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Die Gleichheit

eigentum an den Produktionsmitteln, das einen Abgrund in der christlichen Welt aufreißt, wie es einen Abgrund in der heidnischen Welt des griechisch- römischen Altertums schuf. Hie Ausgebeutete und Beherrschte hie Ausbeutende und Herr­schende, mögen sie einander gegenüberstehen als Sklaven und freie Herren, als Leibeigene und feudale Adlige, als Lohn­arbeiter und Kapitalisten. Das Gewand hat sich geändert, aber noch immer ist es der Arme, der vom Privateigentum ge­freuzigt wird.

Weder der protestantische noch der katholische Bruder" fragt danach, daß diesem Märtyrer ein Heiland geboren und gestorben sein soll. Fest wie je soll er heute an das Marterholz geschlagen bleiben, denn schon kündet sich auf seinen Zügen der bewußte Troß des Empörers, der Gott und den Kaiser lästert". Die Herrschenden zittern vor der Kraft seiner ro­busten Glieder, und das mit Grund. Dieser Schmerzens­mann wird vom Kreuz herabsteigen, weil er des Menschen Sohn und nicht Gottes Sohn ist, nicht ein Idealgebilde, das der Menschheit Phantasie aus inbrünstiger Sehnsucht nach Er­lösung schuf, sondern blutvolle Wirklichkeit. Dieser Messias läßt sich nicht vom Himmel hoch hernieder, und kein Gesang von Engelscharen kündet seine Geburt. Und ob er schon aus niedrigem Stall hervortritt, kommt er mit Schwerterklang. Er spottet der Ketten weltlicher Gewalten, und seine Sinne lassen sich nicht von dem Weihrauch religiöser Legenden be­täuben. Er kämpft und er wird siegen. Die Stunde der Er­propriation der Expropriateure wird das Christfest, die Sonnenwende der befreiten Menschheit sein.

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es ebenso lieblos ist, einem wissensdurstigen armen Kind die Möglichkeit zu versperren, diesen Wissensdurst zu befriedigen, wie es lieblos ist, ein schwachbegabtes Kind reicher Eltern zu zwingen, seinen Kopf mit Wissen zu füllen, das dieser nicht verarbeiten kann. Wir haben früher schon darauf hingewiesen, daß die allgemeine Elementarschule eine Stufe auf dem Weg zur Einheitsschule bildet. Hier müssen wir hinzufügen, daß eine solche Elementarschule nicht bloß die ersten vier Schul­jahre umfassen darf, wenn sie wirklich Gutes leisten soll. Die allgemeine vierklassige Elementarschule ist eine halbe Forde­rung. Ihr steht unsere Forderung gegenüber auf Schaffung einer allgemeinen obligatorischen gemeinsamen Bildungs­grundlage für alle in Gestalt einer Elementarschule bis zum vierzeh..ten Lebensjahr.

Wir sind uns klar darüber, daß der unvermittelte über­gang von der Zeit des Spielens in den Zwang des Lernens, von der ungebundenen Freiheit in den Schuldrill äußerst un­vorteilhaft auf die Gesundheit der Kinder einwirkt. Als Vor­bereitung und übergang zur eigentlichen Schule fordern wir deshalb den obligatorischen Kindergarten. Schon Pestalozzi sprach sich gegen den unvermittelten übergang von der Zeit des Spielens in den Klassenzwang aus: Man läßt die Kin­der bis zum fünften Jahre in vollem Genuß der Natur, man läßt jeden Eindruck derselben auf sie wirken, sie fühlen ihre Kraft, sie sind schon weit im sinnlichen Genuß ihrer Zwang­losigkeit..., und nun, nachdem sie also fünf Jahre diese Selig­feit genossen, macht man auf einmal die ganze Natur um fie her vor ihren Augen verschwinden, stellt den reizvollen Gang ihrer Zwangslosigkeit mit ihrer Freiheit tyrannisch still und wirft sie wie Schafe in ganze Haufen zusammengedrängt in

Die Tätigkeit der Frau in der Gemeinde. eine dumpfe Stube, fettet sie stunden-, tage- und jahrelang

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Von Anna Blos . XI.

Die Frau in der Schulbehörde: Die Einheitsschule. Kindergärten. Gemeinschaftliche Erziehung der Geschlechter.

Unter dem Einfluß von Kirche und Klassenstaat mußte sich die Volksschule zu dem entwickeln, was sie heute ist, nämlich zur Klassenschule, zur Schule der Armen. Pestalozzi hat das Bildungswesen seiner Zeit mit einem großen Hause ver­glichen, dessen oberstes Stockwerk zwar in hoher vollendeter Kunst strahlt, aber nur von wenigen Menschen bewohnt ist; in dem mittleren wohnen schon mehrere, aber es mangelt ihnen an Treppen, auf denen sie auf eine menschliche Weise in das obere aufsteigen können; im untersten Stock wohnt eine zahllose Menschenherde, die für Sonnenschein und ge­sunde Luft mit den oberen zwar das gleiche Recht hat, aber sie wird nicht nur im ekelhaften Dunkel fensterloser Löcher sich selbst überlassen, sondern man macht ihr durch Binden und Blendwerke die Augen sogar zum Hinaufguden untauglich." Diese Schilderung trifft leider auch noch auf das Schulwesen von heute zu. Denn die bürgerliche Gesellschaft baut sich auf dem Klassengegensatz auf zwischen Ausbeutenden und Aus­gebeuteten. Und dieser Gegensatz tritt uns auch im Schul­und Bildungswesen deutlich genug vor Augen.

Die Sozialdemokratie als Gegnerin des Klassenstaats und der Klassenherrschaft ist naturgemäß auch die Gegnerin der Klassenschule. An ihre Stelle will sie die Einheitsschule sezen, die allen Schülern ohne Unterschied des Herkommens, des Geschlechtes und der Konfession eine einheitlich- gleichmäßige Vorbildung gibt. Die Einheitsschule soll der große und breite Unterbau sein, der jedem einzelnen die Gelegenheit und Mög­lichkeit bietet, entsprechend seinen besonderen Anlagen und Wünschen zu höherer Bildung emporzuſteigen. Natürlich wird nicht angenommen, daß jedes Kind die höchste Entwicklungs­stufe erreichen wird, aber es soll jedem Kind der Weg dazu offen stehen. Alle sollen darum den gleichen Anspruch auf Bil­dungsmittel und Bildungsgelegenheiten haben, auf Verständ­nis, Sorgfalt, Liebe und Kosten, die für die Entwicklung der natürlichen Gaben verwendet werden. Wir betonen dabei, daß

unerbittlich an das Anschauen elender, reizloser, einförmiger Buchstaben und an einen mit ihrem vorigen Zustand zum Rasendwerden abstechenden Gang des Lebens."

Der Spieltrieb, der in jedem Rinde wurzelt und der eigent­lich schon Arbeitstrieb ist, könnte in den Kindergärten in ge­regelte Bahnen geleitet werden. Der Beschäftigung der Kinder liegt der Anschauungsunterricht zugrunde, und zwar ein An­schauungsunterricht, der den Schaffenstrieb weckt. Fröbel, der vielfach mißverstandene Gründer der Kindergärten, schrieb: ,, Wer recht anschaut, wer recht angeschaut hat, wer recht sich versenkt hat in die Natur und sie ganz in sich aufgenommen hat, den drängt es, das Angeschaute wieder von sich zu geben, nachdem er es mit seinem Fleisch und Blut durchsättigt und durchtränkt hat: der Schaffenstrieb stellt sich ein. Und dieser Trieb muß von Anfang an als schöpferisches Wesen betrachtet werden." Schon die Kleinen kann man durch Geschichten­erzählen, durch ungezwungene Zwiegespräche fesseln und be­lehren. Aber man muß dabei versuchen, von dem Gesichtskreis und dem Verständnis der Kinder auszugehen und sich ihm in der Ausdrucksweise anzupassen. Wir haben einen modernen Pädagogen, Berthold Otto in Lichterfelde bei Berlin , der dies Bestreben die Altersmundart nennt. Man muß die Kinder nur fragen lassen, und man wird erstaunt sein, wie wiß­begierig sie sind, welch tiefen Sinn ihre Fragen oft haben. ,, Die kindliche Frage ist des Kindes natürliches Lernmittel," erklärt Peter Schmittler in der Schrift: Solf mein Sohn Lehrer werden?" Das ist im Kindergarten zu beachten. Hier müssen die Kinder möglichst viel ins Freie geführt werden, sie müssen im Turnen und in Bewegungsspielen ihre jungen Glieder regen können. Der Übergang aus diesen obligato­rischen Kindergärten in die eigentliche Schule darf nicht von einer vorgeschriebenen Altersgrenze abhängig sein. Er soll vielmehr entsprechend dem Wachstum der körperlichen und geistigen Entwicklung der Kinder von Schularzt und Lehrern bestimmt werden.

Grundbedingung für die Einheitsschule sind natürlich kleine Klassen und gut vorbereitete Lehrkräfte. In der Einheitsschule sollen Knaben und Mädchen nicht nur die gleiche Ausbildung erhalten, sondern gemeinsam unterrichtet werden. Wir legen großen Wert auf die gemeinsame Erziehung der Geschlechter,