Nr. 22

Die Gleichheit

nicht genug Kräfte dafür haben können und daß den verschie densten und auch den bescheidensten Begabungen Spielraum gelassen ist.

Unsere Tätigkeit darf nicht die Arbeit der Schule beein­trächtigen. Sie soll kein Ersatz für die Schule sein, sondern eine Ergänzung. Der Kapitalismus zerstört erbarmungslos die Familie, er reißt Vater und Mutter von ihren Lieblingen, die Kinder von ihren Eltern. Wenn wir den Proletarier­findern das Leben in der Einzelfamilie auch nicht zurückgeben fönnen, so wollen wir ihnen doch einen Ersaz bieten: wir wollen sie in die große Familie der Arbeiterklasse einführen, an deren Freuden sollen sie heute teilnehmen, damit sie Später auch ihre Leiden begreifen und ihre Kämpfe teilen können.

Das Frauenwahlrecht

e. p.

und der Niederrheinische Parteitag. Die Berichte über die Tagungen unserer Partei werden zu dem Zwecke veröffentlicht, daß die Parteigenossen Kenntnis von den Verhandlungen und Beschlüssen erlangen und Stritit daran üben können, wenn sie solche für nötig halten. Von diesem Rechte zur Kritik, das zugleich eine Pflicht ist, muß einem Antrag gegenüber Gebrauch gemacht werden, den der letzte Niederrheinische Parteitag in Elberfeld   angenommen hat. Der Antrag lautet:

" Der sozialdemokratische Parteitag für den Niederrhein   er­wartet von der preußischen Landeskonferenz eine umfassende großzügige Agitation im preußischen Wahlrechtstampf und zur Belebung dieses Stampfes auch eine Agitation in Gestalt einer Petition an den Landtag, in der das von der un­geheuren Mehrheit des preußischen Volkes als Mindestforde rung anerkannte Reichstagswahlrecht verlangt wird, um durch persönliche Mitarbeit jedem einzelnen Gelegenheit zu geben, den Gedanken des Wahlrechtskampfes in die indifferenten Massen zu tragen und durch Veröffentlichung einer impo­nierenden Unterschriftenzahl den geseggebenden Faktoren die volkstümliche Macht, die das allgemeine, gleiche und ge­heime Wahlrecht verkörpert, zum Bewußtsein zu bringen." Von diesem Antrag sagte Genosse Obuch, der ihn gestellt und begründet hat, daß seine Durchführung außerordentliche agitatorische Wirkungen in sich berge. Da sie in der Tat ganz außerordentliche Wirkungen haben würde, so ist es notwendig, daß die Parteigenossen und namentlich die Genossinnen sich den Antrag genau ansehen.

Bisher erhob die Sozialdemokratie im preußischen Wahlrechts­kampf die Forderung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für alle in Preußen woh­nenden Deutschen   über 20 Jahre ohne Unterschied des Geschlechts. Der Antrag Obuch läßt diese Forderung fallen und begnügt sich damit, das Reichstagswahlrecht für Preußen zu fordern, ein Wahlrecht, das nur Männer über 25 Jahre ausüben dürfen. Die Forderung des Wahlrechts für die Frauen und für das große Heer derer zwischen 20 und 25 Jahren wird damit aus dem Wahlrechtskampf ausgeschieden. Der Antrag und seine Begründung bedeuten eine Revision des Erfurter   Programms der Partei, das fordert:

Allgemeines, gleiches, direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer Stimumabgabe aller über 20 Jahre alten Reichs­angehörigen ohne Unterschied des Geschlechts für alle Wahlen und Abstimmungen. Proportionalwahlsystem.... Auf­hebung jeder Beschränkung politischer Rechte außer im Falle der Entmündigung.

Abschaffung aller Geseze, welche die Frau in öffentlich- und privatrechtlicher Beziehung gegenüber dem Manne benach­teiligen."

Das Programm erklärt außerdem: Die sozialdemokratische Partei Deutschlands   kämpft nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassenherr schaft und für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller

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ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung. Von diesen Anschauungen ausgehend, bekämpft sie in der heu­tigen Gesellschaft nicht bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse."

Der vom Niederrheinischen   Parteitag angenommene Antrag verstößt aber nicht nur gegen diese Säge des Parteiprogramms, sondern auch gegen einen Beschluß der Internationale, der auf dem Internationalen Sozialistischen Kongreß in Stutt­ gart   1907 gefaßt worden ist. Er befagt, daß

,, die sozialdemokratischen Parteien aller Länder verpflichtet sind, für die Einführung des allgemeinen Frauen­wahlrechts energisch zu kämpfen. Daher sind insbesondere auch ihre Kämpfe für Demokratisierung des Wahl­rechts zu den geseßgebenden Körperschaften in Staat und Gemeinde zugunsten des Proletariats als Kämpfe für das Frauenwahlrecht zu führen, das energisch zu fordern und in der Agitation wie im Parlament mit Nachdruck zu ver­treten ist.... Pflicht der sozialistischen   Frauenbewegung in allen Ländern ist es, sich an allen Stämpfen, welche die sozia­ listischen   Parteien für die Demokratisierung des Wahlrechts führen, mit höchster Kraftentfaltung zu beteiligen, aber auch mit der nämlichen Energie dafür zu wirken, daß in diesen Kämpfen die Forderung des allgemeinen Frauen­wahlrechts nach ihrer grundsäglichen Wichtigkeit und praktischen Tragweite ernstlich verfochten wird. Der Internationale Kongreß erkennt an, daß es nicht angebracht ist, für jedes Land die genaue Zeit anzugeben, wo ein Wahl­rechtskampf anzufangen sei, erklärt jedoch, daß, wenn ein Kampf für das Wahlrecht geführt wird, er nur nach den sozialistischen   Prinzipien geführt werden soll, also mit der Forderung des allgemeinen Wahlrechts für Frauen und Männer."

Genosse Adler- Wien hatte in der Kommission eine Ein­fügung beantragt, wonach es den Organisationen der ein­zelnen Länder überlassen bleiben müsse, den Augenblick und die Methode zu bestimmen, in dem sie für das Frauenivahl­recht eintreten. Diese Einfügung ist abgelehnt worden. Dem­entsprechend haben die sozialdemokratischen Parteitage für Preußen keinen Zweifel darüber gelassen, daß der Wahlrechts­kampf auch als Kampf für das Frauenwahlrecht zu führen sei.

Frisch, fromm, fröhlich, frei seßt sich der Antrag Obuch über Programmsäge und Kongreßbeschlüsse hinweg. Er kehrt sich auch nicht an die ganze bisherige Agitation der Partei und ihrer Presse für das allgemeine Frauenwahlrecht, nicht an die jährlichen internationalen Frauentage, auf denen ebenso wie in den Tausenden von Frauenversammlungen der Partei unter den Proletarierinnen für die Sozialdemokratie mit dem Hin­weis geworben wird, daß sie die einzige Partei ist, die für die Aufhebung aller wirtschaftlichen und politischen Unter­drückung fämpft, möge sie Frauen oder Männer treffen, daß sie also auch die einzige konfequente Verfechterin des Frauen­wahlrechts sei.

Welche Gründe haben die Antragsteller bewogen, eine so außerordentliche Änderung unserer grundsäglichen und takti­schen Haltung vorzuschlagen? Wahrlich, man muß darüber staunen! Um recht viele Indifferente zur Unterzeichnung einer nichtsozialdemokratischen Forderung zu bestimmen, um Zen­trumsanhänger dazu zu bewegen, sich für eine Forderung ihrer eigenen Partei zu erklären. Um das zu erreichen, sollen wir darauf verzichten, Forderungen unseres Programms zu vertreten, sollen wir nicht von dem Recht der sozialdemokra­tischen Frauen und der sich zu uns bekennenden jungen Leute zwischen 20 und 25 Jahren reden, die beide sich bisher nicht minder als die erwachsenen Männer am Wahlrechtskampf be­teiligt haben. Genosse Dbuch begründete die Ausschaltung des Frauenivahlrechts damit zu der Ausschaltung der Forde­rung auf Herabsetzung des wahlfähigen Alters sprach er über­haupt nicht, der Wahlrechtskampf habe sich praktisch dahin zugespigt, daß sämtliche bürgerlichen Parteien sich vorläufig

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