368 Die Gleichheit Nr. 23 legenheit zu lenken: auf die ungleiche Behandlung der Suffragetten und die schädlichen Wirkungen der Zwangsernährung. Der Antrag wurde jedoch abgelehnt. Am nächsten Tage wiederholte Healh seine Anfrage, richtete sie aber an den Ministerpräsidenten Asquith . Dieser erklärte sich aicherstande, in reine Verwaltungssachen einzugreifen, die dem Minister des Innern unterständen. Übrigens könnten die Suffragetten in wenigen Tagen das Gefängnis verlassen, wenn sie die Zusicherung gäben, keine Fensterscheiben mehr einzuwerfen. Daraufhin sprang Lansbury auf, stürzte auf den Minister» Präsidenten zu und rief unter steigendem Tumult des Hauses, diese Zusicherung könnten die Suffragetten nicht geben. Warum, das wüßte Asquith sehr Wohl: weil sie für ein Prinzip kämpften und dafür im Gefängnis säßen. Das Verhalten der Negierung sei im höchsten Grade ungerecht, denn von anderen politischen Verurteilten sei keine ähnliche Erklärung gefordert worden. Die Minister nennten sich Gentlemen, ließen aber Frauen mit Gewalt füttern und mordeten sie auf diese Weise. Solche Männer müßten aus dem öffentlichen Leben vertrieben werden. Diese Vorgänge seien das Schändlichste, was sich in der Geschichte Englands zugetragen habe. Die Regierung werde bei der Nachwelt als die Mörderin unschuldiger Frauen weiterleben. Während dieser Ausführrmgen wurde Lansbury mehrmals zur Ordnung gerufen und schließlich aufgefordert, das Haus zu verlassen. Er erwiderte zunächst, er denke nicht daran, dieser Weisung nachzukommen, solange man Frauen umbringe und verrückt mache. Die ehrenwerten Herren im Parlament wüßten nicht, was Grundsätze seien. Schließlich verließ der Abgeordnete aber doch das Parlament. Hier verursachte die Frauenstimmrechtsfrage später eine neue Aufregung. Drei Suffragetten warfen die Fenster eines Torwegs im Hause ein und wurden unter dem üblichen Auflauf in Polizeigewahrsam gebracht. Einige Tage nach diesen Vorgängen machte der Konservative Cecil seine schon früher angekündigte Absicht wahr und beantragte wegen der Behandlung der Suffragetten ein Mißtrauensvotum gegen den Minister des Innern. Er betonte dabei, daß er damit die Handlungen nicht verteidigen wolle, die die Suffragetten in das Gefängnis führten. Er halte sie für verrückt und nicht zu rechtfertigen. Aber man dürfe keine unterschiedliche Behandlung für das gleiche Vergehen zulassen. Indem der Minister des Innern die führenden Frauenrechtlerinnen als politische Berbrecherinnen behandeln ließ, nicht so aber die geführten, weniger schuldigen Suffragetten, habe er die Achtung vor dem Gesetz und der Gerechtigkeit verletzt. Als Protest dagegen sei eS zum Hungerstreik gekommen. Zwangsernährung sei schon schrecklich, wenn der Gefangene keinen Widerstand entgegensetze, bei solchem aber— wie ihn die Suffragetten leisteten— sei sie Tortur. Die Sozialisten Keir Hardie und Lansbury sprachen in dem gleichen Sinne, der erstere las außerdem eine von 117 Ärzten unterzeichnete Denkschrift vor, die gegen Zwangsernährung als gegen eine Gefahr für Gesundheit und Leben protestierten. Der Minister Mac Kenna erklärte, die Zwangsfütterung der Suffragetten sei im öffentlichen Interesse notwendig geworden. Von einer Ungerechtigkeit in der Behandlung der Inhaftierten könne nicht die Rede sein. Sein Verhalten habe sich streng in den konstitutionellen Grenzen gehalten. Nach der Verurteilung der Suffragetten habe der Richter mitgeteilt, er könne nicht vorschlagen, diese als politische Verbrecherinnen der königlichen Gnade zu empfehlen, weil sie erklärt hätten, ihre Taten wiederholen zu wollen. Bei Herrn und Frau Pethick Lawrence und Frau Pankhurst liege die Sache anders. Sie gaben die schriftliche Versicherung, sich während ihrer Haft nicht an der Suffragettenbewegung zu beteiligen. Da dieses Versprechen dem Richter genügt«, mußte er als Minister handeln, wie er gehandelt. Das Unterhaus lehnte das beantragte Mißtrauensvotum ab. Trotzdem haben die hungernden Suffragetten über die Regierung gesiegt, sie wurden nach und nach aus dem Gefängnis entlassen. Anfang Juli öffneten sich die Tore von Hollowey für die letzten von ihnen, die im März zu sechs Monaten Strafhaft verurteilt worden waren. Alle erzwangen ihre Freilassung durch den Hungerstreik, nachdem sie eine Zeitlang gewaltsam ernährt worden waren. Sie sind von ihren Gesinnungsund KanrpfeSgenossinnen mit der größten Begeisterung als Märtyrerinnen begrüßt worden. Verschiedenes. Hcrrenrecht in der französischen BourgeoiSdemokratie. Wie der bürgerliche Staat auch in seiner republikanisch-demokratischen Form die heilige VourgeoiSmoral auf die gewalttätigste Unterdrückung und Entrechtung der Frau gründet, mögen einige Fälle aus der französischen Justiz- und Verwaltungspraxis beleuchten. Vor dem Pariser Zivilgericht kam ein Prozeß zur Entscheidung, den ein Fräulein M. gegen Herrn G. angestrengt hatte, einen wohlhabenden Bürstenfabrikanten. Fräulein M. hatte 2S Jahre lang mit G. in freier Verbindung gelebt und ihm 10 Kinder geboren, von denen 4 noch leben. G. löste aber plötzlich das Verhältnis und kümmerte sich um seine Gefährttn und die Kinder nicht mehr. Fräulein M., die ganz mittellos ist, wandte sich nun an das Gericht. Sie forderte eine monatliche Pension von je SO Franken für die beiden noch minderjährigen Kinder, 100 Franken für sich und außerdem 60000 Franken als eine Entschädigung für die jahrzehntelange, im gemeinsamen Haushalt verrichtete Arbeit. Sie begründete diese letzte Forderung unter anderem mit dem Hinweis, daß sie einen Teil des Mietzinses aus eigenen Mitteln bestritten hatte.— Das Gericht gab ihr in der Sache selbst recht. ES bemaß die Pension für die Kinder gemäß ihrer Forderung, aber als Entschädigung für sie selbst hielt es— 3000 Franken für angemessen! DaS macht für die 25 Jahre 120 Franken jährlich und dazu ohne Verzinsung. Für 10 Franken monatlich also hat der wackere Bürger B. eine arbeitsame und treue Haushälterin gehabt, die ihm obendrein das ansehnliche Liebesbudget begüterter Junggesellen ersparte. Das anspruchsloseste Dienstmädchen vom Land hätte an Lohn mehr gefordert, als Herr G. jetzt für ein Bierteljahrhundert Fannlienglück zu zahlen hat. Für die Bourgeoisjustiz ist ja illegitimes Familienglück eine billige Ware. DaS.Verhältnis" dagegen, das dem Bourgeois Geld kostet, legt der Frau moralische Pflichten auf. Das hat ein Gerichtsspruch in gespreizter Pedanterie verkündet, die ihrer selbst spottet. Ein reicher Makler wurde vor einigen Monaten in seinem Bett erstickt gefunden. Ein Gashahn war offen, und der Verdacht, ihn geöffnet zu haben, fiel auf die Geliebte des Toten, die dieser zur Erbin eingesetzt hatte. Indes mußte die Untersuchung gegen sie eingestellt werden. Nun fochten die.gesetzlichen" Erben das Testament an und beschuldigten die Frau der.Undankbarkeit", da sie ihrem Aushälter die Treue nicht bewahrt babe. Das Gericht wies sie ab, aber konnte nicht umhin, in der Urteilsbegründung der Erbin folgende von Bürgertugend triefende Strafpredigt zu halten: .Es ist zuzugeben, daß K., der als Lebemann geschildert wird, Fräulein S. niemals Vorwürfe wegen ihrer Seitensprünge gemacht und nie an einen endgülttgen Bruch gedacht hat. Es ist weiter zuzugeben, daß Fräulein S. wohl, die Selbstachtung vergessend, die elementarsten Gebote des Moralgesetzes verkannt hat, die ihr die Pflicht auferlegten, sich der ihr bezeigten Freigebigkeit durch ein tadelloses Verhalten gegen ihren Wohltäter würdig zu erweisen; andererseits ist jedoch in Betracht zu ziehen, daß Fräulein S. zwar eine vom moralischen Gesichtspunkt aus tadelnswerte Handlung begangen hat, daß sie aber kein gesetzliches Band mit R. verknüpfte, und daß sie demzufolge nicht der im bürgerlichen Gesetzbuch ausgesprochenen Verpflichtung zu gegenseitiger Treue unterworfen war." DaS Gericht spricht also aus, daß die ausgehaltene Frau im Aushälter ihren Wohltäter zu sehen hat, und daß der Geschlechtsverkehr, sobald er teuer bezahlt wird, in die Reihe der philanthropischen Betätigungen aufrückt. Im Grunde ist das dieselbe Auffassung, die aus dem Unternehmer, der die Arbeitskraft der Proletarier kaust, um sie in den Mechanismus der Mehrwerterzeugung einzufügen, einen.Brotgeber" macht, der Anspruch auf Dankbarkeit besitzt.— Und nun ein erbauliches Beispiel der gebietenden.Herrenmoral" aus der Polizeipraxis. Es ist auch ein charakteristisches Kapitel eines Sittenromans aus der eleganten Welt. Herr H. ist eine der Zierden der herrschenden Gesellschaft in Paris . Berühmter Historiker und ehemaliger Minister deö Äußeren, hat er in der französischen Akademie die Empfangsrede an das neuaufgenommene Mitglied zu halten. Aber Herr H. ist unruhig. Zu den Sitzungen der Akademie Pflegt nämlich ein Fräulein V. zu kommen, eine frühere Schauspielerin, zu der er einst in zarten Beziehungen gestanden hat. Fräulein V. hat ihm schon vor einigen Jahren einmal eine unangenehme öffentliche Szene gemacht. Wer bürgt ihm dafür, daß sie nicht heute in der schönen Feierlichkeit der.Unsterblichen" störend dazwischenfährt und überhaupt den Ruf dieser ganzen Gesellschaft komprommittiert, die bekanntlich den .Tugendpreis" vergibt. Herr H. klagt seine Befürchtungen dem Polizeipräfekten Herrn Löpine, und dieser weiß„vorzubeugen". Im Augenblick, da Fräulein V. aus dem Tor ihres Hauses tritt, um in den Wagen zu steigen, wird sie von drei Sittenpolizisten überfallen und nach dem Kommissariat geschleppt, wo man sie so lange festhält, als die Feierlichkeit dauert! Eine.Apachen"tat im Namen der öffentlichen Moral! Aber dieser niederträchtige Angriff auf die persönliche Freiheit bedrückt die Gewissen der Herrschenden nicht immindesten. Hat er doch seine Schuldigkeit getan und die gespreizte Kulturkomödie der.Auslese" der Gesellschaft vor pietätloser Störung behütet! O. L. veranuvorlUch lür dle Redaltton: Frau INara ZetNn(Zundey, WtUzelmShoh«, Post Degerloch det Stuttgart . Druck und Verlag von g. H. w. Die» Rachf.».m.b.H. tn Stuttgart.
Ausgabe
23 (7.8.1912) 23
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