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Die Gleichheit

Um ein Gefühl ausdrücken zu können, muß man es in ein Wort fleiden, und so bezeichnen viele Menschen mit den Wor­ten Religion" und Gott " das, was andere Ideale" nen­nen, nämlich: die tiefste und heiligste Sehnsucht unseres We­sens nach Vollkommenheit.

Wir Sozialdemokraten suchen die Verwirklichung unserer Ideale hier auf Erden. Die Menschen sollen im irdischen Leben glücklich sein. Und darum halten wir es für notwendig, daß der Menschengeist schon im Kinde zur Verantwortlichkeit gegen die menschliche Gesellschaft und gegen sich selbst heran­gebildet wird. Zum Lebenskampf gerüstet, soll das junge Menschenkind die Schule verlassen, aber auch vorbereitet und fähig, alle Schönheiten und Wahrheiten dieses Lebens in sich aufzunehmen. Die heilige Liebe zum Leben wollen wir wecken und pflegen.

Die christliche Kirche lehrt, daß der Mensch nur ein Werk­zeug Gottes sei: mithin sei sein Wille nicht frei, sondern einem anderen höheren unterstellt. Diese Lehre schafft de­mütig duldende Menschen, deren ganze Sehnsucht über das Grab hinausgreift und viele so für den Lebenskampf und für den reinen Lebensgenuß unfähig macht. Ein Mitleid wird herangebildet, welches die Besitzenden zum Geben er­ziehen soll und das die Befitlosen zum Nehmen demütigt.

Wir aber wollen das Recht jedes einzelnen auf Brot und Leben.

Tas junge Menschenkind, welches durch die christliche Morallehre der Schule zur eigenen vollen Verantwortlichkeit für sein Tun nicht erzogen worden ist, mußte aber die ganze Strenge des Gesezes tragen, wenn es einen Verstoß gegen die Gesellschaft beging. So wurden naturgemäß Widersprüche im Innenleben hervorgerufen, die zu Haß und Verachtung gegen die christliche Morallehre und gegen die Gesellschaft führen mußten.

Alle Morallehren und Sittengeiebe haben mit der Zeit fortzuschreiten, wenn sie nicht zum Schaden der arbeitenden Klassen, zum Hemmschuh ihrer geistigen Entwicklung werden sollen. Und deshalb wollen wir die Befreiung der Schule von diesen überlieferungen, die für unsere Zeit nicht passen.

Feuilleton

Sonnenwende.

Heute fand ich kaum das kleinste Lebenszeichen; Wie weit ich suchend auch die Schritte lenkte, Wie forschend ich den Blick zu Boden senkte, nichts traf ich an, als dürre pflanzenleichen.

Ich sah den Wind auf weißen Gräbern streichen, Wo gestern noch sich Gras an Gräser drängte, Wo selbst ein Blümchen seinen Gruß mir schenkte, Und Trauer fühlt' ich in die Seele schleichen. Da sauste rasch den Berg hinab ein Schlitten: Drin saßen Kinder, die ein Liedchen sangen Und froh den Arm um eine Tanne schlangen. mir aber war's, als sie von dannen glitten, Wie wenn der Wind verhallend aufwärts sende Von ihrem Sang das Wörtchen Sonnenwende". Ferdinand Avenarius .

Belgische Spitzen.

Im alten Balast Gruuthuse im melancholischen Brügge . Ich stehe vor den glasüberdeckten Tischkästen, in denen die wertvollen Spigen fragen eines van Dyck, eines Karls V. und die kostbaren Tücher einer Margarete von Parma seit Jahrhunderten aufbewahrt und zur Schau gestellt sind. Einen Wert von zwei Millionen Franken stellt die in diesen von Geschichte und Romantik durchwobenen Räu men bereinigte Spizensammlung dar. Darunter Stücke, wo an einem Meter flinke Frauenhände jahrzehntelang arbeiteten und wo das Gewebe so fein ist wie Spinnenfäden. Und neben die geschichtliche Vergangenheit treten so vor mein Auge die geschickten Proletarie­rinnen, die mit ihren Fingern diese Herrlichkeiten schufen.

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Ohne Zwang soll der Glaube sein, und alle gläubigen Christen oder Juden sollen die Möglichkeit haben, ihre Kinder in diesem Glauben erziehen zu lassen. Aber dasselbe Recht sollen fortan auch alle freigläubigen Eltern genießen, bisher hatten sie es nicht.

Hierüber Aufklärung zu schaffen, ist Pflicht jeder Genossin; damit es den Sträften, welche bisher unser Staatswesen miß­leiteten, die belastet sind mit dem Blut und Unglück von Millionen, nicht gelingt, durch den Einfluß der Kirche das Staatsbürgerrecht der Frauen für ihre reaktionären Zwecke dienstbar zu machen.

Die äußerste Linke, der Spartakusbund , versucht es, all das furchtbare Leid, das die Frauen über vier Jahre getragen, in ein Haß- und Rachegefühl umzumünzen, und sie dadurch blind zu machen für die Forderungen der Demokratie. Der Spartakusbund verlangt die Diktatur des Proletariats, um diejenigen, die bisher das Volk unterdrückten, nun seinerseits unterdrücken zu können.

Wir Frauen aber verlangen nicht Rache, sondern Gerechtig feit. Weil wir so unendlich viel gelitten haben, wollen wir unsere Rechnung an die kapitalistische Gesellschaft in aller Ruhe und Klarheit vorlegen. Wir wollen nichts vernichten, dessen Verlust uns selbst am schwersten treffen würde. Wir wollen die Schuldigen treffen, aber wir wollen nicht in klein­licher Gehässigkeit gegen unsere eigenen Arbeits- und Leidens­genossen wüten. Der Spartatusbund führt in der Praxis keinen sachlichen, sondern einen gehäfsig- persönlichen Kampf. Das mögen die Führer nicht wollen, aber der Erfolg ist so. Der Spartakusbund sieht die Einführung des Bolschewismus als das erstrebenswerte Ziel an, wir aber lehnen dieses russische Vorbild ab. Er verwirft die Volksabstimmung in der National­versammlung und will die Herrschaft des Proletariats, das heißt seine eigene Herrschaft, obwohl er nur einen kleinen Teil der Proletarier hinter sich hat, durch die Diktatur.

Auch wir verlangen die vollkommene Umgestaltung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in die sozialistische. Das ist eine Forderung unseres sozialdemokratischen Programms, und jede Regierung, die versuchen sollte, von dem geraden Wege abzuweichen, würde von dem Volke davongejagt werden. Aber

Doch mein Verweilen an dieser Stätte ist beschränkt. Noch bevor der letzte Sonnenstrahl den Grat des Belfrieds überglänzt, fehre ich der Stadt der malerischen Winkel und der dunklen Grachten den Rücken. Draußen im flämischen Dorf aber suche ich das für die Herstellung der kunstvollen Spigen erwachte Interesse zu befriedigen. Der Begriff Belgische oder Brüsseler Spigen ist weltbekannt. In­des deckt das Wort nicht ganz seinen wirklichen Gehalt, denn Brüssel ist eigentlich nur der große Umsatz- und Marktplatz für diese feine Ware, deren weitaus größter Teil in den Städten und Dörfern Flanderns ihre Ursprungsstätte hat. In diesen bis jetzt von Kriegsnot durchzogenen Bezirken gilt das Stlöppeln der Spigen breiten Volks schichten als Lebenserwerb. Die Herstellung der Spigen zu dekora­tivem Zweck ist in weiten Gegenden Flanderns , ja Belgiens über­haupt, zu einer nationalen Beschäftigung und somit zu einem wich­tigen volkswirtschaftlichen Faktor geworden, der diesen Schichten Arbeit und Brot gibt.

Auf flandrischen Feldern, hauptsächlich in dem Dreieck Gent­Brügge- Courtrai, wird der Flachs gebaut, der den Rohstoff für die Spigen liefert. Besonders in der Gegend von Courtrai züchtet man ein ungewöhnlich feines Gespinst, das berufen ist, für die besten und teuersten Sachen zu dienen.

Das Klöppeln der Spigen aber ist eine der interessantesten Be­schäftigungen. Es kann nur durch jahrelanges Lernen und üben er­worben werden. Schon mit zarter Kinderhand muß die Spizen­arbeiterin anfangen, will sie es zu größerer Kunstfertigkeit und also Verdienstmöglichkeit bringen. Bereits in der Schule wird den kleinen Mädchen das Klöppeln gelehrt, das sich von Generation zu Gene­ration forterbt. Für die Familie ein Beruf, für den Großhändler ein dankbares Objekt zum Ausbeuten menschlicher Armut.

Häufig fand ich Gelegenheit, mir die Herstellung der Spigen an­zusehen. Da sißen in einem kleinen Raum, oder wenn die Sonne lodt vor der niedrigen Haustür einige Frauen verschiedensten Alters. Jede hat ein Stehpult vor sich, das mit weichem Stoff ausgepolstert ist und auf dem die je nach der Kompliziertheit des anzufertigen­den Musters erforderliche Anzahl Stlöppel an den zu verarbeitenden Garnfäden hängt. Mit einer Fingerfertigkeit, die diejenige eines