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Die Gleichheit

Tummeln und Spielen in der Natur von großer Bedeutung. Sie kommen nicht in Ferienkolonien und bleiben den Fährlichkeiten der Straße überlassen.

Dieser Sachverhalt veranlaßte vor 8 Jahren die Genossinnen in Schöneberg  , Ferienausflüge für Arbeiterkinder zu veranstal ten. Im ersten Jahr fuhren einige Genossinnen mehrmals wöchent lich mit 70 bis 80 Kindern nach Eichkamp, zum Spiel im schönen Walde. In den darauffolgenden Jahren ging es täglich mittags mit der Straßenbahn nach dem Grunewald   und abends 8 Uhr wieder nach Hause. Jedes Jahr nahm die Zahl der sich beteiligen­den Kinder zu, so daß mit Recht von unserer Ferienkolonie" ge= sprochen wurde. In den ersten Jahren genügten drei Trambahn­wagen für unsere Ausflügler, doch der Andrang von Teilnehmern war so groß, daß wir in den letzten Jahren sieben Wagen be­nötigten, wenngleich wir sehr viele Kinder zurückweisen mußten, die sich erst nach dem bestimmten Termin meldeten. Wir waren gezwungen, mit den Mitteln zu rechnen, die uns zur Verfügung standen. Wohl hat uns die Gemeinde auf Anregung unserer Ver­treter im Stadtparlament vor sechs Jahren 800 Mt. Beihilfe zu den Ausflügen bewilligt, und dieser Betrag ist von Jahr zu Jahr erhöht worden, 1913 standen uns 2300 Mt. zur Verfügung. Von dem Beitrag der Gemeinde werden aber lediglich die Fahrkosten gedeckt. Auf Listen sammeln wir die Mittel für die übrigen Aus­gaben, für Milch usw., die wöchentlich ungefähr 250 Mt. ausmachen. Da wir Kinder vom dritten Jahre an mitnehmen, ist eine sehr ge­wissenhafte Aufsicht notwendig. Um die Zahl der täglichen Aus­flügler festzustellen, wird für jeden Wagen eine genaue Präsenz­liste geführt, die Namen, Alter und Wohnung der Kinder enthält. So gibt es genug für die 25 bis 30 Genossinnen zu tun, die in den letzten Jahren das opferreiche Amt übernommen haben, täglich mit den Kindern in den Grunewald zu fahren. Es ist keine leichte Auf­gabe, sich fünf Wochen lang tagtäglich unserer Ferienkolonie" zu widmen. Daneben haben unsere Genossinnen noch ihre Erwerbs­arbeit und die häuslichen Verrichtungen. Aber die freudig glän zenden Augen der Kinder sind ein herrlicher Dank für alle Mühen und Beschwerden. Das Auf Wiedersehen im nächsten Jahre" kommt aus frohem Herzen. Wenn man sieht, mit welcher Freude die Kinder spielen, wie ihre Wangen sich röten, die Augen leuchten, so bedauert man von Herzen, daß nicht alle Kinder des arbeitenden Volkes an den Ausflügen telnehmen können. Traurig weist man die sich zu spät Meldenden ab, weil Platz und Geld nicht für alle reicht.

Nun einiges über unsere Ferienkolonie" selbst. Sind wir mit­tags an der Endstation angekommen, so erhält jedes Kind ein Glas Milch, und dann geht es mit hellem Sang hinein in den Wald zu fröhlichem Spiel. Nur wenn es gewünscht wird, beteiligen sich die Genossinnen daran. Eine sehr beliebte Unterhaltung ist das Woh­nungbauen". Die Kinder tragen Erde und Moos zusammen, bauen daraus ein Viereck und teilen es in Wohn-, Schlafstube und Küche, manchmal ist auch ein Salon" dabei. Kunstgerecht werden Sofa, Tisch und Sessel plaziert. Andere vergnügen sich an Reigen oder spielen Ball, auch das Tauziehen ist bei Knaben und Mädchen be­liebt. Hier hat sich eine Turnabteilung gebildet, dort wird ge­sungen, andere haben Musikinstrumente mitgebracht und geben ein Konzert. Auch Theater wird gespielt, freilich geht es dabei ganz primitiv zu. Jeder trägt vor, was ihm gerade einfällt. Geschichten werden erzählt, heitere Gedichte deklamiert, meist aus der Kinder­beilage der Gleichheit". Nachmittags erhalten die Kinder Kakao oder Kaffee mit Butterschnitten. Wenn abends die Glocke an den Aufbruch mahnt, so ist es den meisten Kindern noch viel zu früh, fie behaupten jedesmal, sie wären kaum angekommen. Mit Sang und Klang geht es heimwärts. Da beim Spiel, beim Laufen und Jagen im Walde ein Kind fallen oder über eine Baumwurzel stol­pern kann, fehlt der Verbandskasten nicht. Hilfsbereit sorgt für fachgemäße Behandlung eine Genossin, die an einem Kursus der Arbeitersamariter teilgenommen hat. Auch heuer wieder werden fich proletarische Kinder bei unseren Ausflügen erholen können. Bedauerlich, daß es nur Hunderte von den Tausenden sind, denen fröhliches Spiel im Freien Körper und Geist stärken sollte. Wollte man alle Kinder erfassen, denen wirkliche Ferien not tun, so müß­ten ganz andere Mittel aufgewendet werden als die bescheidenen Summen, mit denen wir hauszuhalten haben. Immerhin zeigen unsere Veranstaltungen, was auf dem Gebiet der Kinderfürsorge von der Gesellschaft geschehen müßte und was bei einigermaßen gutem Willen sofort in der Praxis durchführbar wäre. Möchte dieser Bericht die Genossinnen anderer Orte anregen, ähnliche Einrichtungen zu schaffen, um den proletarischen Kindern etwas Ferienfreude zu bieten. Marie Böhm.

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Politische Rundschau.

Nr. 22

Die dummdreiste Unterdrückungspolitik der Reaktion hat in den legten Tagen einen Nackenschlag bekommen, daß ihr Hören und Sehen vergangen ist. Der Militarismus gedachte den Siegeszug von Zabern zu vollenden; nachdem die bürgerliche Opposition zu Kreuze gefrochen war, sollte nunmehr die sozialistische Kritik mit Hilfe der Gerichte erdrosselt werden. Und zwar hatte sich der preußische Kriegs­minister v. Falkenhayn eigens Genossin Luremburg ausersehen, um an ihr ein abschreckendes Exempel zu statuieren. Hatte diese doch, nachdem sie in Frankfurt   zu einem Jahre Gefängnis verurteilt worden war, weil sie am Lebensnerv des Staates" gerührt hatte, sich nicht eingeschüchtert geduckt, sondern vielmehr den frischfröhlichen Kampf gegen Moloch mit verdoppelter Energie fortgesetzt. Sie sollte zur Strecke gebracht werden und mit ihr der sozialistische Kampf gegen den Militarismus überhaupt. Genossin Luxemburg   wurde unter An­flage gestellt, weil sie in einer Rede gesagt hatte: Was auch in Met   passiert ist eins ist klar: es ist eines jener Dramen, die tagaus, tagein in den Kasernen sich abspielen und bei denen das Stöhnen der Gepeinigten nur selten an unser Ohr gelangt." Das ist eine nicht erweislich wahre Tatsache, be­hauptete die Anklage, und es ist also eine schwere Beleidigung des Offiziers und Unteroffiziersforps und sämtlicher Angehöriger des preußischen Heeres. Die Angeklagte erbot sich, den vollen Beweis für ihre Behauptung zu erbringen. Und dieses Beweisangebot war so ungeheuer, so erdrückend, daß es dem Staatsanwalt und dem Kriegsminister schwarz vor den Augen wurde. Die Verteidigung bot über 1000 Zeugen und rund 30000 Fälle allein aus den Kriegs­gerichtsaften der letzten sieben Jahre zum Beweis ihrer Behauptung an. Der Staatsanwalt suchte zunächst jede Beweisaufnahme abzu­schneiden. Das glückte nicht. Da tam ihm der Kriegsminister selbst zu Hilfe. Er reklamierte die Zeugen für seine Kriegsgerichte. Hier läßt sich die Öffentlichkeit ausschließen, und zu ihnen hat er Ver trauen. Jedenfalls waren sie so der Vernehmung vor einem Zivil­gericht entzogen, und darauf tam es dem Kriegsminister an. Er flüchtete Hals über Kopf von dem Schlachtfeld, auf dem er seinem Gegner den Kampf angeboten hatte. Die Verhandlung wurde auf Antrag des Staatsanwaltes gegen den energischen Einspruch der Angeklagten und ihrer Verteidiger vertagt! Die liberale Presse hat mit wenigen Ausnahmen den Prozeß ihren Lesern unterschlagen oder nur verstümmelt vorgeführt. Es wird dem Kriegsminister schwer­lich glücken, den Prozeß wieder aufzunehmen. Er dürfte nun gemerkt haben, daß eine entschlossene sozialistische Kämpferin das Zehnfache an Verteidigungs- und Angriffskraft verstellt, als die sämtlichen Bürger des Zabernreichstags zusammengenommen. Der Ausgang dieses Gefechtes hat dem Kriegsminister derart den Appetit ver­schlagen, daß das Verfahren gegen einen Redakteur des Vorwärts" wegen eines Artifels über Soldatenmißhandlungen eingestellt worden ist. Die Revanche für Zabern beginnt!

Die Reaktion scheint das Wort des Philosophen Hegel wahrmachen zu wollen, das da lautet: Aus der Geschichte lernen wir, daß wir nichts aus der Geschichte lernen. Noch taumelnd von dem betäuben­den Schlag jenes Prozesses, holt sie sogleich zu einem neuen Streich aus. Die Heze der konservativen Presse gegen die bekannte Massen­streifresolution der sozialdemokratischen Organisation von Groß­Berlin hat endlich den Staatsanwalt in Bewegung gesetzt. Er hat dieserhalb gegen Genossin Luxemburg  , gegen Genossen Rosenfeld  und andere Genossen, die die Resolution befürworteten, Untersuchung eingeleitet. Eine Anklage wegen Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Geseze" ist angekündigt. Wir bewundern die Bescheidenheit des Anklägers. Er hat sich mit einer Handvoll von Angeklagten be­gnügt, und er könnte Tausende und aber Tausende haben: denn nach Tausenden zählen die Proletarier, die dieser Massenstreifreso­lution begeistert zustimmen. Will der Herr Staatsanwalt das Tänzchen wagen: wir sind bereit!

Es ist bezeichnend, daß die eingeleitete Untersuchung den vollen Beifall der nationalliberalen Kölnischen Zeitung  " gefunden hat. Und weil's in einem hingeht, schlägt das Blatt gleich ein offenes Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie vor. Unter dem Schild des Gewaltmenschen Bismarck soll sich das Bürgertum gegen die rote Revolution sammeln. Die Zentrumspresse kommt der liberalen entgegen, indem sie die Sammlung im Zeichen des Beschneidens der Parlamentsrechte befürwortet. Die Haushaltsberatung im Reichs­tag, die jetzt alljährlich geschieht, soll nach diesem Vorschlag fünftig nur alle zwei Jahre stattfinden und die Dauer der Beratung ver türzt werden. Die Verfügung und Kontrolle des Parlaments über Ausgaben und Einnahmen der Regierung ist die Grundsäule parla­mentarischer Macht. Sie soll erschüttert werden.

Ein solcher Wunsch ist begreiflich, wo neue militärische und Steuer forderungen vor der Tür stehen. Eine neue Marinevorlage ist