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Die Gleich beit
Neligion als Jnbegriff eines übernatürlichen Gottesglaubens hat ihre Quelle in der Hilflosigkeit des menschlichen Geistes gegenüber den erhabenen Erscheinungen im Weltall . Da, wo ihn das Erkennungsvermögen verließ, schuf sich der Mensch den Gottesbegriff. Mit der Entwidlung der Menschheit erfuhr dieser Cottesbegriff mannigfache Wandlungen. Der Mensch schuf sich Gott nach seinem Bilde und paßte ihn seiner Entwicklung an. Unsere Uvahnen beteten zu Gözenbildern; Göttern des Guten und Vösen, Produkte ihrer primitiven Kunst. Der moderne Der moderne Mensch bedarf dieser grobsinnlichen Veranschaulichung nicht mehr. Seine Seele ist auf die Seunst übersinnlicher Vorstellung eingestellt. Wir empfinden das als eine Höherentwicklung des Gottesbegriffes. War damit eine„ moralische Höherentwicklung" verbunden? Im letzten Kriege haben wir alle Brutalität der Urzeit in so und so vielfacher Wiederholung erlebt. Sie trat in der Urzeit grob und zügellos auf. Heute ist sie verfeinert und wohi organisiert. Das ist der Unterschied. Eine sittliche Höherent widlung hat also die Neligion im Verkehr der Völker nicht gezeitigt. Was von der Menschheit als Gesellschaft gift, trifft auch für den Menschen als Ginzelwesen zu. Der religiöse Sittenlose- nicht nur im kriminellen Sinne ist durchaus keine seltene Erscheinung. Ich kenne Leute, die Lebensmittel im Schleichhandel erwerben, deren aufrichtige Gläubigkeit für mich außer Zweifel steht. Und ich möchte sie nicht zählen all die gläubigen Schieber. Der Zusammenhang zwischen Religion und Sittlichkeit besteht also nicht in dem Maße, wie angenommen wird.
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Der Glaube an sich löst feine Sittlichkeit aus. Es muß damit dás Sireben nach der Erlangung des göttlichen Wohlgefallens verbinden. Dafür ist sittliches Wohlverhalten Voraussetzung. Wer das Gute um des Guten willen lebt, fein sittliches Verhalten also nicht von der figierten Gottwohlgefälligkeit abhängig macht, der sollte seinen Kindern Sittlichkeit auf direktem Wege übermitteln können. Aus unserer eigenen Erfahrung sollten wir dabei lernen. Das Kind soll nicht erst, wie einst wir selber, in einen Himmel eingeführt werden, aus dem es später in die rauhe Wirklichkeit zurückgerissen wird. Im jungen Kindesalter ist die Seele des Kindes nicht auf das Uebernatürliche eingestellt. stellt sich den Gott, von dem die Mutter spricht, durchaus perfönlich vor.
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Als meine vierjährige Nichte ein feines Vergehen( sie hatte es nicht begangen) nicht eingestehen wollte, fuhr die Mutter ih:
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Feuilleton
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Wenn der Mensch fich etwas vornimmt, fo ift ihm mehr möglich als man glaubt.
Lobt froh den Herrn...
Pestalozzi.
( Eine Anregung für die Umgestaltung der Fürsorgeerziehung.)
Eine etwas ſonderbare Ueberschrift über einen Artikel- in un
serem sozialistischen Frauenblatt, nicht wahr?
Aber ich kann mir nicht helfen: Der Satz flingt mir trotz der dazwischenliegenden Zeit immer noch gleich lebendig- eindringtich, flagend und-mahnend im Ohre nach, daß er sich gleichsam bon selbst als Ankläger da oben hingesetzt hat.
An einem strahlend schönen Augustsommertag vorigen Jahres war es. Da ging ich in fast lange verlernter Ruhe und Beschaulichkeit, von der Bahnstation V. kommend, die stille, menschenLeere Straße her auf die Knabenfürsorgeerziehungsanstalt S. in H. zu. Es wurde mir nach den gepeinigten Wochen der vorhergegangenen aufreibenden Kriegszeit einmal ganz wohl und leicht ums Herz in der betauten Morgenfrühe, zwischen den vollbeHangenen Wepfel-, Birn- und Zwetschenbäumen, die hüben und brüben die Straße einsäumten.
In der Fürsorgeanstalt war schon längere Zeit ein feiner Anabe untergebracht, den ich s. 3t. während meiner Kriegshilfszeit auf unserem Rathause trotz des bösartigen Widerstandes einiger unfähiger, hirnbeschränkter Polizisten aus dem Sittchen" nach Hause zum Schlafen in einem richtigen Bette mitzunehmen burch gesetzt hatte und der dann der Fürsorge überwiesen wurde..
In dem etwa zwei Stunden von der erwähnten Anstalt entfernben schönen Streisstädtchen Sch. veranstaltete der Mhein- Mainische Verband für Wolfsbildung in jenen Tagen eine in ihrer Art feltene, schön verlaufene zehntägige Boltsakademie, wozu auch ich mich auf drei Tage eingefunden.
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lebtes fchiveres Geschüß auf mit dem Hinweis auf Gott , der alles Höre und sehe. Worauf ihr das Kind prompt erklärte:„ Nun, so frage ihn doch, dann wird er dir schon sagen: nein." As unferes Nachbars Söhnchen gestorben war, fragte eins meiner kleinen Geschivister, ob der Sargträger der liebe Gott fei. Die Mutter hatte ihnen gesagt, der liebe Gott Hole das Kind zu sich. In nicht geringe Verlegenheit verfekte mich einmal mein vierjähriger Bruder, den ich als 18jährige mit in die Kirche zur Christseier genommen hatte. Nachdem er einige Minuten suchend umhergeblidt hatte, sagte er ganz laut:" In dieser Kirche ist der liebe Gott ja gar nicht; woll'n mal nach' ne andere gehen."
Aehnliche Dinge wird wohl jede Mutter an ihren Kindern er= leben. Die Vorstellung vom übernatürlichen Gott erwirbt das Kind erst allmählich. Sie wird durch den Religionsunterricht in der Schule bis zu einem gewissen Grade iweiterentwickelt, unt dann, infolge der Widersprüche zu anderen Unterrichtsfächern allmählich zu verwischen, ohne vielleicht jemals ganz klar geworden zu sein. Tenken und Glauben geraten miteinander in Konflikt und wenn des Kindes Sittlichkeit im Glauben an Gott begründet wäre, so müßte sie im Augenblick des Konfliktes zusammenbrechen. Wie weit in einzelnen Fällen sittliche Entwurzelung zusammenfällt mit diesem Konflikt, läßt sich nicht feststellen. Von den Anhängern der religiösen Erziehung wird die bekenntnisfreie Ec ziehung mit dem Hinweis auf die sittliche Gefährdung bekämpft. Ist aber der Konflikt bei der religiösen Erziehung unvermeidlich und dadurch die Gefährdung möglich, so beweist das, daß die Neligion nicht die richtige dauerfeste Grundlage für die Sittlichkeit ist. Warum aber schaffen so viele Mütter ihren Kindern den Es fehlt Konflikt, trotzdem sie selber durch ihn hindurch mußten ihnen an einer leichtfaßlichen Form, dem Kinde ihre sittlichen Begriffe zugänglich und lieb zu machen. Der Gottesbegriff, in dem wir erzogen wurden, hat unsere selbstschöpferische Kraft ge= lähmt. Wir schaffen den physischen Menschen selbst und trauen uns nicht zu, auch seine Scele formen und bilden zu können. Zat zartesten, hilflosen Kindesalter gehört den Eltern, besonders den Müttern, die ungeteilte Liebe ihrer Kinder. Und sie verweisen diese Liebe, je mehr sie dem Stinde bewußt wird, an einen Gott, ins Ungewiffe. Ist das nicht widersinnig? Sollte man nicht bei der Natürlichkeit der kindlichen Seele auf diesem Grund aufbauen, aus der Liebe zu den Eltern gleichzeitig die Liebe zum Guten heranbilden können? Geben wir unseren Kindern nur Fleisch
Wie hätte ich, auf diese Weise in die Nähe der Kindes gelangt, wieder nach Hause zurückkehren können, ohne den armen Hans einmal aufzusuchen?
Nur wenige Menschen begegneten mir in dem kleinen, gleichnamigen Dorfe S., hinter dem die genannte Anstalt ganz im Grünen versteckt dastand. Unmittelbar vor dem Anstaltsgebäude lag ein sehr großer unbenutter Landstreifen gänzlich brach, bet dessen Ueberschreiten ich nicht umhin konnte, auszurechnen, wieviele arme Leute sich in dieser schweren, hungernden Zeit darauf Gemüse pflanzen und sich einmal salt daran essen könnten.
Während ich vor lauter dichtbelaubten Hecken und Bäumen von der Anstalt selbst mich nichts weiter als nur eine graue Ralfwand durch das Grüne schimmern sah, schlug auf einmal der Gesang des als Ueberschrift dienenden bekannten Geßnerchen Liedes an mein Ohr. Unwillkürlich den Tönen nachgehend, stand ich plötzlich vor der weit offenen Türe einer kleinen Kirche, in der sich mir nun bei dem vollen Klang des Liedes ein unvergeßliches Bild darbot. Im Vordergrunde der Kirche ein Marienaltar, die Muttergottes mit ihrem Jesuskindlein auf dem Arme; beide streckten segnend die rechte Hand aus. Ringsum, wo sich auch nur noch ein ganz kleines Plätzchen dafür bot, vielfarbige Blumen und Gräser in Hülle und Fülle; das Ganze in seiner Gesamtheit eine überaus liebliche Harmonie. Im Hintergrunde aber auf einer Empore, blieb mein Blick dann so gebannt hängen, daß die Bracht im Vordergrunde im Nu um mich versant. Dicht gedrängt stan den da oben um ein Harmonium mit einem ganz jungen Lehrer oder geistlichen Anwärter davor etwa 20-30 Anaben im Alter von 8-13 Jahren. Barfuß, alle gleich die Köpfe geschoren, alle gleich in blauweiß gestreifte Kittel gekleidet, glichen sie einer Schar Gefängnissträflingen wie ein Haar dem andern. Als sich dann, wohl ob dem so äußerst seltenen Erscheinen eines Menschen aus der übrigen Welt hier in ihrer streng abgeschlossenen Stille, aller Augen scheu, aber in unverkennbarer Sehnsucht nach der Freiheit auf mich richteten, da ward mir ganz unbeschreiblich zu Mute. Da drinnen in der Brust wurde mir auf einmal so eng, fast förperlich web; mir war, als legte sich all das unansge