Nr. 23
Die Gleichheit
müssen entbehren: Seit der großen Milchnot im Frühjahr wurden auch die Rationen der Kleineren noch herabgesetzt. Und wenn ich nun eine solche Milchkarte nach dem im Vordruck analogen Antrag ausschreibe, wandern meine Gedanken immer ein Stück Weg mit ihr. Da sehe ich sie im Geiste alle vor mir, die Kinder der Kriegszeit, die wohl den meisten fürs ganze Leben ihren erbarmungslosen Stempel aufgedrückt hat. Denn nicht allein die Menge, sondern auch die Güte der Milch ist unstreitig vermindert, leidet doch auch das Vieh unter großen Ernährungsschwierigkeiten! Dazu kommit noch die eben in den ganzen Zeitumständen begründete mangelhafte Kontrolle der Behörden und das ja allgemein gewordene lare Verantwortlichkeitsgefühl der Produzenten und Händler. Was in dieser Hinsicht eben verfehlt wird, kann nicht leicht mehr nachgeholt werden, und daß die Kinder der geringen Volksschichten schwer leiden, daran ändern alle Feststellungen und Erklärungen superkluger Professoren in bürgerlichen Blättern und Zeitschriften über das nach ihrer Meinung genügende Weniger, über Kalorien und sonstige wissen schaftlich klingende Floskeln nichts.
Auf den ersten Blick mag an dem einfachen, nüchternen Milchantrag nichts Besonderes zu entdecken sein; für mich aber ist er lebens und inhaltsvoll, redet er eine wenn auch stumme, doch um so eindringlichere Sprache: die der urewigen, treusorgenden Mutterliebe! Und wenn da eine solche in meist ungeübter, steifer Hand schrift hingeschrieben, daß ihr Hänschen im Juni 1915 geboren, eine andere vielleicht gezaudert hat, den Monat anzugeben, in dem ihr Elschen 4 Jahre alt wird, da will es mir gar nicht so recht aus der sonst so eiligen Feder, daß ich beiden nun nur die Hälfte der Milch noch hinschreiben soll. Muß ich aber einen Antrag, weil das Kind heute 6 Jahre alt wird, ganz ausscheiden, dann steigt es gallenbitter in mir auf über den unseligen Krieg und seine erbarmungslosen Härten.
Mehr noch als dieses jedoch könnte einen manchmal etwas anderes an der besseren Zukunft der Menschheit verzweifeln lassen: das ist der Neid und die Mißgunst, denen auch die Kinder nicht mehr heilig sind. Da ist so mancher Klein- Heini und manches Lieselchen, denen bei ihrer zurückgebliebenen Entwicklung ihre bisherige Milchmenge dringend notwendig wäre; da würde ich dir, Kleiner Karlemann, wie dich deine Mutter so liebevoll genannt hat, gern nach den eben überstandenen Masern noch den Viertelliter Milch weiterschreiben, wenn ich nicht fürchten müßte, daß eure finderlose Nachbarin, auf demselben Flur wohnend, dich und mich deswegen denunzierte. Denn sie sucht es zu erfahren, indem sie
Feuilleton
Wahrhaft groß sein, heißt
Nicht ohne großen Gegenstand sich regen.
*
Was Menschen übles tun, das überlebt sie, Das Gute wird mit ihnen oft begraben.
Verleumdung,
*
Sie schneidet schärfer als das Schwert.
( Fortsetzung.)
h!" rief der Soldat dann leise mit dem zärtlich weichen Tone des Mitleids, die Hände faltend und die Augen auf eine Stelle der Wand gerichtet, du arme Mutter! Du mußt so weit gehen, ganz allein in der heißen Sonne, und wenn du in der großen Stadt ankommst, zwischen all den Menschen weißt du noch gar nicht, wo ich bin, du mußt den Weg nach der Kaserne erfragen und, so alt und erschöpft, wie du bist, noch herumstehen, vielleicht verirrst du dich in den Straßen und kannst mich nicht finden.... Ach, du arme Alte!" ein Ausruf, den er von Zeit zu Zeit wiederholte. Nun sprang er plötzlich empor, seufzte auf und ging schnell wie ein eiliger Reisender durch das Zimmer: Ob sie jetzt da sein kann?" Er lief ans Fenster, lehnte sich weit hinaus, blickte nach allen Seiten ein-, zwei, dreimal: niemand! Das Blut stieg ihm zu Kopf. Ich will an andere Dinge denken," meinte er, und um sich die Qual der gespannten Erwartung zu erleichtern, bemühte er sich, die Gestalt seiner Mutter aus seinem Ge
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dich scheinheilig ausfragt; weil sie keine bekommt, gönnt sie dir die zwei Tassen voll auch nicht. Das ist traurige Wahrheit, und hätte ich solches nicht selbst erlebt, ich würde es von anderen nimmer glauben.
Aber nicht nur für die Kinder allein schreibe ich hier die Milchfarten, auch die Kranken werden auf ärztliche Atteste von hier aus damit versorgt. Meist läuft ein solches nur auf vier Wochen. Du liebe Zeit, das kommt einem alles so halb, nur in grobem Umriß gesorgt vor! Denn hat da ein Kranker wirklich nach vielen Bemühungen den halben Liter Milch erhalten und fängt kaum an, sich wirklich etwas zu erholen, da soll sie schon wieder wegfallen! Oder ist auch auf diesem verantwortungsvollsten Gebiet nur Geldund Interessenpolitik maßgebend, daß den Ärzten alle vier Wochen das Geld für ein neues Attest hingelegt werden muß?
Und wieder sind es auch in dieser Beziehung die Kinder, die Heranwachsenden größeren, die am meisten leiden, denn die Milch gilt nur als Heilmittel für ganz bestimmte Krankheiten. Für die doch jetzt wohl nicht mehr abzuleugnende allgemein gewordene Unterernährung der größeren Kinder wird grundsäglich keine Milch bewilligt. Man wird von dem immer größer und intensiver sich offenbarenden Elend in allen möglichen Erscheinungsarten wohl langsam stumpf, aber wenn einem die Mütter in der Geschäftsstunde und auf der Straße die abgemagerten Armchen und die von Strofulose haltlos einwärtsgehenden Beine der Kinder zeigen, hoffend, durch Mitleid mehr Milch zu erhalten, da möchte man in wildem Zorn riesenstart werden und den wahnsinnig endlos Kriegführenden in den Arm fallen.
Und noch einmal sind es die Kinder, für die wir hier sorgen, noch ehe sie geboren sind. Da sind es die Schwangeren, unsere werdenden Mütter, deren Milchkarten wir gleich denen der kleinsten Kinder mit einem roten Kreuzchen versehen, zum Zeichen, daß sie unter allen Umständen zuerst Milch erhalten müssen. Denn gehört nicht gerade ihnen alles nur einigermaßen Verfügbare zuerst? Sind sie nicht unserer aufmerksamsten Fürsorge würdig in ihrer jetzt doppelt schweren, heiligen Aufgabe als Trägerinnen des kommenden Marie Schleeh. Geschlechts?
Unorganisiert
also billig!
Vor einiger Zeit fonnte man in einer Anzeige der„ Süddeutschen Tabakzeitung" in recht bezeichnender Weise lesen:
,, Verkaufe größere, der Neuzeit entsprechende, vollbesetzte und überall beschäftigte Zigarrenfabrik. Guter Stamm, weibliche nicht organisierte, billige Arbeitskräfte."
dankenkreis zu bringen. Ja, das war aber einfach unmöglich, er gab die uklose Anstrengung auf.
,, Siehst du, Mutter!" sagte er mit lauter Stimme, ich habe dich so sehr lieb, so lieb, wie man keinen Menschen auf der Welt lieber haben kann." Er ließ dabei seine gefalteten Hände auf das Bett fallen und schüttelte sanft mit dem Haupte, als wollte er durch jene Bewegung seine letzten Worte bekräftigen:„ Nein, lieber kann man niemand haben! Ob es so - weit ist!" fuhr er plötzlich wieder auf und war im Begriff, zum Fenster zu eilen: Nein, ich muß nicht immer aussehen," aber er lächelte, und wirklich nach einem Augenblick stand er doch an der geöffneten Scheibe: niemand.
Er kehrte zu seinem Bett zurück und bemühte sich, auf irgendeine Weise die Zeit hinzubringen. Er legte den Zeigefinger der rechten Hand gegen das Knie, stützte den Ellbogen mit der Linken und dann, am Knie gegen die Bettkante gelehnt, den Blick geradeaus gerichtet, eilte er mit seinen Gedanken in die Heimat, sah seine Mutter ein Bündel von Hemden und Taschentüchern für ihn zurechtbinden, Abschied nehmen, sich auf den Weg machen. Er folgte ihr im Geiste mit den Augen auf der langen Straße, die so endlos, so heiß, so staubig dalag! Schnell fahren die Karossen, die Lastwagen vorüber, so nahe an der armen Frau, daß sie ihre Kleider streifen, und sie ist alt und müde und unsicher auf den Füßen! Ach, da kommt einer in voller Karriere, er ist ihr nahe:„ Oh, nimm dich in acht!" rief der Sohn leise und machte, ohne es zu wissen, ein Zeichen mit der Hand, als wollte er sie am Arme fassen und auf die Seite ziehen. Er zeigt auf die Wegsteine, die sie vermeiden muß, und meint die arme Alte wanfen zu sehen, gebeugt unter ihrer Last, ganz erschöpft, und er bemitleidet sie in seinem Herzen: ,, Ach, könnte ich dir doch das Bündel abnehmen, komm, laß es mich tragen, gib mir den