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Die Gleichheit

familien. Die Kinder müssen hungern, Männer und Frauen er­leiden durch Unterernährung schwerste Schädigungen. Die Säug­lingssterblichkeit nimmt zu. Die Versammelten verlangen deshalb im Interesse der allgemeinen Volkswohlfahrt, im Namen ihrer Familien, vor allem im Namen ihrer hungernden Kinder, daß die Regierung und die Gemeinden unverzüglich Maßnahmen treffen, die notwendig sind zur Linderung der schlimmsten Notlage. Die Versammelten fordern insbesondere:

1. Von der Regierung: Die Öffnung der Grenzen für die dau­ernde Einfuhr von Vieh und Fleisch, insbesondere auch von Ge­frierfleisch. Aufhebung der Zölle auf Bieh, Fleisch, Getreide und Futtermittel. Aufhebung des Systems der Einfuhrscheine.

2. Von der Gemeindeverwaltung: Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, besonders mit Fleisch, möglichst zum Selbst­tostenpreis.

Die Versammelten versprechen, daß sie mit verstärkter Kraft am Ausbau der politischen Organisation arbeiten wollen, da sie in der zunehmenden Macht und Stärke der Sozialdemokratie das einzige Mittel sehen, der volksausplündernden Zoll- und Steuer­politik ein Ende zu machen, der Not und Ausbeutung des arbeiten­ben Volkes entgegenzuwirten und sie schließlich durch die Verwirk lichung des Sozialismus zu beseitigen.

Hunderte der Versammlungsteilnehmer traten der Partei bei. Weitere Anmeldungen folgten in den nächsten Tagen.

Aus einer ganzen Anzahl anderer Orte sind Meldungen eingegangen über ähnliche Proteste der Hausfrauen und Mütter, die ebenfalls gleichzeitig der Aufrüttelung und Or­ganisierung bisher Indifferenter dienten.

An die Genossinnen aller Orterichten wir die dringende Bitte, ähnlich wie in Berlin zu verfahren.

Die herrschende Teuerung trifft die Hausfrauen und Mütter am schwersten. Ihre Pflicht ist es, in den ersten Reihen zu stehen, wenn es gilt, mit verstärkter Wucht den Kampf gegen die Auswucherung fortzusetzen.

Ihre Pflicht ist es aber auch, mit zäher Energie an der Verstärkung unseres Kampfheeres zu arbeiten, damit die Wucht unseres Ringens zu vergrößern, die uns heute Erleich­terung, in der Zukunft Befreiung bringen wird.

Auf denn, Genoffinnen, nußet die Stunde! Nieder mit Not und Ausbeutung! Für Freiheit und Brot! Das sei unsere Parole. Luise Biet.

Die Reform

Nr. 2

Sozialdemokraten betonten ausdrücklich die Forderung der Trennung von Staat und Kirche. Dem Staat soll keinerlei Einfluß auf das religiöse, innerkirchliche Gebiet zustehen, andererseits wurden alle Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln für kirchliche Zwecke von unserer Seite abgelehnt. Diese ablehnende Haltung fonnte uns aber nicht von der Pflicht befreien, zu den einzelnen wesentlichen Bestimmungen des Entwurfes Stellung zu nehmen. Dazu waren wir um so mehr genötigt, als die Kirchengemeindeordnung zu einer er­heblichen Verstärkung des geistlichen Einflusses auf den Staat führen mußte, ferner zu einer Schwächung der Rechte der Kirchengemeinde und zu einer beträchtlichen Mehrbelastung ihrer Mitglieder. Wir mußten uns kritisch gegen den Ent­wurf wenden, damit seine Nachteile vor aller Welt klargelegt wurden.

Genosse Dr. Süßheim kennzeichnete das schwächliche und nachgiebige Verhalten der zentrumsfreundlichen Regie­rung als ein Produkt der innerpolitischen Verhältnisse Bayerns . Die schwarze Mehrheitspartei erstrebe und erziele entgegen den Bestimmungen der Verfassung und der histo­rischen Entwicklung eine Reihe von Rechten, die den Einfluß der Kirche und des Klerikalismus außerordentlich stärke. In der Tat ist es so, daß die ausschlaggebende Zentrumspartei die bisherige staatliche Oberaufsicht über das kirchliche Stif­tungsvermögen praktisch beseitigt hat. Sie hat durch ihr Votum der Kirchengemeinde die Verwaltung der Kirchenstiftungsvermögen aus der Hand ge­nommen und damit ihre bisherigen fümmerlichen Rechte der Selbstverwaltung in der Frage des Kirchenvermögens ber­nichtet. Diese Tatsachen haben für die Zukunft eine um so größere Bedeutung, als nach dem neuen Gesetz nicht nur die Bekenntnisgenossen, sondern auch juristische Personen zur Kirchensteuerpflicht herangezogen werden. Also Körperschaf­ten und Vereinigungen, die den Charakter juristischer Ber­sonen tragen, müssen, obwohl sie dem Bekenntniskreis einer Kirche fernstehen, Steuer zahlen, ohne einen Einfluß auf die Verwaltung des Kirchenvermögens ausüben zu können.

Neben diesen inkonsequenten Bestimmungen bringt das Gesetz eine wesentliche Verschlechterung des aktiven und passiven Wahlrechts zu den Kirchenverwal­tungswahlen. Bisher war im rechtsrheinischen Bayern das Stimmrecht dazu von der Vollendung des 21. Lebens­jahres abhängig; der Entwurf rückte diese Altersgrenze auf

der Kirchengemeindeordnung in Bayern . 25 Jahre hinauf; ferner waren früher wählbar Bekenntnis­

Mitte September ist in der bayerischen Abgeordneten­kammer die Beratung des Entwurfes einer Kirchengemeinde­ordnung zum Abschluß gelangt, bei der auch für das Frauenwahlrecht gekämpft worden ist. Die Geschichte des Entwurfes ist ziemlich lang. Schon 1870/71 hatte ein ge­meinsamer Beschluß des Landtags von der Regierung ge­fordert, im Anschluß an die 1869 erlassenen beiden Gemeinde­ordnungen für die politischen Gemeinden baldmöglichst einen Gefeßentwurf über die Materie vorzulegen. 37 Vorbera­tungsjahre waren nötig, bis 1907 diese Vorlage an den Land­tag gelangte. Diese Zeit und die bald fünfjährige Behandlung im Landtag lassen schon erkennen, wie schwierig der Rechts­stoff zu behandeln war. Schwierigkeiten entstehen nämlich ftets, wenn es um das Verhältnis zwischen Staat und Kirche geht; und das war in dem Gefeßentwurf der Fall, der die Rechtsverhältnisse der katholischen und protestantischen Kirchengemeinden ordnen sollte. Bei der Regelung des ver­faffungsmäßig festgelegten Verhältnisses zwischen Staat und Kirche mußte es zu heftigen Auseinandersetzungen kommen, wenngleich die Regelung innerkirchlicher Verhältnisse so gut wie ausgeschieden war. Der Hauptzweck des Gesezes ist, die entsprechenden Mittel zu beschaffen für die örtlichen Be­dürfnisse der Kirche. Das Gesetz ist also eigentlich ein Kirchen­umlagegefeß. and fun major l

Die Stellung der sozialdemokratischen Fraktion zu dem Gesetzentwurf war von vornherein klar vorgezeichnet. Wir

genossen, die das 25. Lebensjahr zurückgelegt hatten, nach dem neuen Gesetz tritt die Wählbarkeit erst mit 30 Jahren ein.! Das aktive und passive Wahlrecht für Frauen brachte der Entwurf nicht, man ist versucht zu sagen: natürlich. Bei dem Vorstoß der Sozialdemokraten, die gleichen Rechte auch den Frauen zuznerkennen, blieb das Zentrum fest auf seinem ab­lehnenden Standpunkt. Genosse Schneppenhorst be­gründete namens der sozialdemokratischen Fraktion die An­träge, die auf eine Verbesserung der Wahlbestimmungen hin­ausgingen und insbesondere ein Mitbestimmungsrecht der Frauen forderten. Aber alle Mühe war vergebens. Nachdem die Haltung des Zentrums zu diesen Fragen genügend ge­kennzeichnet war, kam der sozialdemokratische Redner noch einmal kurz auf das Recht der Frau in der Kirchengemeinde zu sprechen und führte wörtlich aus:

,, Wir Sozialdemokraten sehen in der Kirche die Gemein­schaft derer, die eines Glaubens find. Die Glaubens- und Sinnesgemeinschaft fennt aber feinen Geschlechtsunterschied für die Wertung ihrer einzelnen Mitglieder. Darüber scheint allerdings in der Zentrumspartei eine andere Auffassung zu herrschen. Der Gedanke, auch der Frau ein Mitbetätigungs­recht in der Gemeinde zuzusprechen, ist nicht neu. Ich darf dafür einige Beispiele anführen. In Hannover hat jedes kon­firmierte Kirchengemeindemitglied das Recht, bei Pfarrer­sowie bei Kirchenvorstandswahlen Einspruch zu erheben. In den älteren preußischen Provinzen können Einsprüche gegen die Wahl der ältesten und der Gemeindevertretung von den