Nr. 19

29. Jahrgang

Die Gleichheit

Zeitschrift für Arbeiterfrauen und Arbeiterinnen

Mit der Beilage: Für unsere Kinder

Die Gleichheit erscheint alle vierzehn Tage einmal. Preis der Nummer 15 Pfennig.

Durch die Post bezogen vierteljährlich ohne Bestellgeld 95 Pfennig; unter Kreuzband Mr. 1.45.

An unsere Leserinnen!.

Stuttgart  

20. Juni 1919

Wie bereits in Nr. 18 mitgeteilt wurde, wird die Gleich heit" von Nr. 20 ab wöchentlich erscheinen und zweimal im Monat eine Beilage Die Frau und ihr Haus" erhalten. Durch diese Neuregelung glauben wir den Interessen unserer Leferinnen sowohl politisch als Hauswirtschaftlich zu dienen. Der Bezugspreis beträgt ab 1. Juli für die Gleichheit" mit fämtlichen Beilagen im Monat 1,20 Mr.

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Genossinnen! Werbt neue Leserinnen für unser Blatt, die Gleichheit"!

Zur Sozialisierung

der öffentlichen Wohlfahrtspflege.

I. Seine Majestät der Mensch!

Man hat uns zeitlebens mit mancherlei Majestäten ge­plagt. Die eine davon, die Majestät von Gottes Gnaden, die sogar den Vorzug hatte, erblich zu sein, ist in diesen stür­mischen Tagen vom deutschen Boden weggefegt worden, als wäre sie nimmer gewesen. Aber da wir nun einmal nicht ohne Majestäten auskommen können und es eine gibt, die die höchste ist, obwohl sie bis jetzt vergessen im Winkel stand, tut es not, daß wir jener Majestät den Thron erheben und er­höhen, zu der alle anderen Majestäten, die des Rechtes wie die der Wissenschaft, der Arbeit und wie sie alle heißen mögen, sich verhalten wie die Trabanten zur Sonne: Seine Majestät der Mensch!

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Um seinetwillen ist alles, geschieht alles oder sollte alles geschehen, was Menschenhirne ausdenken, was Menschenarme schaffen. Es hat der Novemberſtürme des Vorjahres bedurft, um dieser Erkenntnis die Bahn freizumachen. Bis zu dieser Stunde war es Seine Majestät das Geld, dem alles und alle fich beugten beugen mußten. Die Diktate dieser Majestät waren uns geläufig als: Expansion des deutschen   Marktes, Steigerung der Produktivität, Ausdehnung des Kolonial­befizes, Vervollkommnung der schimmernden Wehr" usw. Dab alle diese schönen Dinge zu ihrer Verwirklichung der Menschenkraft bedurften, daß hinter ihnen die gesteigerte und recht oft die übersteigerte Arbeitsleistung von Millionen stand, das berücksichtigte man nur so weit, als einmal Gott Mam­moy es in seinem eigensten Interesse verlangte und als zum anderen die wachsende Macht der Arbeiterorganisationen ein Mindestmaß von Schutz und Fürsorge erzwang. Fürst Bis­mard hat selbst einmal zugegeben, daß unsere Arbeiterschutz gesehgebung durch das Drängen der politisch und gewerk­schaftlich organisierten Massen zustande gekommen sei.

Daneben hat es selbstverständlich in fast allen politischen Lagern nicht an sozialpolitisch geschulten, sozialreformerisch interessierten Persönlichkeiten gefehlt, denen nicht die Ware, sondern der Mensch das Maß aller Dinge war. So wie zum Beispiel Menger, der österreichische Staatsrechtslehrer, schon

Zuschriften sind zu richten an die Redaktion der Gleichheit, Berlin   SW 68, Lindenstraße 3. Fernsprecher: Amt Morigplag 14836. Expedition: Stuttgart  , Furtbachstraße 12.

vor Jahrzehnten das größte Glück der größten Zahl als den Leitspruch aller Sozialpolitik bezeichnet hat, war es ein anderer Deutsch- Österreicher, Rudolf Goldscheid  , der in seinem Buche Höherentwicklung und Menschenökonomie"( link­hardt, Leipzig   1911) den Menschen in all seinen Beziehungen zur Umwelt in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt. Er weist außerdem überzeugend nach, daß bei einer allseitigen, das heißt aber von der Geburt bis zum Grabe auf alle Lebens­beziehungen sich erstreckenden Fürsorge auch die Volkswirt­schaft und das Gemeinwohl am besten gedeihen werden. Es ist heute notwendig, darauf hinzuweisen, in welchem Umfang der Mensch selber den Mutterboden aller Kultur und aller wirtschaftlichen Produktivität darstellt. Ver geudung der Bodenkraft hat keine verheerenderen Fol­gen als Vergeudung, raubbauartige Aus­nuzung der Menschenkräfte."

Wir sind heute so weit, als einzige Glück und Zukunft ver­heißende Frucht der vernichtenden Kriegszeit das stolze: Der Mensch ist da um des Menschen willen; sein Wohl, sein Glück und alles, was diesem einen dienen kann, ist das oberste, für alles und für alle richtunggebende Gesetz! buchen zu können. Die Sozialisierung der Wirtschaft und der damit verknüpfte Um- und Ausbau des Arbeiterrechtes, die Einheitsschule, eine in grundlegenden Teilen neue Rechts- und Lebensordnung sind Etappen auf dem Wege zu diesem Ziele. Eine Etappe auch das, was uns in den folgenden Abschnitten beschäftigen soll: die Sozialisierung der Wohlfahrtspflege.

II. Die Armenpflege.

Es ist noch nicht so gar lange her, daß Armut und Ver­brechen übereinstimmende Begriffe waren. In England steckte man die, die dieses Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung schuldig befunden waren, in Armenhäuser, von denen Dickens  in seinem berühmten Roman David Copperfield" eine er­schütternde Schilderung gibt. Bei uns entzog man dem Emp­fänger von Armenunterstüßung gleich den Verbrechern und Geisteskranken die bürgerlichen Ehrenrechte.

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Die Revolution hat diesem Unfug ein Ende gemacht. In Erfüllung des neuen Geistes, den sie uns gebracht, der neuen Ziele, die sie uns gesteckt hat, müssen wir nun daran gehen, die sozialen Krankheitserscheinungen zu erkennen und ihnen von der Wurzel, das heißt von der ihnen zugrunde liegenden Ursachenreihe her zu begegnen.

In diesem Zusammenhang ist festzustellen, daß so Armut und Verbrechen in der Tat zumeist der gleichen Wurzel ent­stammen. Es sind Milieuerscheinungen, Folgen der in der wirtschaftlichen und geistigen Umwelt gegebenen Lebensbe­dingungen. Der Sohn des Millionärs braucht nicht zu stehlen. Er kommt auch nie in die Verlegenheit, Armenunterstützung annehmen zu müssen. Selbst wenn er arbeitsunfähig, geistig minderwertig oder sonst lebensuntauglich ist, wird so für ihn gesorgt, daß er nicht Gefahr laufen kann, irgendwie mit der öffentlichen Ordnung in Konflikt zu kommen. Ganz anders bei jenen breiten Massen, die, gänzlich mittellos, zur Er­