Nr. 34

Zur Sozialisierung

Die Gleichheit

der öffentlichen Wohlfahrtspflege IV. Die Fürsorge für die Kriegsbeschädigten. Eine ganz neue Klasse von Hilfsbedürftigen tritt hier auf den Plan. Als blühende, junge Menschen sind sie hinaus gezogen in den Kampf fürs Vaterland. Gebrochen oder zu­mindest geschädigt an Leib und Seele kehrten sie zurück. Man sieht es ihnen oft nicht ohne weiteres an, und die, denen man es ansieht, die eine äußerliche Verwundung davongetragen, ein Glied verloren haben, find manchmal günstiger daran, als jene anderen, die unterm Anschein äußerer Gesundheit den Schaden bergen, der am Mark ihres Leibes oder ihrer Seele zehrt. Wie oft sehen Schwindsüchtige, Herz- und besonders Nervenkranke so blühend aus, daß niemand sie für krank halten würde! Und wie oft wurde nicht mehr, aber auch nicht weniger als der Wille da draußen gebrochen und mit dem Willens­vermögen das Können, die Arbeits- und Leistungsfähigkeit. Man kann keine organische Krankhaftigkeit an ihnen ent­decken. Man schreibt sie 23 oder 34 erwerbsfähig, und wenn sie dann doch nicht arbeiten oder eine Arbeit rasch wieder fahren lassen, nennt man sie arbeitsschen und arbeitsun­willig.

Die Menschen sind grausam gegen Willensschwäche und ber­gessen, daß fie unverschuldet kam, auch da, wo sie vielleicht in ererbter Anlage bereits vorhanden war.( Es soll gewiß nicht verkannt werden, daß solches Unvermögen auch leicht von minderwertigen und oft bösartigen Elementen vorgetäuscht werden kann und daß daher in manchen Fällen eine gewisse Härte der Beurteilung begreiflich wird.) Wir aber wollen uns daran erinnern, daß die Anlage zur Willensschwäche im normalen Verlauf friedlicher Tage bei vielen gar nicht zum Durchbruch gekommen wäre. Sie hätten in der Tretmühle des Lebens ihre genau vorgeschriebene Pflicht getan und wären ohne das erschütternde, alles aus den Fugen bringende Er lebnis des Krieges niemals entgleist.

und es bei der herzlich wenigen Bezahlung kaum für meine eige­nen Kinder reichte, sonst hätte ich den fleinen Hans längst au mir genommen. Es würde nun zu weit führen, sein nachfolgen­des Echicksal bis zu seiner Unterbringung in die Fürsorge- Er­ziehungsanstalt hier zu erzählen und so fomme ich wieder zur Sache selbst zurüd.

Während der Unterhaltung mit dem Direktor war es inzwischen Mittag und sehr heiß geworden. Durch ein weit offenes Erep­penfenster drang die Sonne ungehindert in den langen breiten Gang von roten Sandsteinplatten, wo vor einer Tür ein großer, schöner Schäferhund lang ausgestreckt in der Hike lag und dann und wann vor wohligem Behagen mit geschlossenen Augen leise vor sich hinknurrte. Als ich nun noch eine Weile so auf dem Gange stand und alle die verschiedenen Eindrüde auf mich wirken ließ, fam ein ungefähr 10-12 Jahre alter 8ögling vom an­deren Ende des Ganges her. Scheu mich von der Seite ansehend, flopfte er leise an eine der vielen Türen auf dem langen Flur. Es wurde dann dieselbe etwa eine Hand breit von innen geöffnet und die schmale, falte Hand einer Schwester reichte einen Schlüs sel heraus, womit der Knabe ebenso lautlos wieder zurückging. Also find die Kinder in den Augen der frommen" Schwestern nicht einmal wert, in ihr Zimmer zu treten, sondern werden, soweit es nicht anders sein muß, vor und hinter den Türen ab­gefertigt.

Nein, diese Anstalten mit ihrem Strafsystem sind nicht die rich­tigen Stätten, wo ein verwahrloftes Kind dem ordentlichen Leben zurüdgewonnen werden kann. Wo das ganze Verhältnis zwischen ihnen, den geistlichen Anstaltspersonen und den Zöglingen mur auf strafende Strenge und täglich mit dem Verlust der Freiheit neu zu büßende Schuld abgestimmt ist, wo den ganzen geistigen Lebensinhalt für den jungen, unfertigen, innerlich doch mit feinen verhängnisvollen, ererbten oder sonstigen im Blute lie­genden Eigenschaften und Neigungen alleinstehenden und ringen­den Menschen nur die Buße" für seine früher als Kind be­gangenen Sünden" ausmachen soll. Was wissen diese, zwischen lauter untadeliger, bürgerlicher Ordnung", einseitig- weltfremder

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Zum andern wollen wir uns aber auch erinnern, daß wir diesen Kreuzträgern des Krieges damals, als die Wogen der Begeisterung hochgingen, den Dank des Vaterlandes gelobt haben und daß wir ihnen diesen Dank nun abtragen müssen.

Die Zeit ist schlecht gewählt für solchen Dank. Ungeheures lastet auf uns. Diese Last muß aber trotz allem und allem zuerst getragen, diesen Opfern des Krieges muß zuerst ge­holfen werden. Das, was bis jetzt für sie getan wurde, genügt nicht. Zwar ist mancherlei in den Rentenansprüchen und Be­zügen gebessert worden, aber viel mehr noch bleibt zu tun. Da ist einmal die Verbesserung der Behandlung und Beköstigung der noch lazarettbedürftigen Kriegsbeschädigten. Sie ist mancherorts angemessen, läßt an anderen Orten aber viel zu wünschen übrig.

Dann muß die Bestimmung fallen, nach der den Kriegs­beschädigten die Rente auf den Lohn bzw. das Gehalt ange­rechnet werden kann. Diese Bestimmung umschließt eine durch nichts gerechtfertigte Härte und Ungerechtigkeit. Wie hoch auch der Arbeitsverdienst des einzelnen Kriegsbeschädigten fein mag: es ist zu unterstellen, daß er ohne die im Krieg er­littene Schädigung in seinem Beruf zu noch höheren Posten und Verdiensten hätte aufsteigen können. Aber selbst in den Fällen, in denen es sich um ungelernte Arbeiter handelt, darf. eine Anrechnung darum nicht eintreten, weil der Kriegsbeschä­digte dauernd einer besseren Verpflegung bedarf, ist zu unter­stellen, daß er frühzeitiger Ganzinvalide werden wird, als der dauernd gesund Gebliebene.

Im Interesse etwa erforderlichen Berufswechsels und der entsprechenden Vorbereitung ist allerorten schon Erfreuliches geleistet worden. Hier ist zu fordern, daß der feinste päda­gogische Taft, zusammen mit eindringender und umfassender Kenntnis der Gewerbe- und der Berufsaussichten, die sie er­öffnen, die Kriegsbeschädigten berät und führt und in ihnen den Willen zum Leben, wie den Willen und das Vermögen zur Arbeit zu wecken und zu stärken weiß. Den Willen zur Arbeit! Man mag es wenden, wie man will: Arbeit, ehrliche,

Von

Seminar- und Klosterabgeschlossenheit und asketischer Entsagung menschlicher Lebens- und Liebensbegierde aufgewachsenen Men schen von dem wirklichen, dem natürlichen Leben? diefem grausamen, begehrlichen Leben, das im Rausch der Leiden schaften die Menschen einander zuführt, ein anderes Leben zeu­gen läßt und dann sich unverantwortlich von ihm abwendet!

Wie können jene, die immer hatten, was sie brauchten, nach­fühlen, wie so ein armes Kind dazu kommt, vom eigenen oder dem Hunger seiner Geschwister angetrieben, seine Hand nach fremdem" Gut oder besser gesagt, nach dem, was andere viel mehr besessen, als sie zur Stillung ihres Hungers brauchten, auszu strecken.

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Ich will durchaus nicht sagen, daß es nicht auch wirklich schlechte Eltern und Erzieher gibt, bei denen tatsächlich feine Kinder gelassen werden können. Auch nicht, daß es nicht sehr verftodie Kinder gibt, die nur schwer zu ergründen sein werden. Ich will überhaupt nicht vollendet sein sollende Vorschläge machen, denn ich maße mir gar nicht an, dies zu können. Aber ich habe die Empfindung, daß auch auf diesem Gebiete, das so weit, so wichtig und so eines neuen Geistes bedürftig ist, die Revolution nicht halt machen darf, sondern daß diese Anstalten, wenn ein Entfernen der Kinder aus ihrem vorigen Lebenskreise wirklich gar nicht au umgehen ist, gründlich umgestaltet und auf anderen als den bisherigen, humaneren, lebensverständlicheren Methoden aufzubauen find. Ueber das Wie maße ich mir, wie schon gejagt, keine Meinung an, dafür haben wir tüchtigere, mehr wissende, andere Männer und Frauen in unserer Bewegung. Aber daß aus diesen neuen Anstalten lebensfrohere und darum wohl unbestritten lebenstüchtigere Menschen hervorgehen, von denen wir jeden einzelnen in unserem neuen Staat bitter notwendig gebrauchen und der feine Stunde wegen seines Auf­enthalts in dieser Anstalt auch nur einmal über die Achsel angesehen werden wird, davon möchte ich auch noch ein ganz fleines, bescheidenes Teil erleben.

Marie Schleeh, Nied a. Main .