Nr. 23

Die Gleichheit

In vollkommenerer und erweiterter Form könnten Ein­richtungen der geschilderten Art überall dort entstehen, wo durch die Kommunen, durch Baugenossenschaften oder gar durch Arbeiterkonsumvereine selbst Arbeiterwohnungskolo­nien geschaffen würden. Hier wäre gleich von Anfang an für die nötigen gemeinsamen Einrichtungen in großzügiger Weise unter Benutzung der modernen technischen Hilfsmittel zu sorgen: Ledigenheime, Zentralfüche, Speisehaus, Wasch­haus, Badeanstalt, Kinderspielplatz, Näume für die Gesellig keit. Da die Bewohner neuer Arbeiterwohnhäuser vor­nehmlich der bestsituierten Schicht des Proletariats an­gehören, würde es hier weniger darauf ankommen, den Frauen die Erwerbsarbeit außer dem Hause zu ermöglichen. Bielmehr könnte hier durch planmäßige Organisation, durch genossenschaftliches Zusammenwirken der Hausfrauen die Lebenshaltung der Mitglieder gehoben, könnten Zeit und Mittel für höhere Kulturzwecke freigemacht werden. Die Aufgaben, die der Einzelhaushalt heute in so ungenügen­dem Maße erfüllt, würden in vollkommenerer Weise ge­löst. In dem Maße, in dem die Arbeiterklasse sich durch den gewerkschaftlichen und politischen Klassenkampf größere Einnahmen, mehr Freistunden und einen wachsenden An­teil an den Kulturgütern erringt, würden auch die Ge­nossenschaften den Kreis der skizzierten Aufgaben immer weiter ziehen und zu Mittelpunkten nicht nur des ma­teriellen, sondern auch des geistigen Lebens werden. Wir vergessen nicht, daß es nur beschränkte Kreise des Prole­tariats sind, denen diese Entwicklung zugute kommen wird. Aber diese beschränkten Kreise haben die Verpflichtung, die ganze fruchtbare Kraft des genossenschaftlichen Gedankens zu zeigen und in jeder Beziehung vorbildlich zu wirken. Die unerläßliche Vorbedingung dafür, sowohl die Gemeinden wie die Genossenschaften zu Schöpfungen zu drängen, die gerade proletarischen Frauen ihre übergroße Bürde erleich­tern können, ist eine lebhafte Beteiligung des weiblichen Proletariats am Kampfe ihrer Klasse und an der Genossen schaftsbewegung. Nur unter tatkräftiger und begeisterter Mitarbeit der Frauen können die angedeuteten Neuerungen entstehen und zweckmäßig gestaltet werden. Nur durch das Einleben der Frauen in den Geist der genossenschaftlichen Zusammenarbeit auf allen Gebieten können solche Einrich tungen eine Vorahnung der Möglichkeiten einer planvollen kulturellen Lebensgestaltung für alle geben, wenn erst die Enge der kapitalistischen   Ausbeutungswirtschaft gesprengt und das sozialistische Gesellschaftsideal Wirklichkeit gewor­den ist.

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Th. L.

Von der jüdischen Arbeiterinnenbewegung in Rußland  .

Seit 25 Jahren gibt es in Rußland   eine jüdische Arbeiter­bewegung. Seit 16 Jahren besteht dort eine organisierte sozialdemokratische Partei des jüdischen Proletariats: der Bund". In diesem ganzen Zeitraum war aber nichts zu hören von besonderen Frauenorganisationen, von einer pro­letarischen Frauenbewegung. In der allgemeinen jüdischen Arbeiterbewegung wurde nicht empfunden, daß man sich zur Agitation unter den jüdischen Arbeiterinnen einer besonders leichten, volkstümlicheren, faßlichen Sprache bedienen müsse; kein Bedürfnis nach einer Sonderorganisation für erwerbs­tätige Frauen machte sich geltend. In all diesen Beziehungen liegen die Dinge ganz anders als für die russische Arbeiterin. Die jüdische Arbeiterin wurde so früh wie ihr männlicher Klassengenosse zur sozialistischen   Kämpferin, mancherorts sogar noch früher als er. Schulter an Schulter kämpfte sie mit ihm, stellte sich dieselben. Aufgaben wie er, beteiligte sich an denselben propagandistischen Vereinigungen und Agitations. versammlungen wie er und schöpfte Wissen und Belehrung aus denselben Schriften, die er studierte. Gewiß eine sel­tene Erscheinung! Ist ja sonst im allgemeinen die Arbeiterin rückständiger als der Arbeiter.

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Als die ersten modernen jüdischen Arbeiterorganisationen in Rußland   entstanden- zunächst im Nordwestgebiet, in Litauen  , später in Polen   und im Süden, machten die Frauen einen beträchtlichen Teil der industriell tätigen Pro­letariermassen aus. Größere Gruppen jüdischer Lohnarbeiter fronten damals in der Heimindustrie als Bürstenbinder, Strumpfwirker, Weber, Gamaschenstepper, in kleinen Be­trieben ohne motorische Kraft, wo Zigaretten, Zündhölzer, Kuverts hergestellt wurden, im Schneidergewerbe und im Handel. In all diesen Erwerbszweigen war die Arbeiterin stark vertreten. Die Strumpfwirkerei lag früher ausschließ­lich in Frauenhänden, jezt dagegen haben wir im jüdischen Ansiedlungsgebiet" auch männliche Strumpfwirker. In den Zigaretten- und Zündholzfabriken bildeten die Frauen schon damals wie heute die Mehrheit der Arbeitskräfte. Ebenso in der Schneiderei. Auch zu dem Handelsproletariat stellte und stellt die jüdische Frau ein zahlreiches Kontingent. Und als unter der jüdischen Arbeiterschaft eine Klassenbewegung in Fluß kam, erfaßte sie in gleicher Weise Frauen wie Män­ner. Die ersten modernen Fachorganisationen der jüdischen Arbeiterschaft Rußlands   waren 1886 bis 1888 die Streif­kasse der Strumpfwirferinnen und diejenige der Schneiderinnen zu Wilna  . Die ersten organi­sierten Lohnkämpfe und Streits der jüdischen Proletarier wurden von den Strumpfwirkerinnen in Wilna   und den Zigarettenarbeiterinnen ebendaselbst und in Bialystok   ge­führt. Ein Umstand muß hervorgehoben werden, der das Er­wachen der jüdischen Arbeiterinnen in Rußland   begünstigt hat. Sich der Arbeiterbewegung anschließen, bedeutete in der Zeit ihrer Anfänge, sich von allem Hergebrachten loslösen, die religiösen Gebräuche und Sagungen inbegriffen; be­deutete vor den nächsten Anverwandten etwas verbergen. Die Bewegung mußte im geheimen wirken, sie konnte sich nur im Widerspruch mit den Gesezen, im Kampfe mit den Behörden entwickeln. Sie war illegal", ungeseßlich und mit großen Gefahren verbunden. Niemand durfte in sie eingeweiht wer­den, dessen Kräfte nicht gebraucht wurden und der nicht als durchaus zuverlässig galt. Für Müßige gab es in ihr feinen Platz. Wer sich der Bewegung ergab, mußte einen ernsten innerlichen Kampf durchfechten; scharfe Reibungen zwischen Eltern und Kindern blieben nicht aus. Und da zeigte es sich, daß es der Arbeiterin oft leichter als ihrem Bruder fiel, sich von dem alten geheiligten Herkommen loszusagen. Der religiösen Tradition stand sie ferner als er. Der Knabe mußte dreimal täglich beten, das Mädchen war von diesem Zwange frei. Je weniger Bande sie an die alte Welt knüpf­ten, desto rascher erfolgte ihr übertritt zur neuen. Auch auf das Lesen verstand sich die jüdische Proletarierin in der Regel ebensogut wie ihr Bruder. Und wenn sie sich auch an hohen Festtagen im hebräischen Gebetbuch nicht immer leicht zurecht­finden konnte, las sie dafür oftmals flinker als ihr Bruder in weltlichen Schriften, die zwar auch mit hebräischen Lettern gedruckt, aber in der jüdischen Umgangssprache abgefaßt sind. Von Anfang an nahm die Arbeiterin einen hervorragen­den Anteil an der jüdischen Arbeiterbewegung und genoß als gleichwertige Kampfesgenossin Ansehen. In den stürmischen Jahren der Revolution stand sie in den ersten Reihen, auf dem gefährlichsten Posten. Bei den Lodzer Barrikadenkämpfen im Juli 1905, in den Warschauer Oktobertagen, in der schwie­rigen Periode des Selbstschutzes" in Homel, Kiew  , Odessa  und anderen Städten hat die jüdische Arbeiterin höchsten Heldenmut entfaltet. Und unter den Opfern der revolutio­nären Kämpfe welch eine lange Liste von Frauennamen! Unsterblich lebt in den weitesten Kreisen der jüdischen Arbeiterschaft die Erinnerung an zwei Märtyrerinnen fort: an Esther Riskind und Fanny Grabelsky. In den Zeiten des revolutionären Sturmes leisteten auch Arbeiterinnen als Leiterinnen der Bewegung Hervorragendes, traten Arbeiterinnen durch hinreißende Beredsamkeit hervor. Von Stadt zu Stadt zogen Kämpferinnen, Agitatorinnen und weilten nirgends länger als zwei bis drei Monate. überall