Nr. 20

Die Gleichheit

Am 5. Juli tritt der Reichstag wieder zu einer voraussichtlich furzen Tagung zusammen. Die sozialdemokratische Fraktion wird sicherlich die Gelegenheit nicht unbenußt lassen, die Regierung und die bürgerlichen Parteien auf dem Wege zur Demokratisierung Deutschlands vorwärts zu treiben. Diese scheinbar nur inner­politische Angelegenheit hat auch ihre sehr ernste Bedeutung für die äußere Politit, im gegenwärtigen Augenblick ist sie eine Hauptfrage für die rasche Herbeiführung des Friedens. Nicht nur durch Ver­sprechungen und schöne Worte. sondern durch sichtbare und wirksame Taten muß Deutschland den Beweis liefern, daß es in Zukunft die Bahnen freiheitlicher Entwicklung wandeln will. Gerade dadurch würde den nationalistischen Kriegshezern des feindlichen Auslandes viel Agitationsstoff entzogen. Und den konservativ- alldeutschen Schreiern im eigenen Lande nicht minder.

Zu den wenigen Gesetzesvorlagen, die der Reichstag zu erledigen hat, gehört auch ein Antrag der Regierung, die Gesetzgebungsperiode des gegenwärtigen Reichstags nochmals um ein Jahr zu verlängern. Das ist leider eine bedauerliche Notwendigkeit, die die lange Dauer des Krieges mit sich bringt.

Zur Organisation der Arbeiterinnen.

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Die Frauenarbeit hat während des Krieges gewal tig zugenommen. Nach den Mitgliederstatistiken der deutschen Krankenkassen beträgt diese Zunahme der erwerbstätigen Frauen allerdings nur rund 600 000; aber es besteht kein Zweifel, daß diese Zahl in Wirklichkeit viel größer ist. Denn diese Statistiken bieten ganz abgesehen davon, daß ge­wöhnlich ein gewisser Prozentsaz der Krankenkassen nicht zu berichten pflegt kein richtiges Bild über die Zahl der wirklich erwerbstätigen Frauen. Daß diese Zahl wäh rend des Krieges ganz gewaltig zugenommen haben muß, beweist eine Erhebung des Deutschen Metallarbei­terverbandes über Die Frauenarbeit in der Metall­industrie" während des Krieges. Handelt es sich hierbei auch nur um einen, wenn auch außerordentlich bedeutsamen Epezialzweig unseres Wirtschaftslebens, so lassen die Er­gebnisse dieser Umfrage doch immerhin wertvolle Rückschlüsse zu. Durch die Erhebung wurde in den davon erfaßten Me­

Feuilleton

Frisch gewagt ist schon gewonnen, Halb ist schon mein Werk vollbracht! Sterne leuchten mir wie Sonnen, Nur dem Feigen ist es Nacht.

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Nicht in die ferne Zeit verliere dich! Den Augenblick ergreife, der ist dein.

Givet .

Goethe.

Schiller.

Weit in belgiſches and hinein, bem Laufe der Maas folgend,

stößt ein spizer Keil französischen Landes vor. An der äußer­sten Spize dieses Keils liegt die französische Festung Givet . Die Stadt streckt sich unten im Tal. Gleichgültig. Ohne viele Reize. Auf einem großen Plaz inmitten der Stadt überrascht ein Denkmal, das einen Mann in lebhafter Haltung und mit durch­geistigtem Gesicht darstellt: der Komponist Méhul ist in Givet geboren. Bis an die Häuser der Stadt ragt ein Berg, ein Felsen, ein un­geheures Massiv. Truhig und steil steigt der Stein an. Wo noch mildere Steigungen gewesen sind, hat Menschenkunst nachgeholfen und gewaltige, scharfiasige Bastionen gebaut. Stolz und heraus­fordernd schaute von dort oben die Festung Givet ins Land hinein. über das belgische Land hinweg, weit hinweg. Belgien war kein Feind. Aber nach Deutschland hinüber ging der Blick: mögen sie kommen, an diesem Felsen werden die feindlichen Heere zersplittern! Auf dem Felsen oben eine Soldatenstadt. Haus neben Haus. Kasernen, Stallungen, Küchen, Wirtschaften. Und Vorratsräume. Für Lebensmittel und für Geschütze und Munition. Und mitten

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tallbetrieben eine Zunahme der weiblichen Arbeitskräfte von August 1914 bis August 1916 von 63 570 auf 266 530, also um mehr als 300 Prozent festgestellt.

Die Zahl der weiblichen Arbeitskräfte befand sich schon vor dem Kriege in ununterbrochenem Steigen. Sie stieg zum Beispiel in den 25 Jahren von 1882 bis 1907 von 5,54 auf 9,49 Millionen, während in der gleichen Zeit sich die Zahl der männlichen Arbeitskräfte von 13,37 auf 18,58 Mil. lionen erhöhte.

Diese gewaltige Steigerung der weiblichen Erwerbstätig­keit drückt nicht nur unserem gesamten Wirtschaftsleben ihren Stempel auf, sondern erheischt auch gebieterisch, daß Staat und Gefeßgebung dieser veränderten Situation Rech­nung tragen. Mit der veränderten Stellung der Frau im Wirtschaftsleben ist zugleich ihre Stellung in Staat und Gesellschaft eine andere geworden. Die Frau hat An­spruch darauf, als gleichberechtigter Faktor mit dem Manne gewertet zu werden. Die selige Zeit der ehrbaren Zunft und Innungsarbeit mit dem Wahrspruch: Die Frau gehört ins Haus" ist längst verrauscht und spukt nur roch in jenen Köpfen, denen die neue Zeit mit den neuen Menschen und Forderungen unbequem ist.

Daß bei der bedeutsamen Stellung der Frau im Wirt­schaftsleben auch die Arbeiterschaft, besonders die Gewerk­schaften längst damit begonnen haben, die Frauen als Mit­glieder den Organisationen zuzuführen, liegt auf der Hand. Gilt es doch, die Frau als Mitkämpferin zu ge­winnen und sie mit dem Geiste der Kameradschaftlichkeit und der Interessensolidarität zu erfüllen.

Die Zahl der weiblichen Mitglieder der freien Ge­werkschaften betrug zu Beginn des Krieges 221 071, eine im Verhältnis zur Gesamtzahl der im Erwerbsleben tätigen Arbeiterinnen geringe Zahl. Während des Krieges ist nun diese Zahl sogar zurück gegangen; sie betrug am 30. Juni 1916 nur noch 182256, also bald 20 Prozent weniger. Diese Tatsache, die übrigens nicht nur bei den freien, sondern auch bei den christlichen und Hirsch- Dunckerschen Gewerkschaften zu verzeichnen ist, gibt angesichts der Zunahme der Frauen­

drin eine hochragende Kirche. Tausende von Soldaten haben hier dauernd gewohnt.

Alles ist aus schwerem Stein gebaut. Die Häuser aus dicken Quadern sind teils in den Stein hineingehauen, teils auf ihm er­richtet worden. Unterirdische Gänge und Gewölbe kriechen tief hin­unter und nehmen kein Ende. Durch sie hindurch ist seinerzeit die französische Besaßung geflüchtet. Spurlos. Wie durch ein Wunder. Hier und da gluckert in der Tiefe ein Wasser. Schade um den armen Landsturmmann, der auf den zerschossenen und verfallenen Stufen ausgleitet. Kein Mensch vermag ihn aus der Tiefe zu retten. Im Freien ist ein breiter, tiefer Brunnen. Unten, tief unten schaukelt trübes Wasser. Es dauert lange, che der Stein unten ankommt. Trübe, breiige Wellen schieben sich von der Mitte an den Rand. Und kehren dann in die Mitte zurück. Man schaudert zurück.

Wie viele Soldatenleichen mag das trübe Wasser beherbergen? Was ist von der stolzen Soldatenstadt, die für die Ewigkeit ge­baut schien, übriggeblieben! Als der französische Kommandant zur Übergabe aufgefordert wurde, antwortete er höhnisch, in hundert Jahren solle man wieder anfragen. Bis dahin habe er alles, was er brauche.

Dann begannen die deutschen und österreichischen Geschüße ihre gewalttätige Arbeit. Es dauerte nicht lange, da war von dem Stolz nichts mehr vorhanden, da suchte sich zu retten, was sich zu retten vermochte. Solche fürchterliche Zerstörung hatte man nicht erwartet. Was wollten die meterdicken Steinmauern gegen die ungeheure Kraft der Explosivgeschosse! Sie zersplitterten wie Holz. Keines von den vielen hundert Steinhäusern ist ganz geblieben. Eine ein­zige wüste Trümmerstätte die einst so stolze Soldatenstadt! In den Ruinen suchen die Einwohner und die Mannschaften der deutschen Wache nach dem wenigen Holz, das noch übriggeblieben ist und festgefeilt zwischen den Steinmassen liegt.