Nr. 30
Die Gleich heit
über der vorrevolutionären Zeit das Interesse der weiblichen Bevölkerung für alles öffentliche Geschehen eine erhebliche Steigerung erfahren hat, ganz besonders in bezug auf die Politik. Und dennoch scheint es, als fönne nicht oft genug darauf hingewiesen werden, daß der Allgemeinheit erst dann ein sich ständig steigernder Nutzen aus der politischen Gleich berechtigung der Frauen erwächst, wenn jede Frau, jedes Mädchen die ihr innewohnenden Fähigkeiten nicht verkümmern läßt, sondern sie zum Leben erweckt, weiter ausbildet und ent. wickelt, um sie der Allgemeinheit nutzbar zu machen.
Dabei soll keine denken, sie habe der Allgemeinheit nichts zu geben. Jeder Mensch, der, die Leiden seiner Klasse erkennend, ernstlich bestrebt ist, sie zu beseitigen, kann zu seinem Teil daran mitarbeiten, sofern nur der Wille dazu vorhanden ist, und man die Verpflichtung, der Allgemeinheit zu dienen, in sich fühlt.
Die deutsche Arbeiterschaft hat, abgesehen von den Verbands. tagen der einzelnen Gewerkschaften, in der letzten Zeit zweimal große Heerschau gehalten. Auf dem Parteitag in Weimar hat unsere Partei vor aller Deffentlichkeit Bericht gegeben über ihre während des Krieges und der Revolution geübte Tätig keit, sowie über das wirken unserer Fraktion in der National versammlung. Der Gewerkschaftskongreß in Nürnberg berichtete über die Kriegstätigkeit der Gewerkschaften; beide große Tagungen legten die Richtlinien für die künftige Arbeit in den beiden großen Vereinigungen der Arbeiterklasse fest. Wer die Berichte aufmerksam verfolgte, mußte erkennen, daß die Gleichberechtigung der Frauen dabei entschieden zu kurz gekommen ist, ja daß die Beteiligung eine durchaus unzulängliche war. Konnte man mit der Anwesenheit der weiblichen Delegierten auf dem Parteitag noch einigermaßen zufrieden sein( 45 weibliche Delegierte bei ca. 14 Mill. weiblichen Parteimitgliedern), so war sie beschämend niedrig beim Gewerkschaftsfongreß, an welchem insgesamt 6 weibliche Delegierte teilnahmen. Das ist um so überraschender, als die Gewerkschaften ca. 34 Mill. weibliche Mitglieder zählen, und ebenso wie die Partei noch niemals eine so große Zahl weiblicher Mitglieder hatten. Ueberraschend auch deshalb, weil es eine ganze Reihe von Verbänden gibt, welche zur Hälfte, Zweidrittel und noch mehr aus weiblichen Mitgliedern bestehen und doch keine weibliche Delegierte entsandten, ja nicht einmal Frauen zur Wahl stell
Ge
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Feuilleton
Erfatz für manches beut die Welt,
Für Liebe beut sie nichts.
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Platen.
estern bin ich seit langem wieder an Vaters Grab gewesen. Es lebt von ihm kein Stäubchen mehr. Aber die Erinnerung ist noch frisch lebendig.
Als der Bater starb, war ich noch klein, beinahe der kleinste von fünf Geschwistern; aber ich befinne mich gut; draußen war es schön, es blühte und grünte und die Sonne schien. Dicht vor unsern Fenstern stand ein alter, ruppiger Apfelbaum; der streifte mit den Aesten die Mauer; ein blühender Zweig recte sich gar wie ein langer, schneeweißer Gänsekragen zum Fenster herein; wollte man das Fenster schließen, so mußte man erst den Zweig beiseiteschieben.
In der Stube lag der Vater tot.
Die Stube hatte blaßgrüne Tapeten, das weiß ich noch gut. In der rechten Ecke, wo der Ofen stand, war die Tapete ein Stück weit losgelöst. Der Tapezierer hätte schon vor drei Wochen kommen solfen, aber er kam nie. Was hatten nicht Vater und Mutter über die faulen Hantierer gewettert! Und min war es so auch recht. Niemand ärgerte sich mehr über die losgelöste blaẞgrüne Tapete.
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ten. Es ist das um so weniger verständlich, als es keine Frage auf gewerkschaftlichem Gebiet gibt, die nicht in gleichem Maße das Interesse der Frauen wie der Männer beansprucht; aber viele Fragen, die von weit höherem Interesse für Frauen als für Männer sind, z. B. Arbeiterinnenschutz, Mutterschutz, Jugendlichenschutz, die ohne Beratung mit Frauen gar nicht behandelt werden dürften. Und trotzdem eine so beschämend niedrige Beteiligung!
Sucht man nach den Gründen, so scheint es, als hätten die weiblichen Gewerkschaftsmitglieder die Auffassung, es genüge schon, Mitglied der Berufsorganisation zu sein und zu wiffent, welche Vorteile sie bietet. Die Anwesenheit von Berufskollegin nen auf dem Gewerkschaftskongreß sei so sehr notwendig nicht. Die dort gefaßten Beschlüsse werden ja am Orte durchgefühit und eine leider überall viel zu kleine Gruppe von Kolleginnen arbeite ja an ihrer Durchführung init. Und dann ist wohl auch die gleichgültige Auffassung vorhanden: wozu soll ich mich erst aufstellen lassen, gewählt werde ich ja doch nicht! Gerade diese Auffassung muß ernstlich bekämpft werden. Wohl hängt jede Wahl vom Zufall ab, aber notwendig ist, daß die Frauen sich zur Geltung bringen, entsprechend der Zahl der weiblichen Mitgliedschaft Mandate verlangen, selbst Kandidatinnen benennen und aufstellen, vollzählig zur Wahl gehen und so ihre Kandidatin durchbringen. Es zeugt doch wahrlich nicht von großem Interesse an der Vertretung durch eine Kollegin, noch weniger aber von Solidarität, wenn eine aufgestellte Kandidatin nicht einmal alle abgegebenen Stimmen der Wählerinnen erhält, wie es bei Wahlen zu Verbandstagen schon vorgekommen ist. Damit ist erwiesen, daß die Tätigkeit der einzelnen Kollegin für die Gesamtheit noch nicht einmal von ihren eignen Geschlechtsgenossinnen richtig gewürdigt wird. Wie viele, die Zeit und Kraft für ihre Kolleginnen in der Gewerkschaft opfern, müssen sich anfeinden lassen, wie bielen wird Eigennüßigkeit, Selbstsucht oder gar noch schlimmeres unterstellt, weil sie im Interesse der Gesamtheit arbeiten. Wie viele wertvolle Kräfte sind der Allgemeinheit durch solche Unterstellungen wieder verloren gegangen, sehr zum Schaden der Frauen selbst.
Solche Kleinlichkeiten sind nie om Plaze gewesen. Sie sind vollends überlebt in einer Zeit, die uns Frauen auf den Plan ruft und das Höchste von uns verlangt: mitzuarbeiten an der
Ueber Vaters Schreibtisch hing an der Wand eine große, freisrunde Scheibe mit einem einzigen Schusse mitten int Zentrum. Das heißt man einen Jungfernschuß.
Ja, Vater war weit und breit der beste Schüße und Jäger gewesen und hatte tagaus, tagein in der dumpfen Schulstube sitzen müssen, denn er war Schullehrer.
Wir hatten auch einen alten, alten, verschnörkelten Pianoforte- Flügel im Zimmer stehen; ein Monstrum von einem Klavier. Mir kleinem Knirps wenigstens schien es nach Länge und Breite hin kein Ende zu nehmen. Auf dem Flügel hatte der Vater oft des Abends gespielt, und wir pflegten vor der Tür zu lauschen. Denn während er spielte, durfte niemand ins Zimmer.
Wenn wir draußen zu laut wurden- und das traf jedesmal zu brach drinnen das Spiel plötzlich mitten im schönsten Takt ab und wurde heftig ein Sessel gerückt. Da war es jedesmal höchste Zeit, zu verschwinden. Aus weiter Ferne, in sicherer Deckung, hörten wir dann mit wohligem Gruseln den Vater in den dämmerigen Hausflur hinausschelten.
Und nun war der riesige, hellbraun polierte Flügel schwarz ausgeschlagen. Darauf lag der Vater aufgebahrt. Mutter und Geschwister weinten im Nebenzimmer.
Ich hatte mich zum Vater hineingeschlichen. Es Dar in dem Ramme recht still und friedlich. Nur eine große Fliege summte um die brennenden Wachskerzen herum und machte einen heillosen Lärm.
Ich Dreikäsehoch recte mich in die Höhe, so gut es ging. Kaum daß ich mit Mühe Baters Fußspigen erreichte. Und fniff ihn beherzt in die große Zehe ganz gehörig. Noch