Nr. 2

Fürsorge für Mutter und Kind.

Die Gleichheit

Stillprämien und Kindersterblichkeit. In der württembergischen Oberamtsstadt Heilbronn und ihrer Umgebung hat die kapi­talistische Produktion in dem letzten Jahrzehnt große Ausdehnung gewonnen. Fabriken nach Fabriken sind entlang dem Neckar auf­gemauert worden, dessen Schiffbarkeit hier beginnt, und die qual­menden Schlote überragen die umliegenden Dörfer, die sich vor wenigen Jahren noch landschaftlicher Reize erfreuten. Mit der Ver­mehrung der Fabriken hat die Proletarisierung der kleinbäuer­lichen Bevölkerung rasch zugenommen. Neben Zehntausenden von Männern find es Tausende von Frauen und Mädchen, die die Woche über von den Landorten herein in die Stadt und die Vor­orte kommen, um in den Fabriken dem Kapital zu fronen. Die bil­ligere Arbeit der Frauen haben die Heilbronner Industriellen früh schätzen gelernt. Der Ausdehnung der gewerblichen Frauenarbeit find wie überall als düstere Schatten Frauenleiden und Kinder­fterblichkeit gefolgt. Je mehr Frauen als Erwerbstätige vom Kapi­tal ausgenutzt wurden, je mehr wütete der Würger Tod unter den Säuglingen. Es starben in dem Oberamtsbezirk Heilbronn von hundert Lebendgeborenen im Jahre 1906: 45; im Jahre 1907: 50 und im Jahre 1908: 44 bor Vollendung des ersten Lebensjahres. Staat und Gemeinden erwiesen wieder einmal ihren Klassen­charakter: fie sahen der hohen Kindersterblichkeit tatenlos zu. Ohne Berständnis für das gute Recht der Reichtum schaffenden Frauen des werktätigen Volkes überließen sie es der privaten Wohltätig= teit, durch Almosen dem übel etwas entgegenzuwirken. Fürsten­empfänge und Festessen sind offenbar würdigere Gelegenheiten, bas Geld zu verausgaben, mit dem die Steuerzahler die öffent­lichen Säckel füllen. Der Bezirkswohltätigkeitsverein des Oberamts Heilbronn machte einen bescheidenen Versuch, gegen die Säuglingssterblichkeit anzufämpfen, die so schwere Antlage gegen die bestehende kapitalistische Ordnung erhebt. Er führte im Jahre 1909 Stillprämien ein, die während sechs Wochen 50 Pf. täglich betrugen. Im folgenden Jahre erhöhte er die Stillprämien auf 1 Mt. pro Tag. Die Unterstüßungseinrichtung soll noch welter ausgedehnt werden. Die Tatsachen erweisen, daß sie einem vor­liegenden brennenden Bedürfnis entgegenkommt. Jm allgemeinen scheuen die Arbeiter mit Recht davor zurück, sogenannte Wohltaten zu empfangen. Trotzdem wurde die Einrichtung des Bezirkswohl= tätigkeitsvereins schon im ersten Jahre ihres Bestehens von 211 Müttern in Anspruch genommen. Sie erhielten zusammen 2095 Mt. Stillprämien, die einzelne Wöchnerin also noch nicht ein­mal ganze 10 Mt. Und doch haben schon diese wenigen Bettelpfen nige die Mütter veranlaßt, ihre Kleinen selbst die ersten sechs Wochen und darüber hinaus zu nähren. Wie groß muß da nicht die Not in der Familie sein! Mehr als zwei Drittel der Säuglinge im Oberamt wurden im ersten Jahre des Bestehens der Einrich­tung mit Muttermilch genährt. Daß die Säuglingssterblichkeit erheblich abgenommen hat, steht augenscheinlich im Zusammen­hang mit der zunehmenden Ernährung an der Mutterbrust. Von den Säuglingen mit Brustnahrung starben 1909 von hundert nur drei in den ersten zwölf Lebensmonaten; von hundert künstlich ernährten Kindern wurden den Müttern 23 durch den Tod ent­rissen, noch ehe sie das erste Lebensjahr vollendet hatten. Diese Bahlen lassen den Nußen von Stillprämien erkennen, die eine von den vielen notwendigen Maßnahmen zum Schutze von Mutter und Kind sind, zu denen sich die Organe der bürgerlichen Gesell­schaft entschließen sollten und entschließen könnten, um einiger= maßen gutzumachen, was ihre Wirtschaft am Wolke verbricht. Denn noch eins ist klar: so segensreich auch eine Unterstützung wie bie durch den Bezirkswohltätigkeitsverein Heilbronn von den ein­zelnen armen Müttern empfunden werden mag, sie bleibt doch nur der bekannte Tropfen auf einen heißen Stein. Reich, Staat und Gemeinde müssen mit ihren Mitteln zur Fürsorge von Mutter und Kind eingreifen, und das nicht aus Barmherzigkeit, sondern bon Rechts wegen.

Frauenstimmrecht.

H. W.

I.K. 1346 925 weibliche Wähler in den Vereinigten Staaten . Das Zensusbureau der Vereinigten Staaten veröffentlicht soeben einen Bericht, der die Ergebnisse der kürzlich stattgefundenen Bolkszählung zusammenfaßt. Aus ihm geht hervor, daß jezt in den sechs Staaten unserer Union , die das Frauenwahlrecht einführten, nicht weniger als 1 346 925 Frauen stimmberechtigt sind. Bei der bevorstehenden Präsidentenwahl bilden also die Frauen zum ersten­mal in der Geschichte dieses Landes einen wichtigen politischen Faktor. Auch ohne die vom Zensusbureau veröffentlichten Zahlen

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wäre uns diese Tatsache lebhaft zum Bewußtsein gekommen, und zwar an der gänzlich veränderten Stellungnahme der bürgerlichen Parteien und ihrer Kandidaten. Präsident Taft, den die republikanische Partei wieder für das Präsidentschaftsamt kandidieren läßt, der dicke, phleg matische Mann, ein typischer Vertreter der streng konservativen Richtung, hat bei den Urwahlen an die Wählerinnen von Kalifornien einen glühenden Appell gerichtet, ihn, Taft, zu unterstützen. Er konnte sich nicht gut als politischer Anwalt dieser Frauen aufspielen, da er immer ein Gegner des Frauenstimm rechts gewesen ist. Er berief sich daher ihnen gegenüber darauf, daß während seiner Präsidentschaft in Washington ein Bureau zur Pflege der Kinderwohlfahrt errichtet wurde, das Kinder amt, und daß er eine Frau zu dessen Vorsteherin ernannte. Nebenbei bemerkt, ist diese Wohlfahrtseinrichtung in Wirklichkeit das Werk der Frauenklubs in den Vereinigten Staaten , und es hat Jahrzehnte der Agitation bedurft, ehe das Amt endlich geschaffe wurde.

Gouverneur Wilson, der Präsidentschaftskandidat der De motraten, hat Mühe, den Frauen zu versichern, daß er allein der treucste Verfechter ihrer Interessen sei. Seine Haltung zur Förderung der Frauenrechte findet den treffendsten ausdruck in der amerikanischen Redensart: Er sitzt auf dem Zaun." Bei einem Wohltätigkeitsbasar, bei dem er zufällig zugegen war, ber­anlaßten ihn die anwesenden Frauenrechtlerinnen, einer ihrer Versammlungen beizuwohnen und auch einige Worte an sie zu richten. In dieser kurzen Ansprache berührte Wilson die Frage des Frauenstimmrechts nur oberflächlich und sehr vorsichtig wie einen Bienenkorb. Kurz darauf aber schrieb eine ihm befreundete Frauenrechtlerin an eine Frauenzeitung, Gouverneur Wilson sei damit beschäftigt, die Frage eingehend zu studieren, und sie be zweifle nicht, daß er sich endgültig zugunsten des Frauenstimm rechts entscheiden werde.

Theodore Roosevelt endlich, Gründer der neuen Fort. fchrittspartei, der ewig neue Überraschungen bereitende Akrobat der amerikanischen Politit, hat jetzt den Schlachtruf ,, votes for women"( den Frauen das Stimmrecht) auf seine Fahne ge­schrieben und stürmt als Verfechter der Frauenrechte auf den Kampfplatz. Während der sieben Jahre, in denen Roosevelt das Präsidentschaftsamt bekleidete, hat er die bolle Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts durchaus abgelehnt. Berichterstattern gegenüber und in Zeitungsartikeln hat er einige Male in verschie denen Variationen das alte Lied gesungen: die Frau gehört ins Haus. In seinem Kreuzzug gegen den" Rafsenselbstmord" hat er wohl hundertmal betont, daß Kinder zu gebären der einzige Beruf der Frauen sei. Niemals hat er den organisierten Frauenrecht­lerinnen eine Konzession gemacht, nie das leiseste Versprechen ber­lauten lassen, ihre Forderungen zu unterstützen. Aber jetzt ist das alles anders geworden, denn weit über eine Million Frauen haben bei der Präsidentenwahl ein Wort mitzureden. Leider sind viele der führenden bürgerlichen Frauenrechtlerinnen töricht und kurz­fichtig genug, fich von Roosevelt als Mittel zum Zweck gebrauchen zu laffen. Den Roosevelt von gestern scheinen sie vergessen zu haben, dem Roosevelt von heute jubeln sie zu und beteiligen sich lebhaft an der Organisation und Leitung der Partei, die von ihm und für ihn begründet worden ist.

Die sozialistische Partei wirkt unterdessen unentwegt weiter für die politische Gleichstellung der Frau, wie sie es feit ihrer Gründung getan hat. In einem Rundschreiben an sämtliche Parteiorganisationen weist die Korre spondentin des nationalen Frauenfomitees unserer Partei ebenfalls auf die große Zahl der weiblichen Wahler hin und ermahnt die Genossen, die Bemühungen zur Aufklärung und Belehrung der Frauen zu verdoppeln. Die Mahnung wird nicht unbeachtet bleiben. Wissen wir doch, daß die Mehrzahl jener 1 346 925 Wählerinnen Töchter und Frauen des arbeitenden Volkes sind. Meta L. Stern, New York . Das persönliche Kommunalwahlrecht der Frauen in Tirol soll demnächst in den Stadt- und Landgemeinden eingeführt werden.

Sozialistische Frauenbewegung im Ausland.

Aus der sozialistischen Frauenbewegung in den Vereinigten Staaten . Die bisherige Sekretärin des nationalen Frauenfomitees der sozialistischen Partei Genossin A. Lowe hat ihr Amt nieder­gelegt, um sich ganz der agitatorischen Tätigkeit zu widmen. An ihre Stelle trat Winnie Branstetter, eine Frau, die ebenfalls langjährige Erfahrungen im Dienste der Partei befißt. Genofsin Branstetter war Mitglied des ersten nationalen Frauenfomitees.