Nr. 20
Die Gleichheit
wirken, um dadurch Entlastung zu schaffen. In derartigem Zusammenhang ist es zu verstehen, daß der letzte SchleswigHolsteinische Städtetag neben der Erörterung anderer Fragen auch ein Referat brachte, das Stadtrat Dr. Pauly- Stiel über Kinderschutz in Schleswig- Holstein hielt.
Wir schicken voraus, daß die Provinz Schleswig- Holstein durchaus nicht ein industriell start entwickeltes Land ist. Der Flächeninhalt beträgt 19005 Quadratkilometer. Von der Gesamtfläche kommen nach den Feststellungen von 1900 auf Ackerbau und Gärten 56,8 Prozent, 10,9 auf Wiesen, 11,6 auf Weiden , 6,7 Prozent auf Waldungen. Die Bevölkerung betrug 1905 1504248 Einwohner, das sind 79 auf ein Quadratkilometer. Eine große Verschiebung dieser Verhältnisse hat auch in den verflossenen Jahren nicht stattgefunden. Dr. Pauly stellt fest: Unsere Provinz hatte im Jahre 1880 1127149 Bewohner, von denen 668118 in Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern sagen. 1907 zählte man 1545746, von denen aber nur noch 656983 den ländlichen Gemeinden angehörten. Der gesamte Zuwachs entfiel auf die Gemeinden mit städtischem Charakter, beinahe zwei Drittel des Zuwachses auf Kiel , Altona , Flens burg , Neumünster und Wandsbet. 1882 waren in unserer Heimatproving landwirtschaftlich tätig 188641 Personen, während Industrie und Handel 178401 Menschen beschäftigten. 1907 erwarben zwar weitere 42108 Personen ihren Unterhalt in der Landwirtschaft, aber 144573 mehr Menschen fanden ihr Fortkommen in Industrie und Handel.
Die schleswig- Holsteinischen Städte liefern nicht so viele Refruten, wie sie nach dem Reichsdurchschnitt im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl stellen müßten. Namentlich Altona blieb nach den Untersuchungen des Jahres 1906 weit zurück, fogar hinter Hamburg und Bremen , ja selbst hinter dem Durchschnitt der sächsischen und rheinischen Großstädte. Aber auch ein Schaden an seelischer Straft zeigt sich im Anwachsen der Kriminalität, das nach dem Vortragenden um so bedenklicher ist, als in dem gleichen Zeitraum 1905 bis 1908 insgesamt 1032 Kinder der Fürsorgeerziehung überwiesen worden sind. Die weit.
aus meisten dieser Kinder stammen aus den Städten. Der Redner führte weiter aus, daß das nicht genüge, was bisher in„ werftätiger Liebe" in Krippen, Warteschulen, Horten, Jugendheimen, Mädchenasylen, Ferienkolonien, Waldschulen, Fürsorgestellen für Lungenkranke, auf Sport- und Spielplägen geleistet würde. Die Grundlagen, die Reichs- und Staatsgesetze zu legen begonnen haben, müssen erweitert werden. Dr. Bauly will Provinzen, Kreise, Städte und Gemeinden stärker dazu heranziehen. Vor allem schweben ihm da vier Tätigkeitsgebiete vor: Fürsorge für Säuglinge, die Verhältnisse der unehelichen Kinder, die Sorge für die armen Kinder und Schutz der erwerbstätigen Kinder. Es ist ein düsteres Bild, das der Redner zur Begründung seiner Forderungen aufrollte. Wir erfahren da, daß von 982 im Jahre 1906 in Stiel gestorbenen Säuglingen 506 an Ernährungsstörungen zugrunde gingen. Bei einer Mindersterblichkeit von 6 Prozent wären im Jahre 1909 in Schleswig- Holstein 3275 Säuglinge weniger gestorben. Um dem übel zu wehren, wird man zunächst der erwerbstätigen Frau es erleichtern müssen, sich selbst und den Neugeborenen richtig zu pflegen. Dr. Pauly empfahl ferner Belehrung und Aufklärung über den Wert des Selbst. stillens, Pflegerinnenkurse, kostenlosen ärztlichen Rat an unbemittelte Mütter. Für die mehr als 14000 Fabrikarbeiterinnen in Schleswig- Holstein sollten Stillstuben in den Fabriken eingerichtet werden. Für die unehelichen Kinder wird die Berufsvormundschaft vieles bessern. Der Kieler Berufsvormund zog 1909 mehr als 60000 Mr. Alimente ein. Bisher haben aber nur Kiel , Altona , Flensburg und Wandsbek Berufsvormundschaften. Das Elend dieser„ Sündenfinder" zeigt sich ebenfalls in der Säuglingssterblichkeit. Im Jahre 1908 wurden in Schleswig- Holstein 4575 Kinder unehelich geboren, von denen rund 1300 im ersten Jahre wieder gestorben sind.
Nicht minder groß ist die Not der armen ehelichen Kinder. Die Überwachung ihrer Erziehung will Dr. Pauly gleichfalls in die Hände eines Generalvormundes gelegt wissen. Eine
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solche Einrichtung besteht bisher in Stiel, Altona und Wandsbet. Am 1. April 1910 hatten schleswig- Holsteinische Städte 1762 Kinder in Stadt- und Landfamilien untergebracht. Nicht weniger als 26 Städte halten dauernd ihre armen Kinder in städtischen Armenhäusern. Aber dieses Hilfsmittel schadet oft mehr als es nützt. Schon aus pädagogischen Gründen allein dürften Kinder auf keinen Fall unter dasselbe Dach mit Siechen, Trinkern, Landstreichern und Verbrechern, ja nicht einmal mit schuldlos Verarmten gebracht werden. Dr. Pauly forderte noch an gesellschaftlichen Maßregeln: Unterbringung der jungen Armenhäusler in ländliche Familien, Errichtung von Heimen zur Pflege tuberku löser Kinder, Fürsorge für die Krüppel. Schäzungsweiſe leben in Schleswig- Holstein 1200 heimbedürftige Krüppel. Aber alles, was geschieht, ist unvollständig ohne Schutz für die erwerbstätige Jugend. In Schleswig Holstein arbeiteten 1910 nicht weniger als 766 vierzehnund fünfzehnjährige Mädchen und 2107 vierzehn- und fünfzehnjährige Knaben in Fabriken. Außerdem wurden 6824 schulpflichtige Kinder gewerblich beschäftigt, davon 2223 in gesezwidriger Weise.
Diese Tatsachen, die der Vortrag des Herrn Dr. Pauly feststellte, sind eine einzige ungeheure Anklage gegen die herrschende Gesellschaft. Das ist gewiß dem Mitglied des Kieler Magistratskollegiums nicht zum Bewußtsein gekommen. Die Stellung des Mannes dürfte aber jedem Zweifelfüchtigen eine Gewähr dafür sein, daß die mitgeteilten Tatsachen keine Übertreibungen sind. Im Gegenteil! Das Heer bleicher, frühzeitig dem Tode verfallender Kinder ist viel, viel größer, als uns das amtliche Material zu melden weiß. Und wie groß ist erst das Elend der großen Zahl Kinder auf dem Lande, die heute noch jeglichen gesetzlichen und gesellschaftlichen Schutzes entbehren. Wie lange noch? Es gibt nur ein Mittel! Fort mit einer " Ordnung", in der die schaffende Mutter nur Ausbeutungsobjekte gebären kann, in der den Kindern jegliche Jugendfreude und das Leben frühzeitig ge
raubt wird.
Aus der Bewegung.
P. R.
Viktor Adler zum 60. Geburtstag. Am 24. Juni feiert einer der besten, hervorragendsten Führer der internationalen Sozialdemokratie seinen 60. Geburtstag: Viktor Adler in Wien . Viktor Adler , der Name ist gleichbedeutend mit dem höchsten Jdealismus, mit feltener Begabung und reichem Wissen, selbstlos und restlos bis zum letzten Fünkchen der Kraft in den Dienst des proletarischen Befreiungskampfes gesetzt. Es ist uns nicht möglich, in diesem Augenblick zu schildern, welch unbergängliches Verdienst sich Viktor Adler um den Aufbau und das geistige Leben der Sozialdemokratie in Osterreich erworben hat; welch großer Anteil ihm an der Entwicklung der sozialistischen Internationale zukommt. Wir müssen uns darauf beschränken, kurz des einfichtsvollen und zuverlässigen Förderers der proletarischen Frauenbewegung in Osterreich zu gedenken, des Kämpfers für die volle Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts und seine Befreiung durch den Sozialismus. Mit Rat und Tat ist Viktor Adler jederzeit den Genossinnen zur Seite gestanden, und wenn in der Offentlichkeit oder in den Reihen der Partei für das Recht der Frauen gestritten wurde, so hat er seine einflußreiche Stimme dafür erhoben. Und dieser sturmerprobte Kämpfer ist ein gütiger, liebenswürdiger Mensch, ist ein treuer Freund wie wenige. Die Genossinnen aller Länder vereinigen sich mit ihren österreichischen Schwestern, um Viktor Adler aufrichtigen Dank und herzliche Wünsche darzubringen.
V
Bon der Agitation. Im Auftrag der Parteileitung des Wahl. kreises Friedberg - Büdingen fanden in folgenden Orten Frauenbersammlungen statt: Steinbach, Oberroßbach , Rod heim , Bruckenbrücken, Klein Karben , Massen. heim, Bilbel, höchst a. N., Himbach , Altenstadt , Heldenbergen , Obermörten, Büdesheim, Jlbenstadt, Niederflorstadt , Stammheim, Nieder Mockstadt, Nieder- Erlenbach, Wolf, MittelGründau, Hain- Gründau , Diedelsheim, Fried. berg , Büdingen , Rohrbach, Kefenrod , Wenings ,