Nr. 1
Die Gleichheit
Genußsucht und Bequemlichkeit, die in der Begründung der Regierung als Ursache des Geburtenrückgangs genannt wurden, werden durch das Gesetz nicht getroffen. Die von selbstsüchtigen Motiven geleiteten Menschen gehören meistens den begüterten Schichten der Bevölkerung an, ihnen werden trotz des Gesetzes alle Möglichkeiten der Geburtenverhinderung durch Gebrauch von Präventivmitteln zur Verfügung stehen.
Als ein Zeichen höherer Kultur ist es zu betrachten, wenn das Verantwortungsgefühl der Menschen sich sträubt, Kinder ohne Wahl zu zeugen, gleichgültig gegen die Lebensbedingungen, die sie vorfinden. Die überwiegende Mehrzahl der Frauen hat auch heute noch den Willen zur Mutterschaft. Gestärkt werden kann der Wille zum Kinde nur durch die geeigneten sozialen Maßnahmen, von denen ein Teil oben angeführt wurde.
Bei der Beratung des Gesetzes wurde wiederholt darauf hingewiesen, daß das den Männern zum Schutz gegen Ansteckung freigegebene Kondom gleichzeitig als empfängnisverhütendes Mittel wirke. Nach unserer Ansicht muß auch den Frauen das nach dem Gutachten ärztlicher Autoritäten hygienisch und gesundheitlich einwandfreie Okklusivpessar weiterhin erlaubt werden. Denn wo es sich um Männer mit vermindertem sittlichen Verantwortungsgefühl handelt, oder wo, wie oft bei Trinkern und Tuberkulösen, ein frankhaft erhöhtes Geschlechtsbedürfnis besteht, werden die Männer feineswegs geneigt sein, die Empfängnis durch Anwendung des Kondoms zu verhüten. Das vollständige Verbot der von Frauen anzuwendenden Mittel zur Verhütung der Empfängnis muß notwendig die friminellen Aborte stark vermehren. Die Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuchs haben auf die Zahl der kriminellen Aborte feinen Einfluß gehabt. Wir erblicken darin den Beweis, daß diese Handlungen nicht nur von kriminellen, sondern auch von rein mensch lichen und sozialen Gesichtspunkten aus betrachtet werden müssen. Im Interesse der Volksgesundheit und Volksmoral müßte alles vermieden werden, was geeignet ist, die Abtreibungen zu vermehren. Die in dem Gesezentwurf gegen Unfruchtbarkeit und Schwangerschaftsunterbrechung geforderte Namhaftmachung der Kranken an den Kreisarzt wird ebenfalls vielfach dazu beitragen, die Frauen aus Furcht vor dem Bekanntwerden des Eingriffs zur Abtreiberin anstatt zum Arzte zu führen, also aufs neue die Gefahr der kriminellen Abtreibungen vermehren. Die geforderte Anzeige an den Streisarzt mit Namhaftmachung des Patienten stellt außerdem einen Bruch der ärztlichen Schweigepflicht dar, der gerade in dem Gesetz betreffend die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten so eindringlich
Feuilleton
Dümmer ist nichts zu ertragen,
Als wenn Dumme sagen den Weisen, Daß sie sich in großen Tagen
Sollten bescheidentlich erweisen.
Goethe.
in Frühsonntag. Goldig und klar lacht die Maiensonne vom azurblauen Himmel hernieder. Ein Schwirren, Summen und Flöten durchzieht den weiten Raum. Geschäftige Bienen sammeln den ersten Honig. Berauschende Düfte schwängern die Luft. Flieder und Syringen kokettieren mit ihren Blütenkindern wie eitle Mütter mit ihren geputzten Kleinen. In einem Gärtchen, unterm rotblühenden Apfelbaum, steht eine altersschwache Bank. Darauf sigt, sorgfältig in Decken eingehüllt, ein blaffer Knabe.
In sichtlicher Ermattung lehnt er den dunklen Lockenkopf an den harten Stamm. Regungslos sigt er da, auf dem halb geöffneten Lippenpaar ein verträumtes Lächeln. Ein feines, durchgeistigtes Antlig hat der Knabe. So weich die Züge, so rein die Stirn! Voll und wallend das glänzend braune Haar. Man ist fast versucht, anzunehmen, das reizende Gesicht gehöre einem Mädel. Das Schönste aber sind die traumtiefen, großen dunklen Augen, die so etwas Weltfremdes in sich bergen. Es ist gleichsam, als böte das ausnehmend schöne Angesicht dem Kinde Ersatz für seinen häßlichen, mißgestalteten Störper. Dieser arme gebrechliche Körper! Die langen dünnen Arme und Beine, der hohe Rücken und die ausgewachsene Brust, dazu
3
gegen die Meldepflicht angeführt wurde, also auch hier ein verschiedenes Maß gegenüber den Frauen und Männern. Weiterhin ist zu befürchten, daß viele Ärzte durch die ihnen in dem Gesetz zuge= muteten Unbequemlichkeiten und Kontrollen sich von einer oft notwendigen Unterbrechung der Schwangerschaft werden abhalten lassen, und zwar gerade wieder in den Fällen, in denen sie gegen geringes Entgelt oder umsonst vorgenommen werden müßte. Diese menschlich durchaus verständliche Neigung wird auch wieder zu einer Bevorzugung der wohlhabenden Kreise führen, während es doch offenbar dem Gesetzgeber darum zu tun sein muß, die Kinderzahl gerade in denjenigen Kreisen zu steigern, in denen die Möglichkeit bester Aufzucht vorliegt.
0
о
Am 9. September haben der Parteivorstand und die Generalkommission der Gewerkschaften in der Frage des Ernährungswesens eine Denkschrift an den Reichskanzler gerichtet. Es wird darin gesagt, daß die Unzufriedenheit der Massen über die unzureichende Verteilung von Lebensmitteln bei gleichzeitig blühendem Schleichhandel sehr groß sei, daß Bedarfsartikel wie Schuhe, Wäsche, Kleidung Preise erreicht haben, die für die meisten unerschwinglich seien. Die Reichsregierung wird dringend aufgefordert, Maßregeln zu ergreifen, die Abhilfe bringen. Vor allem sei es nötig, die Kartoffelversorgung besser als im vorigen Jahre zu regeln und eine Nation von 10 Pfund pro Kopf und Woche festzusetzen. Zum Schlusse heißt es:„ Es unterliegt keinem Zweifel, daß wir einem Zustand entgegentreiben, der verhängnisvoll werden muß, wenn die Regierung nicht endlich entschlossen ist, mit jeder Begünstigung der Produzenteninteressen zu brechen und den Lebensbedürfnissen des Volkes Rechmung zu tragen."
"
Daß die Reichsregierung dazu nicht entschlossen ist, ging aus der Antwort hervor, welche die Gewerkschaftsvertreter in der Konferenz beim Reichskanzler am 12. September erhielten, nachdem sie in dem Sinne der obigen Eingabe die Wünsche der Arbeiterschaft dargelegt hatten. Der Sprecher der Gewerkschaften, Genosse Thomas( Frankfurt a. M.), betonte besonders, daß alle wirtschaftlichen Nöte verschlimmert würden durch die unsichere, schwankende Politik im Innern, durch den lastenden Druck, den Zensur und Belagerungszustand für das denkende Volk bedeuten, und da
die mißgestalteten spißen Schultern, zwischen denen auf kurzem, dünnem Halse, gerade als set er gewaltsam eingedrückt, der schöne Kopf ruht.
-
-
Auf dem Schoße des Knaben liegt eine kleine Kindergeige. Die zarte, weiße Hand weiß graziös den Bogen zu führen, und hin und wieder durchzieht ein Singen und Klingen die sommerliche Stille. Ein banges Sehnen, Seufzen und Klagen Eine Träne dann bricht das Lied jäh ab. verdüstert des Kindes Blick. Da läßt es den Bogen sinken, legt den Kopf an den Stamm und starrt hinauf in die leuchtende Blütenpracht, als suche es dort Hilfe oder doch Vergessen von seinem Leid.
Das ist, wenn frohes Kinderlachen von der Straße zu ihm dringt. Doch nicht das ist's, was ihm Schmerz bereitet; er ist es ja so gewöhnt, das„ Alleinsein", der Heini. Da gerade ist ihm am wohlsten.
Aber durch das lärmende, frohe Kinderlachen klingt heiferes, schreiendes Krächzen. Dieses häßliche Krächzen, immer schreckt es ihn jäh aus seinen Träumen.
Seine drei jüngeren Geschwister sind es, die solch schrille Laute ausstoßen. Alma und Otto sind geistig zurückgeblieben, arme Menschen, Idioten mit stupiden Gesichtern und glozenden Schielaugen, die von törichten Leuten verspottet und von unwissenden Kindern gehänselt und gefoppt werden. Der Kleinste, Karl, ist kaum drei Jahre alt, ist stets kränklich, verdrießlich und weinerlich. Sein Krächzen erklingt von früh bis spät.„ Die vier Raben" haben die Leute die Geschwister genannt. Nicht bloß wegen ihrem heiseren Rabengekrächz. Schon die Tatsache, daß der Vater der vier Kleinen Heinrich Rabe heißt, genügt, um den Kindern einen Spiznamen anzuhängen. Krächzt der Älteste, der Heini nun auch nicht, so bietet er mit seinen zwei Höckern und den langen Spinnenbeinen doch