Beilage zuDie Gleichheit" Nummer 21 Berlin, 22. Mai 1920 30. Jahrgang Das Gesellenstück! Genossin, hast Du schon Vorbereitungen getroffen zu Deinem Gesellenstück? Nein? Dann aber schnell dabei, viel Zeit hast Du nicht mehr, am 6. Juni ist der Prüfungstag. Gesellenstück und Prüfungstag? Du fragst ganz erstaunt. Ja, es stimmt schon. Du sollst am 6. Juni zeigen, ob und was Du gelernt hast. Der Krieg war Dein Lehrmeister, ein sehr gestrenger sogar, undje strenger die Lehre, je besser das Gesellenstück" sagt ein altes Sprichwort. Trifft das bei Dir auch zu? Hast Du in der Lehre gut aufgepaßt, hast Du nichts vergessen? Denk einmal dariiber nach, was hinter Dir liegt, was Du durch gemacht hast, dann weißt Du schon, wie Du Dein Gesellen stück machen mußt. Vorbereitungen?" fragst Du.Das ist doch nicht nötig, ich wähle doch sozialistisch, das genügt doch!" Nein, liebe Genossin, das genügt nicht: Du sollst und mußt Vorbereitungen machen. Wie Du das machen sollst? Wie steht es um Deine Nachbarin, wählt sie auch sozialistisch? Das weißt Du nicht? Frage sie, und wählt sie nicht wie Tu. dann überzeuge sie von der Notwendigkeit dcS Wählens in Deinem Sinne. Das ist Deine Pflicht, sie aufzuklären über die Bedeutung eines sozialistischen   Sieges. Sie hat die schwere Zeit mitgemacht, ihr war der Krieg ein ebenso stren ger Lehrmeister wie Dir. Du mußt ihr klarmachen, wie sie ihr Gesellenstück machen muß. Und hast Du sie bekehrt, dann ein Haus weiter zur nächsten Nachbarin, kläre auch sie auf, sorge dafür, daß auch sie die Prüfung in unserem Sinne besteht. Sag nicht, daß Du es nicht kannst: Du hast so oft gezeigt, daß Du stark bist, zeig es auch jetzt. Nütze die Zeit bis zur Wahl gut, dann hast auch Du ein paar Bausteine zum Auf- und Ausbau unseres freien Staates herbeigetragcn. Fang mit der Kleinarbeit an, und Du kannst den Segen dieser notwendigen Arbeit bei der Wahl spüren. Trage jeder dazu bei, was in seinen Kräften steht, keiner darf zurückstehen, jeder muß helfen. Wenn so die nötige Kleinarbeit von jeder Genostin bis zur Wahl geleistet wird, dann ist der Sieg unser. Wir wollen und wir müssen heraus aus unserm Elend. Darum, auf Genossin! Noch ist Zeit, noch kannst Du auf Deine Nachbarin einwirken: zeig ihr, wie sie das Ge- seilen st llck zum 6. Juni machen muß. Glück auf den Weg! Minna Lubitz. Jetzt vorwärts Von Gustav Fuß «Die Frau ist ein schnellwachsendes Unkraut, sie ist ein unvollkommener Mensch, dessen Körper nur deshalb schneller zur vollständigen Entwicklung gelangt, weil er von geringerem Wert ist und weil die Natur sich weniger mit ihr beschäftigt."(Thomas v. Aquino  , 1227 1274.) Vergleicht man heute die Stellung der Frau, die dies« in Staat und Gesellschaft sich einzunehmen schickt, mit jener Zeit, die obige Worte prägte, so liegt ein Stück staunenswerter Geschichte vor uns. Ueberall in Staat und Kommune Hütt die Knau   ihren Einzug und uach zähem gewerkschaftlichen und politischen Kampfe fallen all mählich die eisernen Schranken, die sie bislang gefesselt hielten. Im geioerkschaftlichen Kampf zur Solidarität erzogen, im poli tischen Kampf für die Stellung in der Zukunft vorbereitet, steht die Frau heute als Siegerin an der Seite des Mannes im Emanzi pationskampf da. Niedergerissen sind alle Erschwernisse, fortge spült alle Hemmungen, die von einer mit allen Machtmitteln aus- Vestattet gewesenen Regierung aufgestellt waren. Heute ist alle Welt überrascht von dem glänzenden Triumphzug proletarischer Frauen; bloß unsere politischen Gegner sehen der freiheitlichen Entwicklung der Frauenbewegung mit einem nassen und einem trockenem Auge zu. Noch heute wohnt in ihrer Brust das Motto: »Die Frau gehört ins Haus." Weil sie aber wissen, daß zum politischen Kampfführen auch die Stimme der Frau gehört, um schmeicheln sie diese, um sie für ihre Zwecke zu gewinnen. Sie verschmähen zwar die Stimme der Frau nicht, wollen sie aber benutzen, um, wenn ihnen die Gelegenheit dazu willkommen scheint, ihre alte Herrschaft wieder zu etablieren. Wer war es, der von jeher die Rechte der Frauen vertrat? Greifen wir aus dem Fragenkomplexe einmal rein willkürlich die Frage des gesetzlichen Schutzes unserer Arbeiterinnen heraus. Im Jahre 1907 legte die Regierung dem Reichstag   eine Novelle zur Gewerbeordnung vor, die durch das internationale Ueberein» kommen in Bern   1906 notwendig geworden war. Diese ver pflichtet die VertragSstnatem� in gewerblichsn Betrieben ein Ver bot der Nachtarbeit für Arbeiterinnen herbeizuführen. Ferner war in diesen Vereinbarungen eine mindestens elfstllndige Ruhe zeit vorgesehen, die in die Zeit von 19 Uhr abends bis 5 Uhr früh eingeschlossen sein mußte. Die tägliche Arbeitszeit sollte über 19 Stunden nicht hinausgehen. Für Arbeiterinnen sollte durch Ortsstatut der Fortbildungsschulunterricht eingeführt und der sanitäre Maximalarbeitstag künftig auch von der Polizei angeordnet werden. Der Entwurf brachte den Zehnstundentag an Stelle des bisherigen Elfstundentages für Arbeiterinnen in Vor schlag. Dieses Zugeständnis bedeutete jedoch keinen erheblichen Fortschritt, da sich der Zehn stundentag mit Hilfe der Gewerk schaften bereits von selbst eingeführt hatte. Die Ermittlungen der Gcwerbeinspektion ergaben schon 1992, daß von M799 Betrieben mit 813 599 Arbeiterinnen 979« Betriebe mit 89191 Arbeite rinnen eine Arbeitszeit von 9 Stunden und darunter hatten, wäh rend in 18 267 Betrieben mit 347 814 Arbeiterinnen eine Arbeits zeit bis zu 19 Stunden bestand. Und doch war auch dieser immerhin gcriirge Erfolg nur dem unablässigen Drängen unserer Vertreter in den Parlamenten zuzuschreiben. In den folgenden Jahren hat die Durchführung des Zehnstundentages erhebliche Fortschritte ge macht. Die von der Regierung vorgelegte Novelle sanktionierte also im wesentlichen den bisherigen Zustand. Die Mitglieder der sozialdemokratischen ReichstagSfraktion beantragten eine wei tere Herabsetzung auf 9 Stunden und vom 1. Januar 1912 auf 8 Stunden. Dieser Antrag fand bei den bürgerlichen Parteien keine Unterstützung. Im Plenum beantragte die freisinnige Volks partei(Vorläufer der heutigen demokratischen Partei), daß Ar beiterinnen. die ein Hauswesen zu besorgen haben, Sonnabends nur 9 Stunden beschäftigt werden dürfen, zu streichen und auf 8 Stunden heraufzusetzen. Rationalliberale, Konservative und Wirtschaftliche Vereinigung traten diesem Antrage bei, den sie damit begründeten, daß die Arbeiterschaft mit der freien Zeit nichts anzufangen wisse. Schließlich hat die Beharrlichkeit de? Kampfes und die Einführung des gesetzlichen Achtstundentages, die sicher ohne die aktive Mitwirkung unserer Partei noch nicht gekommen wäre, doch den Sieg davongetragen. Er mußte kommen, denn der weibliche Organismus kann eine lange Arbeitszeit noch weniger vertrage»', als der des Mannes. Furchtbar sind die Wir kungen auf die heranzubildenden Familien, tvenn erst einmal Körper und Geist der Frau zu erlahmen anfängt. Am schlimmsten zeigen sich diese Wirkungen bei dem Martyrium der Mutterschaft. Mit dem Gefühl völliger Müdigkeit und Mattigkeit erhebt sie sich von ihrem Lager, mit zitternden Knien wankt sie zur Arbeit, bei der sie mit schmerzdurchwühltem Körper ausharren muß, wenn auch die Kräfte schier zu versagen drohen. Die Sorge um die Erhaltung der Arbeit zwingt sie oft, ihren Zustand zu verbergen und die quälende Sorge um die vermehrten Ausgaben für das zu erwartende Kind treibt ihr vielleicht einen Fluch auf die Lippen über das Unglück der Schwangerschaft. Sind auch seit dem 9. No- vember 1913 zum Teil sehr durchgreifende Reformen auf diesem Gebiete durch die Initiative unserer Vertreter in der National versammlung zu Wege gebracht worden, so kann die praktische Durchführung auf sozialpolitischem Gebiete nicht ohne Mitwirkung der Frauen selber vor sich gehen. Die Aufgaben der Frau in der Revolution sind grundverschieden von den in der vornovemberlichen Zeit. Haute gilt es einzu dringen in alle Zweige des öffentlichen und privakrechtlichen Levens, heute ruht die Verantwortung für das Geschick der deut schen Republik auf den Schultern der Männer und Frauen gleich-