sehr ungenügenden Aufschluß. Die Frau des Schneidermeisters" trägt sich in die Liste als Haus­frau" ein. In Wirklichkeit kann sie aber den Haushalt nur nebenbei versehen. Sie muß mit dem Manne um die Wette nähen, vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein. Die Herstellung der Berufskleidung für Handwerker und Arbeiter erfordert noch weniger Kunst als die Herrenkonfektion. Auch in diesem Gewerbe floriert die Heimarbeit, und Heimarbeit besagt auch Frauen­arbeit. Die Firma Krempel& Leibfried in Urach zum Beispiel beschäftigt neben 200 bis 300 Arbeitern und Arbeiterinnen in der Kleiderfabrik noch 1000 bis 1500 Heim­arbeiter und Heimarbeiterinnen. Für die Herstellung der Damengarderobe ist die Konfektion herrschend. Die übermächtige Berliner Konkurrenz hat zwar in Württem­ berg eine starke Undustrie dieser Art noch nicht emporblühen lassen, doch scheint sie im Aufschwung. Schon recht wichtig ist die Konfektion von Kinderkleidung geworden. Jedoch besonderen Umfang hat die Wäschekonfektion gewonnen. Hier überwiegen die weiblichen Heimarbeiter bei weitem. Tausende von Nähmaschinen rasseln in der Stadt und auf dem Lande, in Dachstuben und Kellerwoh­nungen. Man schätzt die Zahl der Heimarbeiterinnen, die nur Hemden anfertigen, auf mindestens 2000. Die Firma Hayum& Schwarz in Stuttgart , Jupons-, Schür­zen- und Wäschefabrik( Filialfabrik in Deggingen a. F.), be­schäftigt über 1000 Arbeiterinnen, die Firma Herbst in Im desgleichen. Eine große Zahl Heimarbeiterinnen ist für Unternehmer der Konfektionsindustrie in Stuttgart , Göppingen , Rottweil und an anderen Orten tätig.

Für wohl die meisten, jedenfalls aber für die bedeutend­sten Firmen der württembergischen Konfektionsindustrie ist es charakteristisch, daß nur ein kleiner Stamm von Arbeitern und Arbeiterinnen in Fabriken und Werkstätten schafft, die meisten aber außerhalb dieser als Heimarbeiter. Viele dieser Heimarbeitenden leben fern vom Siße des Betriebs auf dem Lande. So wird ein großer Teil der Erzeugnisse der Stutt­garter Konfektion in Filderorten angefertigt, bis Böb­Iingen hin. Allein das Kapital der Branche hat sich auch die halb bis dreiviertel proletarisierte weibliche Bevölkerung entfernterer Gegenden tributpflichtig gemacht. Es beschäftigt Heimarbeiterinnen in Nürtingen , Waiblingen , Winnenden , Schorndorf , ja sogar in Wela­heim, wie in der Umgegend dieser Städtchen. Gerade die Verbindung von Betriebs- und Heimarbeit sichert den Unter­nehmern die höchste Nuzbarmachung und Auswucherung der billigen weiblichen Arbeitskräfte. Die Betriebsarbeit erlaubt die Anwendung der modernsten Technik mit ihren Vorteilen