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Die Gleich beit

liegt es nun, daß diese Arbeitnehmer in unserer modernen Zeit fast gar keine Möglichkeit haben, auch ihre Rechte und Wünsche geltend zu machen? Zum Teil liegt es sicher an der unbegreiflichen Interesselosigkeit der Eltern an den Schulangelegenheiten ihrer Kinder, zum Teil ist es auch die leider oft nur zu berechtigte Scheu der Eltern, an der Schule irgend etwas auszusehen. Sie glauben immer, daß ihr Kind dadurch in den Augen der Lehrer weniger vorteilhaft er­scheinen könnte. Und gar die Kinder irgendwie mitreden zu lassen, und wären ihre Wünsche auch noch so berechtigt, da würden die Lehrer immer fürchten, daß die strenge Diszi­plin, die sie für so notwendig halten, untergraben würde. Die Lehren eines Wyneken, Geheeb, Lujerke scheinen sie leider nicht zu kennen. In den Schulen geschehen nun aber fortwährend Dinge, die nicht im Sinne der Eltern oder der Schüler sind, die sie trotzdem in feiner Weise beeinflussen fönnen; auch geeignete gute Vorschläge für Neuerungen und Aenderungen hätten Eltern und Schüler sehr oft zu machen. Sehr unpädagogisch werden dagegen solche Schul­angel genheiten im Hause oft von den Eltern mit den Ain­dern besprochen, gelangen aber fast nie an das Ohr des Lehrers, der daraus Vorteil ziehen fönnte. Warum stehen die Lehrer auf so hohen, den Kindern unerreichbaren Posta­ntenten, von denen sie nur hinabsteigen, um zu ermahnen und zu strafen, anstatt gerade die intimen Aeußerungen der Kinderpsyche zu belauschen, indem sie die kleinen Freuden und Schmerzen der Kinder teilen und miterleben; viel Interessantes würde sich ihnen hier enthüllen, dessen Kennt­nis wieder zur Herausbildung der Schulen beitragen würde. Wieviel besser könnte der Lehrer oder die Lehrerin ein Kind beurteilen, wenn sie genau über seine häuslichen Verhält­nisse orientiert wären, wenn sie wüßten, ob ihm die nötige Schlafenszeit gegeben wird, ob es richtig ernährt wird, ob es ein Plätzchen hat, wo es in Ruhe seine Schulaufgaben machen fann. Wieviel Kinder werden von ihren Lehrern direkt verkannt. Sie werden für troßig gehalten, während sie nur schen sind, sie gelten für faul, während sie vielleicht mit ihrer ganzen findlichen Kraft den ganzen Tag einen Augenblick ersehnt haben, in dem sie ohne Ablenkung an das denken fennten, was der Lehrer ihnen gesagt hat.

Solche Irrtümer würden nicht vorkommen, wenn die Lehrer dem ganzen Kinde mehr Interesse entgegenbringen würden und auch Gelegenheit hätten, mit den Eltern über die Kinder zu sprechen. Die Schuld liegt hier nicht nur an den überfüllten Klassen, sondern vielmehr an dem ganzen System. Immer wieder werden von einzelnen Lehrkräften in Deutsch  , Geschichte, Religion Ansichten vertreten, die den Ansichten vieler Eltern durchaus entgegengesetzt sind. Die Eltern schweigen der Schule gegenüber; aus den Aeußerun­gen im Hause merken aber die Kinder sehr bald, daß die Ansichten ihrer Eltern mit denen ihres Lehrers durchaus nicht übereinstimmen, und werden dadurch in Widersprüche beripidelt. Allerdings bedeutet es für die Lehrer eine Un­möglichkeit, ihren Schülern die Ansichten sämtlicher Eltern borzutragen, aber mit etwas mehr Takt und nicht so ein feitig orientiert, könnte der Unterricht besser werden. Ich möchte aber von praktischeren Dingen sprechen, z. B. im Winterhalbjahr wird Afrika   durchgenommen; da in der Fa milie mehrere Kinder einen Atlas benußen, so muß das arme Kind den schweren Atlas zu jeder Geographiestunde hin- und zurücktragen, trotzdem es das ganze halbe Jahr nur die Karte von Afrika   braucht. Wäre es da nicht wirklich einfacher und billiger, eine Karte von Afrika   auf Leinwand zu ziehen, und das Kind könnte das ganze Semester den Atlas entbehren? Oder müssen die Eltern nicht immer wie­der teure Bücher anschaffen, um dann zu erleben, daß nur einige Seiten davon benutzt werden? Die Lehrer sollten sich doch wirklich über ihr Pensum und den Gebrauch von Büchern vor Beginn des Semesters orientieren können. Die Verleger würden ihnen sicher entgegenkommen. Immerfort werden neue Auflagen der Schulbücher gedruckt und sollen

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dann gleich angeschafft werden; diese neuen, oft wenig ver­änderten Auflagen müßten wenigstens so eingerichtet wer­den, daß die alten Auflagen ohne Schwierigkeit daneben be­nutzt werden könnten, damit die Eltern nicht gezwungen wären, für jüngere Geschwister, die dieselbe Schule besuchen, neue Bücher anzuschaffen. Ein besonderer Zug von Pedan­terie ist die Fortsetzung des Handarbeitsunterrichts bei dem jezigen vollkommenen Mangel an Stoffen und Nähgarn. War es mir z. B. durchaus unsympathisch, daß die Kriegs. anleihezeichnungen und die Goldjammlungen in den Schulen so gefördert wurden und ein Kind das andere immer über­bieten wollte, so fand ich es ganz unerhört, daß die Kinder der Gemeindeschulen zum Betteln für das Vaterland in fremde Häuser geschickt wurden. Auch das Singen der Kur­rende quf den Höfen der Häuser ist mit modernen Ideen von Jugenderziehung natürlich unvereinbar. Und dann sind so viele andere Dinge, die unmutig machen. Es werden Schullandpartien gemacht. Die Eltern möchten ihren Kin­dern natürlich das Vergnügen nicht vorenthalten. Könnten die Lehrer nicht wenigstens die verabredeten Zeiten genau einhalten, damit die Eltern nicht so lange in Angst auf ihre Kinder warten müßten? Ueberfüllte Schiffe oder Fähren und alkoholische Getränke scheinen auch zu fast allen Schul­Landpartien zu gehören.

Wieso jedes Kind einer Klaffe ganz genau weiß, welcher Schüler abschreibt oder abfiest, während es der Lehrer nicht weiß, ist mir unbegreiflich. Sie sind bei ihrer stets getadel­ten Unaufmerksamkeit immer noch aufmerksamer als der Lehrer. Vieles hören und sehen die Eltern mit Mißver­gnügen, aber sie mudsen nicht. Ich kenne Schüler aus den höchsten Klassen, die nicht wissen, was der Reichstag   oder der Landtag ist, während man ihnen doch wirklich als Haupt­sache in großen Zügen in der Geschichtsstunde die Verfassung des Deutschen Reiches, ihres Vaterlandes, klarlegen müßte. Eine solche Unwissenheit in bezug auf die römische Verfas­sung würde der Lehrer jedenfalls stark rügen.

Durch die Revolution haben die Kinder sozusagen die Politik am eigenen Leibe erfahren und dadurch ihre Kennt­nisse bereichert, aber ebenso viele Unklarheiten und Umwahr­heiten in sich aufgenommen. Durch einen methodischen Un­terricht muß erst die Unterlage für eine spätere Betätigung geschaffen werden.

Ein besonderes Martyrium für Eltern und Kinder ist der deutsche Aufsatz. Ich weiß natürlich, daß es Kinder gibt, die sich am letzten Tage erst hinfeßen und dann den Aufsatz gleich ins Reine schreiben und die auf diesem Wege etwas ganz Gutes zustande bringen. Aber diese Kinder sind die Ausnahme. Sie brauchen trotzdem mit ihren sonstigen Fähig­feiten gar nicht zu den besten Schülern zu gehören. Für die allermeisten aber ist der deutsche Aufsatz die allerschwierigste und gefürchtetste Aufgabe, mit der sie sich gar nicht recht ab­zufinden wissen. Ich möchte da die Kinder in zwei Grup­pen teilen: in solche, die wohl den Stoff beherrschen, die aber den richtigen Ausdruck nicht finden können, und in solche, denen fein Stoff einfällt, die sich mit wenigen leeren Phrasen zu helfen suchen. In den meisten Fällen, wenig­stens bei Schülern der höheren Lehranstalten, wird die ganze Familie zur Hilfe herangezogen, und aus der Bibliothek wird Passendes und Unpassendes abgeschrieben. Ich habe oft erlebt, daß bei Abschriften aus guten, anerkannten Schriftstellern dem Lehrer der Stil nicht gefiel und er int Heft eine dementsprechende Bemerkung machte, und natürlich amüsierten sich die Kinder darüber. Wieso kann der Lehrer seine Schüler so wenig beurteilen, daß er Eigenes und Fremdes nicht unterscheiden kann? Stoffmangel follte nie ein Erschwerungsgrund für einen Aufiat sein, denn wenn die Disposition in der Stunde klar und logisch durchgenom­men würde, so wäre es unmöglich. Meist sind aber leider die Themen, besonders in Mädchenschulen, mehr auf Ge­fühlsausbrüche zugeschnitten, anstatt recht reale Dinge zu behandeln, die den Mädchen so förderlich wären. Trotzdem