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Die Gleichheit

mörderische Gewalt ihrer gefühl- und gewissenlosen Aus­beuter wurde wieder einmal offenbar, wie unversiegbar der Schatz reiner Menschenliebe ist, der in Mutter Jones' Seele liegt, wie unbeugsam aber auch das Gerechtigkeitsempfinden und die Willensfraft dieser seltenen Frau sind. War es da ein Wunder, daß die streikenden Grubensklaven mit leidenschaft licher Verehrung Mutter Jones anhingen? Das United Mine Workers' Journal"( Journal der vereinigten Berg­arbeiter) brachte am 29. Dezember 1912 einen Artikel über den Kampf im Staate West- Virginia  . Er trug den bezeichnenden Titel: The Angel of the Miners"( Der Engel der Gruben­arbeiter). Dort hieß es: Mutter Jones hielt am 22. ds. Mts. in Holly Grove eine große Versammlung ab. Es ist rührend, mit welcher Liebe die versklavten Kohlengräber unserer ehr­würdigen greifen Kämpferin zugetan sind. Diese bedauerns­werten Menschen sind so oft von falschen Freunden im Stich gelassen worden, daß sie neuen Freunden nicht mehr viel trauen; aber Mutter Jones ist altbewährt und erprobt, ihr bertrauen sie. Wenn sie rät: Leute, haltet aus, dann be­kommen die Schwachgewordenen wieder Mut."

So war Mutter Jones in West- Virginia   eine moralische Macht in dem ungleichen Ringen der Kohlengräber wider ihre Beiniger. Dafür mußte sie büßen. Die Grubengewaltigen sind in West- Virginia   die Kommandierenden im Staat. Die Behörden fackelten nicht lange, die Aufwieglerin" unschäd­lich zu machen. Bald nach der erwähnten Versammlung, im Anfang des Jahres 1913, verhängten sie den Belagerungs­zustand über das Streikgebiet. Mutter Jones und andere wurden nun wegen Aufreizung zum Aufruhr" verhaftet. Lag auch nur ein einziges Vergehen gegen Gesetz und Ord­nung" vor? Mit nichten. Der bekannte sozialistische Führer Debs traf ins Schwarze, als er schrieb: Mutter Jones hat allerdings ein schweres Verbrechen begangen; im Verein mit anderen hat sie unermüdlich die Kohlengräber im Streif­bezirk organisiert, um sie widerstandsfähig zu machen; das schlimmste, was man den Kohlenmagnaten antun konnte." Die Greisin wurde wie ein Dieb in der Nacht gefangen genommen und nach Prath   geschleppt, wo man sie in das provisorische Militärgefängnis warf. Noch nach Monaten wußte sie nicht einmal, welcher Untat sie offiziell angeklagt werden sollte. Mit Recht erklärte Anfang Mai das sozia­listische Philadelphia Tagblatt":" Selbst in Rußland   kann es nicht russischer zugehen als in dem Staate West- Virginia  , wo sich die Bergleute seit Monaten im Streik befinden, um ihre elende Lage wenigstens um ein klein wenig zu ver­bessern." Der Gouverneur des Staates, Hatfield hieß dieser Scherge der Grubenbesizer, führte den Belagerungszustand im Streifgebiet mit brutaler Strenge durch. Ihm dünkte sogar die Aufhegerin" hinter Schloß und Riegel noch ge­fährlich. Er wäre sie gern auf eine Weise losgeworden, bei der die gesetzbrecherischen Behörden das Gesicht gewahrt" hätten. Deshalb ließ er Mutter Jones mitteilen, daß er ge­willt sei, sie auf freien Fuß zu setzen, jedoch nur unter einer Bedingung: sie sollte sich verpflichten, sofort nach Ohio   zu gehen und im Staate West- Virginia   keine Reden mehr zu halten. Mutter Jones wies das Anerbieten mit Entrüstung zurück und erklärte:

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Holt eure Gewehre herbei, stellt mich gegen jenen Baum da draußen vor dieser Bastille und macht mich zur Zielscheibe eurer mörderischen Kugeln das könnt ihr meinetwegen tun, ehe ich mein Recht aufgebe, in diesem Staate zu ver­weilen, solange es mir beliebt. Auch werde ich nicht auf mein Recht der freien Rede verzichten, ebensowenig auf das Recht, durch eine Geschworenenjury prozessiert zu werden. Diese Rechte werde ich keinem Menschen ausliefern, einerlei, ob er Präsident, Gouverneur oder Richter sei. Gegen solche Hand­lungsweise werde ich bis zu meinem letzten Atemzug prote­stieren.

Mein Haar ist weiß und mein Auge wird schwach mit dem hohen Alter, aber mein Herz schlägt warm und wahr für eine große und gerechte Sache, für die Sache der Arbeit, der Frei­

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heit und Gerechtigkeit. Ich weiß, daß die Machthaber es auf mich abgesehen haben, denn ich erhob mich vor dem Kriegs­und Militärgericht und protestierte dagegen, daß dieses Ge­richt sich das Recht anmaße, über mich zu richten. Ich sagte den Mitgliedern des Kriegsgerichts, daß mein Fall nicht vor ihren Gerichtshof, sondern vor ein Zivilgericht gehöre, da ich verhaftet wurde, wo die Zivilgerichte in Sigung waren. Ich wurde gewaltsam entführt und dem Militärgericht übergeben. Meine Verhaftung geschah außerhalb der Zone des militä­rischen Belagerungsgebiets. Ich werde dieser Gewaltherrschaft trogen bis an mein Lebensende. Die amerikanische   Republik  hat längst aufgehört, eine Republik   zu sein. Wir haben heute eine Oligarchie der großen Geldsackinteressen."

Die Behörden von West- Virginia   mochten wohl fühlen, mit welcher untilgbaren Schmach sie sich bedeckten, indem sie Mut­ter Jones wider Recht und Gesetz in Gefangenschaft hielten. Sie telegraphierten in die Welt hinaus, die Freilassung der Greisin sei erfolgt. In Wirklichkeit hatte man sie aber in das Gefängnis der Staatshauptstadt übergeführt. Das hatte den einen Vorteil, daß Mutter Jones sich nicht mehr unter der Herrschaft des Belagerungszustandes befand. Nun konnten die Gerichte zu ihrem Schuße angerufen werden. Die monatelange Kerkerhaft mit ihren Härten, mit der ungewissen Antwort auf die Frage: Wie wird das endigen? vermochte nicht den hohen Sinn der betagten Kämpferin zu brechen und Schat­ten über ihren frischen Geist zu werfen. Was Genossin Emma Langdon darüber geschrieben hat, gibt ein so treffliches Bild der Persönlichkeit, daß wir es folgen lassen.

" Ich habe," so erzählt unsere Genossin ,,, von Mutter Jones einen Brief aus dem Militärgefängnis bekommen, in dem sie sich befindet. Ihr Geist ist troß der Gefangenschaft des Körpers in elendem Quartier ungebrochen. Sie verteidigt ihre und ihrer Mitmenschen Rechte und wird nicht aufhören, das zu tun. Was die Grubenbarone gegen diese Heldin so sehr erbittert hat, daß sie von dem ihnen gefügigen Staatswerk­zeug verlangten, die alte Frau einzusperren und anzuklagen, ist die Tatsache, daß von Mutter Jones' Willenskraft ein Strom ausgeht, der ihre Zuhörer erfaßt und mitreißt. Stelle man sich aber ja nicht vor, daß Mutter Jones ein sogenanntes Mannweib" sei. Nichts von alledem; sie ist die verkörperte weibliche Güte, hilfreich mit ihrem wenigen Gelde wie mit ihrem starken Willen und Geist, wo nur immer sie kann, aber von einem unversöhnlichen Groll gegen die Unterdrücker der Armen und Hilflosen. In der Gegend, wo der Staat jetzt un­jere Mutter Jones als Gefangene unter Militärherrschaft im Gefängnis hält, habe ich sie vor 35 Jahren schon auf dem Kampfplatz der Arbeit gesehen; jeẞt, bei ihren 76 Jahren, schlägt ihr Herz noch so warm für die Ideale der Menschheit wie zu jener Zeit ihrer vollsten körperlichen Rüstigkeit. Vor etwa 6 Jahren war ich einmal zugegen, wie ein sogenannter Intellektueller" in der Arbeiterbewegung über Mutter Jones. ärgerlich sich äußerte: Sie ist nicht wissenschaftlich geschult." Zugegeben. Aber um zu helfen, wenn sie die Kinder der Armen weinen sieht und die Klage hört: Ich habe Hunger", dazu bedarf es nicht ,, Wissenschaftlichkeit". Und wenn Mutter Jones Zeuge ist, wie die Frauen und Kinder der Streifenden aus den Mietkasernen der Grubengesellschaften von Milizsoldaten in der Rolle von Bütteln auf die Straße gesetzt werden; wenn sie Zeuge ist, wie die Männer der Arbeit von den Söldlingen der Kohlenbarone unter Billigung der Staatsgewalt ange­schossen und getötet werden: versteht sie es, auch ohne Wis­senschaftlichkeit" den Frauen wie den Männern das Warum flarzumachen. Sie kann das um so mehr, als die Missetaten der Herrschenden gegen die Arbeiter auch nichts mit Wissen­schaft" zu tun haben. Seit 40 Jahren steht Mutter Jones auf Vorposten. Ihre Tätigkeit erstreckt sich über ein sehr weites Gebiet. Mutter Jones besitzt noch immer die Kraft, die Her­zen der Proletarier zu bewegen, wie der Sturmgott den Ozean aufpeitscht. In der Arbeiterpresse wird sie seit langem der Engel der Kohlengräber" genannt. Mutter Jones ist mehr als das: Zuflucht und Erhebung der Arbeiter. Ihr Mut

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