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Die Gleichheit

arbeiterinnen mußten leider bei der Regelung leer ausgehen. Intensivste Aufklärungsarbeit unter ihnen ist Vorbedin­gung, daß auch ihre Lage gehoben wird. Zu solcher Arbeit mahnt das uns vorliegende Zahlenmaterial, hinter dem sich crschütternde Not verbirgt.

Mißbrauchte Frauenkraft in der Krankenpflege.

m.

In den Erinnerungen einer Krankenschwester" in Nr. 4 und 5 der Gleichheit", Jahrgang 1910/11, hat Genossin Hannah Levin- Dorsch sehr einleuchtend auseinandergesetzt, wie junge Mädchen religiös fanatisiert ein Gott wohlgefäl­liges Werk zu tun glauben, wenn sie sich im Krankenpflege­beruf die unerhörteste Ausbeutung ohne Murren gefallen lassen. Von welchen Folgen die überbürdung der Pflege­rinnen für diese selbst wie für die ihnen anvertrauten Kran­fen ist, wurde schon früher in einem längeren Artikel in Nr. 26, 1909/10 unserer Zeitschrift auseinandergesezt. Nun dämmert der Tag auch unter den tätigen Frauen dieser dunklen Gebiete, in die Außenstehende kaum Einblick er­halten. Die junge Organisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands , die 3000 Mitglieder umfaßt, hat es sich an­gelegen sein lassen, in ihr nahestehenden Kreisen statistische Erhebungen zu veranstalten, um der Öffentlichkeit zahlen­mäßig nachzuweisen, wie groß die Opfer sind, die die gegen­wärtige mangelhaft organisierte Krankenpflege verschlingt. Das Publikum soll aus seiner Gleichgültigkeit gegen diese wahnsinnige Vergeudung von Menschenleben aufgerüttelt werden. Wiederholt haben öffentliche Versammlungen auf die höchst verbesserungsbedürftige Lage der Krankenpflege­rinnen hingewiesen. In letzter Zeit hat sich der frauen­rechtlerische Kongreß zu Berlin mit ihr beschäftigt, allerdings feineswegs in ausreichend gründlicher und entschiedener Weise.

Die Rechtslage der Krankenpflegerinnen ist noch völlig ungeklärt, was hauptsächlich daran liegt, daß der Beruf erst neuen Datums ist. Aus einer Arbeit um Gottes willen" beginnt er ein moderner Erwerbsberuf zu werden. Es ist heute ganz unsicher, ob die Krankenpflegerinnen der Ge­werbeordnung oder der Versicherungspflicht unterstehen oder nicht. Der Gesetzgeber hat sich bisher um das Kranken­pflegepersonal nicht gefümmert außer im Strafgesetzbuch, wo es für Versehen im Beruf mit Strafe bedroht wird. Gänzlich ungeregelt ist die Arbeitszeit. Als normal gilt eine tägliche Arbeitsdauer von 14 bis 15 Stunden ohne feste Essenspausen und verlängert durch mehrere Nachtwachen in der Woche. Von Diakonissen wird von 5 Uhr früh bis 9 Uhr abends, von katholischen Ordensschwestern sogar noch länger gearbeitet, die Nachtwachen nicht mit eingerechnet. Das Rote Kreuz, das sich seiner besonderen Humanität gegen die Pflegerinnen noch rühmt, bewilligt bei Tag- und Nacht­pflege ganze drei Stunden Ruhe am Tage, doch dürfen die flegerinnen auch 48 Stunden hintereinander arbeiten. Als die Moabiter Schußmannschaft an einem der Krawalltage 17 Stunden Dienst gehabt hatte, wurden ihre Ausschrei­tungen von ihren Vorgesezten mit dieser übermäßigen An­strengung entschuldigt. Von dem schwachen Geschlecht" werden wie wir gesehen haben in der Krankenpflege 17 Dienststunden als ganz gewöhnliche Leistung verlangt. über diese Dinge zu sprechen, verbietet den Schwestern das Schweigegebot der Mutter- und Ordenshäuser. Treten tie Schwestern aus den Verbänden aus, so hindert die Ronkurrenzklausel sie am Fortkommen. Diese rechtlich gegen die guten Sitten verstoßende Abmachung verbietet den Pflegerinnen nach ihrem Ausscheiden die Aus­übung des Pflegeberufs in dem Kreise des Mutterhauses für drei bis zehn Jahre. Eine solche Verpflichtung ist um so ungeheuerlicher, wenn man bedenkt, daß die Schwestern oft nur 20 Mt. Monatsgehalt im Dienste beziehen.

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Nr.20

Aus dem reichen statistischen Material, durch das Schwester Agnes Karll die Lage der Krankenpflegerinnen beleuchtet hat, sei hier folgendes hervorgehoben: Eine Reichsstatistik über die Gesundheits- und Sterblichkeitsverhältnisse des Pflegepersonals fehlt bis heute. Aus den abgeschlossenen Kreisen der deutschen Mutter- und Ordenshäuser erfährt man nichts. Doch lassen einige Erhebungen, die im Aus­land veranstaltet wurden, Rückschlüsse auf die deutsche Kirch­liche Krankenpflege zu. In Österreich ergab die Erhebung der Gesellschaft für Tuberkulosebekämpfung in den Ordens­häusern eine Sterblichkeit an Schwindsucht von nicht weniger als 662/10 Prozent; in Skandinavien starben 34 Prozent der Schwestern an Tuberkulose, ja vereinzelt steigt die Schwind­suchtssterblichkeit im Ausland auf 70 bis 100 Prozent. Das Note Kreuz in Deutschland hatte unter seinen Pflegerinnen 1901 eine Tuberkulosesterblichkeit von 30 Prozent. Eine Privatenquete der Berufsorganisation, die 2500 Schwestern erfaßte, berichtet, daß 33 Prozent der Schwindsucht erlagen. Eine Folge der dauernden übermüdung ist auch die hohe Unfallziffer. Außerordentlich zahlreich sind schwere Infek­tionskrankheiten. Dieselbe Erhebung ermittelte, daß die Pflegerinnen nach durchschnittlich 8 Jahren berbraucht sind. Von 43 Todesfällen, welche die Be­rufsorganisation in einem bestimmten Zeitraum innerhalb ihres Schwesternkreises registrierte, entfielen nicht weniger als 13 auf Selbstmorde. Einige der Unglücklichen legten in geistiger Umnachtung Hand an sich, die meisten waren ver­zweifelte, erschöpfte Menschen, die vor dem Zusammenbruch aller ihrer Kräfte standen.... überall fehlt es noch an der richtigen Einschätzung der körperlichen Anstrengungen und seelischen Erschütterungen, die der Pflegerinnenberuf mit sich bringt. Verhängnisvoll waren auch vielfach die aszeti­schen Prinzipien in der Ernährung, die, wie fast alle übel in der Krankenpflege, von den religiösen Körperschaften stammen.

In Amerika und England hat der Krankenpflegeberuf diese ungesunde Entwicklung aus den kirchlichen Institu­tionen nicht durchzumachen gehabt. Dort finden wir denn auch Verhältnisse, die für Deutschland geradezu vorbildlich sein müßten. In den besten Londoner Krankenhäusern kommen 2 Betten, in englischen Provinzanstalten 5 Betten auf eine Schwester. In Deutschland entfallen durchschnittlich 10 bis 20 Betten auf eine Pflegerin, in kleinen Kranken­häusern nicht selten die doppelte Anzahl.

Diese Zahlen beweisen von neuem, daß in der Kranken­pflege eine Ausbeutung von Frauenkräften stattfindet, wie sie schlimmer nicht in den finstersten Winkeln der Hein­arbeit angetroffen wird. Es ist die höchste Zeit, daß die Ge­setzgebung eine Reorganisation der Kranken­pflege vornimmt, sowohl im Interesse des ohne Maßen ausgenutzten Pflegepersonals wie auch derjenigen Bevölke­rungskreise, die in der Anstaltspflege die verlorene Gesund­heit und Arbeitsfähigkeit wieder erlangen sollen. M. Kt.

Rinderelend in Schleswig- Holstein .

Die bürgerliche Gesellschaft kann sich nicht genug tun, den Arbeitern die Segnungen der modernen Kultur" aufzuzeigen, auf daß die Unzufriedenheit der Massen endlich einmal schweige. Von Zeit zu Zeit sieht sich jedoch ein Vertreter der Herrschen­den gezwungen, hier und da den Schleier der göttlichen Weltordnung" zu lüften, und ein Bild grauen Elends bietet sich dann dem Auge. Doch nicht als Menschen nehmen unsere Herrschenden für gewöhnlich Anteil an den Leiden des Volkes, dringen sie auf Linderung der Not. Vielmehr sind es meist die Bedürfnisse des Staats, der Gemeinde, die sie nötigen, dazu Stellung zu nehmen. Der Staat fühlte sich erst dann veranlaßt, die Kinderausbeutung einzuschränken, als bestimmte industrielle Gegenden das Rekrutenkontingent nicht mehr stellen konnten. Die Gemeinden empfanden mit Schrecken das Wachsen der Armenlaften und suchten mun erst dem Elend entgegenz