Nr. 4
Die Gleichheit
dens willen sagten wir nichts, auch wenn sie oft in schamloser Weise aus ihrer Vergangenheit erzählte. Wir waren vorsichtig in bezug auf die Benutzung des gemeinsamen Waschbeckens usw. Sie mochte das als peinlich empfinden, und es kam zu einem Bruch, der das ohnehin unerquickliche Zusammenleben fast unerträglich machte. Nach acht Tagen kam sie dann fort, und wir atmeten auf. Diese Stelle aus dem Briefe eines 18jährigen Arbeitsmädchens ist ein Kulturdokument( Sehr wahr! bei den Sozialdemo= fraten), ist ein glänzendes Zeugnis für den hohen sittlichen Wert der proletarischen Bildungsarbeit( lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten), die man jetzt so eifrig verfolgt, aber auch ein Dokument der Schmach und Schande für ein Gewaltsystem, unter dem die sittlichen Empfindungen junger Mädchen derart mit Füßen getreten werden.( Erneute lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Die fittliche Gefährdung solcher jungen Mädchen besteht dort auch bei der Einzelhaft, denn die räumlichen Verhältnisse zwingen die Häftlinge, durch die Fenster Ohrenzeugen der von den Strafgefangenen geführten Gespräche zu sein.( Hört, hört!) Darüber schreibt das Mädchen: ‚ Da der größte Teil der Strafgefangenen aus Prostituierten bestand, so war der Charakter dieser Unterhaltungen so, daß sie für jeden Menschen, in dem noch nicht alle Scham, alles Gefühl für Hohes, Reines, noch nicht alles Menschentum zertreten oder erstickt war, eine Qual bedeutete. ( Hört, hört!) Zu dem Schmerz über so viel Verkommenheit und Entartung, die sich unter anderen Verhältnissen vielleicht hätten berhüten lassen, gefellte sich der Ekel.'( Bewegung.) So schreibt ein 18jähriges Arbeitermädchen. Monatelang hat man die beiden Mädchen und manche ihrer Leidensgenossen in dieser Atmosphäre ge= lassen.( Hört, hört!) Die Sprache ist zu arm, um solche Scham losigkeit gebührend zu brandmarken."( Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)
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Uns deucht, daß auch vom Boden des bürgerlichen Rechtes aus betrachtet durch die lange Schußhaft mit ihren entseßlichen Einzelheiten die„ Missetat" der beiden jungen Mädchen reichlichst ge= ahndet war. Das Gericht war jedoch anderer Meinung. Die Angeklagten selbst standen aufrecht und mutig zu ihrem Tun. Der Vorsitzende äußerte, daß sie bei ihrer Jugend sich wohl der Tragweite ihrer Handlung nicht voll bewußt gewesen sein könnten. Daraufhin erklärten beide junge Mädchen, daß sie sich vollkommen klar darüber gewesen seien, was sie getan hätten. Der Amtsanwalt beantragte 6 Monate Gefängnis, der Gerichtshof erkannte auf je 6 Wochen Strafhaft. In der Begründung des Urteils heißt es, mitbestimmend für das Strafmaß sei der aufreizende Inhalt der Bettel, als strafmildernd komme jedoch das jugendliche Alter der Angeklagten in Betracht. Ferner sei darauf Rücksicht genommen worden, daß die Angeklagten sich bereits längere Zeit in Schußhaft befunden hätten. Die Schubhaft wurde jedoch nicht auf die Strafe angerechnet.
Leo Trotzky auf dem Schub. Der in Paris lebende russische Revolutionär und Schriftsteller Leo Troyky erhielt den Befehl, Frankreich binnen 14 Tagen zu verlassen. Der Grund dafür ist offenbar darin zu suchen, daß Genosse Troßky der Herausgeber der sozialistischen Zeitschrift„ Nascha Slowo" ist, die in Paris erschien und von der französischen Regierung verboten wurde, weil sie die Grundsätze des internationalen Sozialismus verteidigte und daher scharfe Kritil an allen den Sozialdemokraten übte, die im Zeichen der heiligen Einigkeit und des Burgfriedens die Grundsäße preisgaben. Der„ Avanti" berichtet, daß Spanien dem Genossen Trotzky ein Asyl verwehrt, und daß auch die freie Schweiz den unbequemen Gaft nicht über ihre Grenzen lassen will. Genosse Trotzky befindet sich in einer seltsamen Lage: aus der Heimat hat ihn der Zarismus vertrieben, aus Frankreich ist er ausgewiesen, Deutschland und Öster reich sind ihm verschlossen, andere Länder schließen die Tür vor ihm zu. Der„ Avanti" meint, Trogly werde sein Leben im Luftschiff beschließen müssen.
Für den Frieden.
Die Friedensaktion der Vereinigung für demokratische Kontroke der Politik in England. Nach einer Meldung des Vorwärts" hat der leitende Ausschuß dieser Gesellschaft, der„ Große Rat", am 10. Oftober folgende Beschlüsse gefaßt:
" Der Rat bestätigt von neuem seine unerschütterliche Überzeugung, daß eine dauernde Neuordnung nicht auf der Grundlage eines Frie dens gesichert werden kann, der auf das Eroberungsrecht gegründet ist, und dem ein Handelskrieg folgen würde. Vorausseßung einer dauernden Neuordnung ist vielmehr einzig und allein ein solcher Friede, der den Nationalitätsansprüchen gerechte Berücksichtigung angedeihen läßt und den Grundstein zu einer tatsächlichen europäischen Gemeinschaft legt. Der Rat ist der Ansicht, daß dieses
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Ziel nicht durch einen verlängerten Zermürbungsfrieg erreicht werden kann, der Siegern und Besiegten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ruin bringen muß. Er verlangt daher dringend, daß ein Versuch zur Feststellung gemacht wird, ob wir nicht jetzt durch Verhandlungen alles erreichen können, was der Sieg sichern oder verteidigen sollte. In Anbetracht der günstigen Lage der Ententemächte zu Lande und zur See fordert der Rat ferner die englische Regierung im Verein mit den anderen Vierverbandsregierungen auf, sofort klar und ohne die Möglichkeit eines Mißverständnisses die Ziele anzugeben, die sie zu erreichen wünschen, und dadurch Verhandlungen zur Beendigung des Blutvergießens und zur Schaffung eines Frie= dens zu beginnen, der nach den Worten des Premierministers zur Jnthronisierung öffentlichen Rechtes als leitenden Gedankens der europäischen Politik führen wird.
Der Nat erhebt scharfen Widerspruch gegen den jüngsten Angriff des Kriegsministers gegen jeden Staat, der seine guten Dienste zur Herbeiführung eines gerechten und dauernden Friedens anbieten sollte. Er bestreitet das Recht Lloyd Georges, über diese Frage im Namen des Volkes zu sprechen. Er würde die Bermittlung jedes Volkes oder mehrerer Völker willkommen heißen, die zur Herbeiführung eines dauernden Friedens bestimmt wäre." In den neutralen Staaten wird es sicher nicht an Bereitwilligkeit fehlen, den Frieden zu vermitteln. Solange aber bei den kriegführenden Völkern der Friedenswille nicht eine solche Macht geworden ist, daß kein Minister mehr wagen kann, ihn als Luft zu behandeln, sind mehr oder weniger fromme Wünsche für einen baldigen Frieden zur Bedeutungslosigkeit verurteilt.
Die kanadischen Arbeiter gegen Registrierung und Dienst: pflicht. Nach dem„ Vorwärts" meldet die englische Zeitung„ Daily Telegraph " aus Montreal : Die Arbeiterorganisationen haben in verschiedenen Teilen Kanadas gegen den Vorschlag der Kommission für nationale Dienste protestiert. Dieser Vorschlag fordert die Registrierung aller Industriearbeiter als Mittel zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Die Arbeiterorganisationen weisen die Neuerung zurüd, weil die Registrierung fich auf die Arbeiterklasse beschränkt, den Charakter eines Ausnahmegesetzes gegen diese trägt und mithin nicht die Wehrpflicht aller wehrtüchtigen Männer ohne Unterschied der Klasse vorbereitet.
Frauenstimmrecht.
Die Einführung des kommunalen Frauenwahlrechts in Nußland sieht ein Gesetzentwurf vor, den der Minister des Innern, Protopopoff, zur Eröffnung der Duma ausgearbeitet hat. Danach soll die Selbstverwaltung der Gemeinden auf folgender Grundlage reformiert werden: 1. Ausdehnung der Rechte und der Zuständigkeit der Gemeinden. 2. Ausdehnung des Wahlrechts. 3. Beteiligung der Frauen an den kommunalen Wahlen. Genaue Angaben liegen zurzeit noch nicht vor. Immerhin scheinen die vorstehenden Angaben auf eine„ Neuorientierung" hinzudeuten, wenn auch nur in Rußland .
Um das Frauenwahlrecht in Holland . Mehreren Berliner Tageszeitungen ist aus dem Haag berichtet worden, daß der Minister Cort van der Linden sich im Namen der Regierung gegen jeden Versuch erklärt habe, die Einführung des Frauenwahlrechts durch die bevorstehende Verfassungsreform zu sichern. Wir hoffen, bald Genaues aus Holland selbst zu erfahren.
Eine Befürwortung vollen Bürgerrechts für das weibliche Geschlecht im Dentschen Neichstag. Der Reichstag verhandelte neulich über den Antrag, ihm wenigstens durch einen Ausschuß ein Zipfelchen des Rechtes zur Mitentscheidung über die Auslandspolitik zu gewähren.( Siehe den Leiter in Nr. 2:„ Worauf es ankommt.") In den Debatten dazu begründete Genosse Lede= bour als Redner der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft die Forderung eines vollständigen demofratisch- parlamentarischen Regierungssystems. In diesem Zusammenhang trat er unter anderem nachdrücklich für das Frauenwahlrecht ein. Er sagte:„ Die Weltgeschichte marschiert jetzt mit Siebenmeilenstiefeln. Ich hoffe noch zu erleben, daß die Parlamente in allen Staaten auf breiteste demokratische Grundlage gestellt werden. Dazu gehört aber, daß auch die Frauen das Wahlrecht bekommen und selbst im Parlament bertreten sind. Durch die Kriegserfahrungen ist auch der eine Einwand widerlegt worden, der immer dagegen erhoben wurde: daß die Frauen nicht Kriegsdienst tun. In allen Tonarten wird jetzt von allen Parteien gerühmt, wie außerordentlich wirkfam die Frauen heutzutage die Männer unterstüßen. Dann muß man ihnen aber auch das Wahlrecht geben und erst dadurch das