Nr. 8

Die Gleichheit

zupassen." Die Regierung hat sich bei dieser Äußerung in der Hauptsache wohl auf eine Eingabe des Zentralverban­des der Handlungsgehilfen gestützt. Sie stammt aus dem Jahre 1909 und enthält die Feststellung, daß sich 535 Gewerkschaftskartelle im Namen von etwa 1/2 Millionen Arbeitern für die völlige Sonntagsruhe im Handelsgewerbe ausgesprochen haben( mit Ausnahme einer zweistündigen Verkaufszeit am Vormittag für den Kleinhandel von Milch, Backwaren, Fleisch und Eis). Der Begründung des Entwurfs ist ein Gutachten des Kaiserlichen Gesundheitsamts beige­geben über den gesundheitlichen Einfluß der Beschäftigung der Kontorangestellten. Zwingend wird darin nachgewiesen, daß die Sonntagsruhe nur dann einen wirklichen Wert hat, wenn sie eine volle ist. Es heißt in dem Gutachten wörtlich: Eine auch nur durch eine kurze Arbeitszeit in zwei Stücke getrennte Ruhezeit befigt für geistig überanstrengte, nervöse Personen nicht entfernt den gleichen Erholungswert wie ein gleicher zusammenhängender Zeitraum." Was für die Kontoristen gilt, trifft doch fast noch in höherem Maße für die Verkäufe­rinnen zu, die größtenteils in jugendlichem Alter stehen. Diese weiblichen Angestellten haben wochentägliche Arbeitszeiten, die in der Regel bedeutend länger sind als die der Kontoristen und die der meisten gewerblichen Lohnarbeiter. Wer sich schon einmal in einem Warenhaus umgesehen hat, der wird wissen, welchen ungünstigen Einflüssen die Gesundheit der Verkäufe­rinnen standhalten soll. In zugigen, mit schlechter Luft an­gefüllten Räumen müssen die jungen Mädchen von früh bis abends herumlaufen, bald hier, bald dort bedienen usw. Zei gen nun die Bestimmungen des Gesezentwurfes tatsächlich Verständnis der Regierung für die Bedürfnisse der Handels­angestellten? Sehen wir zu.

Entsprechend dem Gutachten des Kaiserlichen Gesundheits­amtes sieht der Entwurf für Kontore die völlige Soun­tagsruhe vor. Aber die Regierung fann nie die Ausbeutungs­macht des kapitalistischen Unternehmertums beschränken, ohne ihr sofort die Pforten von Ausnahmebestimmungen zu öffnen. Den Gemeinden soll das Recht zugestanden werden, eine zwei stündige Arbeitszeit und für einige Gewerbe sogar eine solche von fünf Stunden zuzulassen. Wie aber, wenn eine Gemeinde so vernünftig ist und entgegen den Wünschen von Handelskapitalisten von diesem Recht feinen Gebrauch macht? Dann hat die höhere Verwaltungsbehörde die Befugnis, dem Willen der Gemeinde zuwider eine Ar­beitszeit in den angegebenen Grenzen für Kontore zu ge­statten. Außerdem soll die höhere Verwaltungsbehörde noch an je sechs Sonntagen eine Arbeitszeit bis zu vier Stunden erlauben dürfen.

Für offene Verkaufsstellen soll die Verkaufszeit an den Sonn- und Feiertagen um ganze zwei Stunden ein­geschränkt werden, statt fünf, nur" drei Stunden betragen. Für Orte, in denen die Bevölkerung aus der Umgegend au Sonn- und Festtagen kauft, kann die höhere Verwaltungs­behörde sogar eine vierstündige Verkaufszeit zulassen. Nach dem Gesetzentwurf soll ferner die Polizeibehörde die Genehmigung zu sechs, unter Umständen sogar zu zehn Aus­nahmetagen erteilen fönnen, an denen die Arbeitszeit zehn Stunden betragen darf. Was will es angesichts dieser Aus­nahmen bedeuten, daß den Gemeinden das Recht gelassen werden soll, durch Ortsstatut die Arbeit an den Sonn- und Festtagen entweder gänzlich zu untersagen oder doch weiter einzuschränken? Die Polizeibehörde ist ja in der Lage, für den fünften Teil aller Sonntage im Jahre das Ortsstatut außer Kraft zu setzen! Die Befugnisse der oberen Verwal­tungsbehörden gehen übrigens noch weiter, als wie oben an­gegeben worden ist. Nach§ 7 des Gesetzentwurfes haben sie das Recht, nahezu alle Bestimmungen über die Sonntags­ruhe im Handelsgewerbe außer Kraft zu setzen.

Der Grundsaß, daß die weiblichen Erwerbstätigen beson­deren Schutzes bedürfen, wird in dem Entwurf in sein Gegenteil verkehrt. Den an sich günstiger gestellten Kontor­angestellten soll eine weitergehende Sonntagsruhe zuteil

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werden als den vielen Tausenden von Verkäuferinnen. Na­türlich sind wir nicht etwa der Ansicht, daß der Entwurf den in Kontoren Angestellten eine zu weitgehende Sonntags­ruhe beschere. Im Gegenteil! Die Ausnahmebestimmungen müßten fallen, die auch für sie Sonntagsarbeit zulassen wollen. Wir erheben aber energisch Widerspruch dagegen, daß die Sonn- und Festtagsruhe der Angestellten in offenen Verkaufsstellen so viel farger bemessen sein soll. Auch sie müßte eine völlige sein. Und was soll man dazu sagen, daß die kurze Sklavenraft" um mit Freiligrath zu reden­geradezu entwertet werden kann? Der Entwurf will es zu­lassen, daß die Verkaufszeit nach wie vor auf alle Teile des Sonntags auf morgens, nachmittags und abends- ver­zettelt werden kann. Ist das nicht ein Hohn auf die Begrün­dung, die die Regierung dem Entwurf selbst mit auf den Weg gegeben hat!

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Erfreulicherweise haben die Handlungsgehilfen und Han­delshilfsarbeiter bereits begonnen, sich fräftig zu regen. Int Berlin haben sie, um ihre Interessen zu wahren, in drei großen Versammlungen gegen das mangelhafte Stückwerk des Gesezentwurfes protestiert und erneut die Forderung nach völliger Sonntagsruhe erhoben. Je berechtigter diese Forderung ist, um so schärferen Widerspruch fordert die lendenlahme Haltung des Kaufmännischen Ber­bandes für weibliche Angestellte heraus. In seinem Organ behandelt er den Entwurf der Regierung. Der Aufsatz zählt alle winzigen Fortschritte auf, die der Ent­wurf bringt, wendet sich aber nicht mit der nötigen Schärfe gegen dessen offenbaren großen Mängel. So täuscht er mehr, als daß er aufklärt und zum Kampfe für die volle Sonn­tagsruhe treibt. An der Schwächlichkeit der Stellungnahme ändert es wirklich nichts, wenn schüchtern der Satz gestam­melt wird: Biel bleibt die vollständige Sonntagsruhe." Es zeigt sich immer aufs neue, daß die Harmonieorganisa­tionen ein sehr warmes Herz haben für- die Unternehmer. Die Genossinnen müssen in dem Kampfe um einen drin­genden sozialpolitischen Fortschritt ihre Arbeitsschwestern im Handelsgewerbe auf das nachdrücklichste unterstützen. überall, wo sich öffentliche Versammlungen mit der Sonntagsruhe der Handelsangestellten befassen, sollten sie wie in Berlin erklären, daß sie völlige Sonntagsruhe für alle Lohnarbei. tenden erstreben und gern bereit sind, auf Einkäufe am Sonntag zu verzichten. Und die Praxis sollte beweisen, wie ernst es ihnen mit dem Gelöbnis ist. F. Oh Ihof, Berlin .

Swei amerikanische Bergarbeiter- Engel".

I. Mutter Jones.

Mutter Jones, die nun 76jährige sozialistische Agitatorin, fämpft mit jugendlicher Begeisterung wie vor vierzig Jahren, um die Lage der amerikanischen Grubenarbeiter zu verbes­sern. Anfang November letzten Jahres erschien sie in der Sit­zung der Zentralförperschaft der New Yorker Gewerkschaften. Sie schilderte dort, wie es um das Los der Miners"-Berg­arbeiter im Westen der Vereinigten Staaten bestellt ist. Kaum daß Mutter Jones aus der monatelangen Unter­suchungshaft in West Virginia entlassen worden war, hatte sie sich in Kolorado als Agitatorin betätigt. Hinter ihr lag wieder eine sehr bewegte Zeit.

1912 hatte der große Streik der Kohlengräber in West­Virginia ihr Gelegenheit gegeben, für Ausgebeutete und Enterbte zu wirken. Und wie zu wirken! So selbstvergessen, so aufopfernd, wie man es von Mutter Jones seit Jahrzehn­ten gewöhnt ist. Sie agitierte, um die aufzurütteln, die noch schliefen, sie organisierte, um durch die Vereinigung die Kraft derer zu erhöhen, die erwacht waren. Mit ihreni starken Glau­ben an das Menschentum der Ärmsten und Elendesten belebte sie den Mut der Verzagenden. Sie teilte von ihrer beschei­denen Habe den Hungernden mit und litt mit den Darbenden. Kurz im Kampfe für das Recht der Ausgebeuteten gegen die