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Die Gleich beit

Ein Mann wie Friedrich Schiller  , dessen Werk weit über feine Zeit hinaus bis in eine ferne Zukunft hinüberragt, war trotz seiner einsamen Stellung so innig mit seinem Zeitalter verwachsen wie Goethe; er erkannte es flar trotz der viel­fachen Verschlungenheit und Verworrenheit und wies prophe­tisch auf neue wundervolle Möglichkeiten der politischen Ge­ftaltung hin. Doch war auch ihm das nicht ohne weiteres möglich. Aber eben darin offenbart sich seine Größe, daß er nicht auf halbem Wege innehielt, daß er sich nicht mit dem Erreichten begnügtz. Bon der Verneinung des Bestehenden gelangte er zur Aufstellung eines Jdeals, das, positiv und fest gegründet im Boden praktischen Wirklichkeitsfinnes, er­reichbar war für eine Menschheit, die bemüht war, sich über sich selbst hinaus zu erheben.

Und es ist bezeichnend, daß den Weg zu diesem Ziele nicht der Dichter, nicht der Dramatiker anbahnte, sondern der Philosoph.

Mit seinen auf eine wundervolle Grundlage gestellten ästhetischen Betrachtungen hat Schiller   Richtlinien geschaffen, deren überragende Bedeutung bei weitem noch nicht erkannt und gewürdigt ist.

Kann einem Menschen eine noch weitgehendere Forderung zugemutet werden als die, seine Zeit zu verstehen?

Man denke nach: wer begreift die Gegenwart, wer ist im­stande, ihre geschichtlichen Wirkungen zu übersehen? Ist nicht unser Weitblid" in recht enge Grenzen gebannt? Und wie stehts mit unserer Objektivität den Erscheinungen unseres Beitalters gegenüber?

Auf alle diese Fragen müssen wir mit einem bedauernd­ablehnenden Achselzuden antworten. Und doch läßt sich viel leicht auch dieser Mangel an Erkenntnisfähigkeit wettmachen; das menschliche Gehirn ist andauernd in der Entwidlung be­griffen, die Grenze seines Fassungsvermögens noch feines­wegs erreicht. Von Jahrtausend zu Jahrtausend wird es bereichert; welchen unendlichen Besiz hat es aufgespeichert im Laufe der Jahrmillionen.

Und die Zukunft?

Nr. 44

,, Eines der höchsten Ziele aller Wissenschaft ist die Voraus­ficht dessen, was feiner unserer Sinne in der Gegenwart wahr­nimmt, der Blick in die Zukunft.... Die Kultur ist eine fortschreitende Bewegung, und diese Bewe­gung vollzieht sich nicht aufs Geratewohl, sondern nach festen Gefeßen und in bestimmter Richtung, Wenn es gelingt, die großen Linien der Entwicklung festzu­stellen, so können wir... erraten, auf welches 8iel sie hinsteuern und was wir für die Zukunft zu er­warten haben. Je größer die uns bekannte Entwicklungs­strede ist, um so sicherer werden wir die nächsten Phafen, die durchlaufen werden, voraussehen können.... Allerdings ist die Soziologie noch viel zu sehr im Werden, und ihr Gegen­stand zu verwickelt, als daß sie der Aufgabe der Voraussage schon gewachsen wäre. Immerhin vermag sie auch jetzt schon in das Dunkel der Zukunft hinauszuleuchten, und sicherlich wird sie nicht dazu verurteilt sein, den kommenden Ereignissen für immer nachzuhinken." Gortfegung tolgi)

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Staatssozialismus   und Staats­kapitalismus

Rudolf Goldscheid  , der berufene Freund und Führer des Volkes, der früher schon die alte sozialistische Forderung des cllseitigen Menschenschutes in ein wohlgeordnetes und nach allen Seiten hin fest begründetes System gebracht hat,( vgl. Höherentwicklung und Menschenökonomie", Leipzig   1911) hat in seinem 1917 erschienenen vorausschauenden Staats­fozialismus oder Staatskapitalismus"( Anzengruber- Verlag, Wien  - Leipzig   1917; Goldscheid: Ein finanzpolitischer Bei­trag zur Lösung des Staatsschuldenproblems. XII u. 1859) einen gangbaren Weg zur Ueberwindung der Schwierigkeiten gewiesen, die sich bei Umwandlung des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches naturgemäß Herausstellen.

Die sich in dieser Richtung zunächst ergebende Aufgabe ist

Man höre, was Müller- Lyer  , der zu zeitig verstorbene So- die Ueberführung des heutigen Schuldner- in den Gläubiger­ziologe, in feinen Phasen der Kultur" sagt:

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mand, höchstens ein vorüberziehender Bettler, und der fam stets mit freudestrahlendem Gesicht heraus. Freilich die Hielt es eben mit den Bagabunden".

Als Karlina vierzig Jahre auf dem Gutshof in Arbeit stand und der Gutsherr ihr in Anerkennung der treuen Dienste eine silberne Brosche überreichen wollte, da hatte sie laut gelacht und so gräßlich geflucht, daß alle davonliefen. Von dem Tage an war man sich einig: Die Schwedin steht mit dem Teufel im Bunde." Aber man behielt sie trotzdem auf dem Gutshofe, bis sie eines Tages Zengin einer Liebes Szene wurde. Der Herr Verwalter und ein dralles Melf­mädchen standen engumschlungen im Ruhstall und füßten sich. Karlina wollte sich erst davonschleichen, aber als sie jah, daß es Annemarie war, Annemarie, die von der Gemeinde groß­gezogen war und somit als herreuloses Gut galt, da fuhr sie dazwischen:

,, Annemarie! Bist' denn toll geworden? Annemarie, kei Heimat haste!" schrie sie grell auf.

Da pacte sie der Verwalter und wies fie vom Gutshof. Farlina war gegangen. Sie hatte nicht gefleht, aber noch gebückter wurde ihre Haltung, noch drohender ihr Blick. Nun, es war gerade zur Erntezeit, da gebrauchte man Menschen hände. Starlina ging zu einem Bauern in Tagelohn. Und als es Winter wurde, da verschanzte sie sich in ihre Hütte, wie ein Maulwurf, der in der Erde überwintert. Sie hatte ja Kartoffeln, Mehl und Ziegenmilch, was brauchte sie mehr, um fich durchzuschlagen.

Satte sie ihr bißchen Hausarbeit gemacht, dann saß sie am Fenster und sah hinüber zum Friedhof.

Die Leute erzählten sich wunderliche Sachen. Im Herbst hätte sich die Schwedin eine Grabstelle gekauft, der Sarg, die

staat. Nicht fiskalischer Staatssozialismus darf die Ant­

Totenfrau, alles sei schon bezahlt. In einem Kästlein be­wahre sie die quittierten Rechnungen. Sie wollte bei ihrem Ableben keinem Schererei" machen, nicht mal der Pastor sollte sich um sie bemühen. Und jeden Sonntag, wenn die frontmen Dörfler zur Kirche gingen, guckten sie der Schwedin zum Fenster hinein, ob sie noch da sei.

Starlina aber jaß am Fenster, hatte die mageren Hände übers Knie geschlungen und starrte auf die beschneiten Gräber.

Gar nicht begreifen konnten es die Leute, daß die Schwedin nicht sterben fonnte. Aber frant war jie ja auch gar nicht, und viele Leute werden noch älter als 70 Jahre.

Am Weihnachtsabend nun, als die Leute geputzt aus der Stirche tamen, alle fröhlich im Gedanken an den leckeren Schweinebraten, jas Karlina wie gewöhnlich am Fenster.

Als letzte kam Mutter Jakobsen, des Dorfes weise Frau, bedächtig dahergewadelt. Einen ganz neuen Mantel hatte die an. Karlina öffnete das Fenster und steckte die Nase hinaus.

,, Karlina, schämen solltest Du Dich!" wetterte da Mutter Jakobsen los. Gar fein recht's Christenmensch biste, nicht ' mal am heiligen Abend gehste zur Kirche! Denkste denn gar nicht daran, daß Du' mal sterben mußt? Wie willſte unserm Herrgott' mal Rede stehen?"

Karlina aber fireute in größter Gemütsruhe Brotfrumen hinaus, damit es die hungrigen Vögel morgen finden sollten. Die weise Frau walzte wiitend borilber.

Und Karlina dachte darüber nach, wie wunderlich Mutter. Jakobsen doch sei. Würde sie nach dem Herrenhause gerufen, um der Gutsherrin beizustehen in ihren Schmerzen und auf der Tischkante lagen 10 blanke Taler und gar noch ein Klum­pen Butter und ein Stieg Eier, da leuchtete ihr fettes Gesicht. Mußte aber eine arme Tagföhnerfrau ihre Hilfe in