Nr. 30

Die Gleichheit

gangspunkt der Verwahrlosung und des Niederganges der Familie nur darum werden mußte, weil die Hausmutter in dieser kritischen Zeit ihren Hauswirtschaftlichen   Pflichten nicht nachkommen konnte, oder wenn sie ihnen nachkam, das mit borübergehender oder dauernder Zerrüttung ihrer Gesundheit bezahlen mußte. Hier waren in solchen Fällen nur zwei Möglichkeiten gegeben. Die eine, daß während der Zeit des Wochenbettes oder der Krankheit Unordnung, Nachlässigkeit und Schmutz in den Haushalt einziehe, die so überhand­nehmen, daß die vom Bett aufgestandenz, noch schwache und bielleicht durch minderwertige Ernährung heruntergebrachte Frau nach einigen vergeblichen Versuchen, der Wüstenei Herr zu werden, den aussichtslosen Kampf aufgibt und den Feinden geordneten Familienlebens das Feld überläßt. In solchen Beiten mag es dann leicht so kommen, daß der Mann, ange­widert von dem häuslichen Elend, zum ersten, aber leider nicht zum letzten Mal den Weg ins Wirtshaus findet. Könnte man allen solchen Zusammenhängen bis zur ersten lirsache nachgehen, so würde man nicht selten erkennen müssen, daß die Geburt eines Kindes zum Ausgangspunkt von Trunksucht und Elend mannigfacher Art, von Verwahrlosung und Ver­wüstung eines bis dahin geordneten Familienlebens geworden ist. Oder die andere Möglichkeit. Wenn eine Frau so über­menschlich fleißig und pflichtgetreu ist, daß sie unmittelbar nach ihrer Niederkunft die Haushaltarbeiten wieder auf­nimmt, dann zahlt sie recht häufig für Fleiß und Pflichttreue mit Krankhaftigkeit und Siechtum, und die Familiennot ist, bon einer anderen Seite her, wiederum da..

Beidem möchte die Hauspflege begegnen. Ihre Geschichte beweist, daß ihr das in Tausenden von Fällen gelungen ist. ( Vgl. die Berichte des Hauspflegevereins in Frankfurt   a. M.) Im Laufe der Zeit entstanden dann an den verschiedensten Orten Deutschlands   Hauspflegevereine, die sich im Jahre 1908 zu einem Verband der Hauspflege zusammenschlossen, der unter dem Vorsitz von Frau Hedwig Heyl   zu seinen prak­tischen Aufgaben die weitere der Ausbreitung des Hauspflege gedankens und der Ueberführung der Hauspflegeeinrichtung aus einer Wohltätigkeits- oder Wohlfahrtsangelegenheit in einen Rechtsanspruch fügte. Der gesetzlichen Festlegung, die das letzte Ziel dieser Aufgabe ist, soll durch die Gründung recht zahlreicher Hauspflegekassen vorgearbeitet werden.

faß eben beim Frühstück. Der Tisch war mit blühweißem Linnen gedeckt. Darauf stand ein schönes, bauchiges, dunkel­blau geblümtes Kaffeegeschirr, und viel, viel Weißbrot. Die gelbe Butterflade, die sich auf dem fattblauen Teller gar so absonderlich einladend ausnahm, werde ich auch nie vergessen; für solche Dinge habe ich fleiner Bub ein Auge gehabt!

Der Herr Defan war ein stattlicher, wohlhäbiger Mann mit einem immer freundlichen Gesicht. Er schob im Aufstehen den breiten, ledergepolsterten Sessel ein wenig hinter sich und hieß uns alle herzlich willkommen. Die Mutter füßte ihm als erste die Hand, dann drückten wir Kinder unsre nicht ganz trocknen Näschen auf seinen Handrücken. Aber er ließ es sich ruhig ge­fallen und hatte für jedes ein freundliches Wort. Dann sagte er zur Mutter:

Harte Zeiten... was, Mutter!! Freilich ja! Wen Gott  lieb hat, den sucht er heim!"

Darauf sagte die Mutter:

Dann muß er mich aber schon recht lieb haben!"

Und es schlug ihr die Stimme um, da ihre Augen uns streiften, die wir zu fünft dastanden wie Orgelpfeifen und feinen Ernährer und Vater mehr hatten.

,, Mutter!! Nit verzagt sein! Ihr Seliger ist durch drei­undzwanzig Jahre Lehrer gewesen... und immerfort recht schaffen... ein Tiroler Kernmensch durch und durch! Das vergißt ihm die Gemeinde nit: Sechzig Gulden Witwen­pension hat die Gemeinde für das Mutterl ausgesetzt- Jahr für Jahr; solang das Mutterl lebt; und wir hoffen, noch recht Jang!"

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Der Verband soll mit allen Kräften die Umwandlung dec durch die Reichsversicherungsordnung vorgesehenen fakulta­tiven Gewährung von Hauspflege in eine gesetzlich geordnete obligatorische Leistung der Krankenkassen und sonstigen ver­pflichteten Instanzen betreiben. Er soll ferner die Vereini gung von gesetzlich geordneter mit freier Vereinstätigkeit, bie wohl denk- und auch gesetzlich durchführbar ist, dadurch vor­bereiten, daß er durch geeignete Propaganda dem Gedanken der Verpflichtung zur Hauspflegerischen Betätigung überall Eingang verschafft.

Durch den Krieg ist nun eine ganz neue Sachlage geschaffen, die ganze Angelegenheit unendlich vorangetrieben worden. Die Tätigkeit der Hauspflegevereine hat sich wesentlich ver­mehrt und ist weitaus schwieriger geworden. Es fehlt an geeigneten hauspflegerischen Kräften und es fehlt an Mitteln. Dem kann nur abgeholfen werden, wenn die Krankenkassen unter finanzieller Beihilfe der Gemeinden die Hauspflege übernehmen und zwar als obligatorische Leistung in all den Fällen, in denen das Familieneinkommen der Kranken oder Wöchnerin eine gewisse Höhe nicht übersteigt und nachweislich niemand da ist, der, die Besorgung des Haushalts an Stelle der behinderten Hausfrau übernehmen kann.

Soll freilich die Hauspflege den Krankenkassen als eine obligatorische Leistung auferlegt werden, so bedarf es einer Abänderung der Reichsversicherungsordnung, so daß man sich einstweilen damit begniigen muß, eine möglichst große Anzahl von Kassen zur freiwilligen Leistung von Hauspflege an ihre Mitglieder zu vermögen. Durch die Paragraphen 185 sowie 196 Absatz 1 Nr. 2 der N.V.D. ist den Krankenkassen das Recht auf Gewährung von Hauspflege eingeräumt, und einige Kassen haben von diesem Recht bereits Gebrauch gemacht. Ant frühesten war wiederum Frankfurt   a. M. auf dem Plan. Int Jahre 1914 wurde vom 1. Juni bis 31. Dezember in 39 Fällen durch die Ortsfrankenkasse Hauspflege gewährt. Im Jahr 1915 waren es 53 und im Jahr 1916 46- Fälle. Die Kosten beliefen sich auf 1075 Mt. bzw. auf 1275 und 1179 Mr. Nach den vorliegenden Berichten erfährt dadurch die Kasse eine Be­lastung von etwa 1 Pf. pro Stopf und Jahr. Freilich ist die Zahl der Verpflegungsfälle, gemessen an der Mitgliederzahl der D.-K.-K. und den auf sie nach Maßgabe der städtischen Geburtenfrequenz entfallenden Geburten minimal. Aber

Und der Herr Defan sette nun der Mutter des weitern aus­einander, wie sich die Gemeinde auch bereits den Plan unsrer weiteren Versorgung bis in die kleinsten Einzelheiten zurecht­gelegt hätte. Vor allem galt es, der armen Lehrerwitwe die drückende Kinderlast abzunehmen.

,, Kinder sind eine schwere Last; hab ich nicht recht, Mutterle?" Wir sollten von der Mutter; das eine dahin, das andere dorthin, zu fremden Leuten. Ich sollte an einen Bauec auf dem Nördersberg abgegeben werden; das weiß ich noch gut. ,, Ein guter, christlicher Bauer," fügte der Dekan hinzu.

Weiß Gott  , wir Kinder hatten uns oft gezankt und waren manchmal aufeinander gewesen wie Hund und Kaze; nun aber, da wir auseinander sollten, tasteten wir alle wie auf Kommando hastig nach des nächsten Hand oder Arm oder Rock­falte, und schlossen uns zitternd zusammen. Und unsre zehit Augen hingen, weiß Gott  , in großer Herzensangst an der Mutter.

Ich weiß noch gut, die Mutter schwieg ein Weilchen, aber in ihrem feinen, blassen Gesicht zuckte es und bebte es. Donn schiittelte sie lange bevor sie noch ein Wörtlein heransbrachte langsam den Kopf; endlich sagte sie und eine Blutwelle schoß ihr in die Wangen  :

-

,, Hochwürden! Ich dank der Gemeinde! Aber ich laß feins weg! Gelt, Kinder! Wir bleiben beieinander! Ich will's schon so auch fertigbringen! Es muß gehn!"

O, wie hell und wohl und warm wurde da uns Kindern. Ein heißer Hauch von Mutterliebe wehte uns alle an. So dankbar enge haben wir uns auch nie mehr aneinandergedrückt, als damals in Herrn Defans Frühstückszimmer.