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Die Gleichheit
neuesten Zeit hat eine solche nie alternde Dichtung aufzu weisen: es ist Frank Wedekinds„ Frühlings Erwachen ".
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Ueber Wedekind und seine Dramen ist viel geschrieben worden, und nicht immer Gutes! Es liegt nicht in unserem Sinne, an dieser Stelle eine literarische Würdigung Wede kind'scher Kunst zu bieten. Wer Frühlings Erwachen " gelesen oder gesehen hatvorurteilsfrei selbstverständlich muß zugeben, daß hier ein Künstler am Werke gewesen ist, daß nicht der Stoff um des Stoffes willen behandelt worden ist, daß hier kein Kitsch gegeben wird, wie man das vielfach behauptet hat. Höhere Interessen haben den Dichter bewogen, die Kindertragödie- so nennt er die Dichtung selbst - niederzuschreiben. Aus realistischer Kunst will Nutz anwendung gezogen werden.
Man sollte aller Jugend das Werk zugänglich machen, nicht nur der reiferen: für sie ist es meist zu spät. Vor allen
Dingen aber sollten es die Eltern, namentlich die Mütter,
lesen und daraus lernen.
" Fiesto der Erziehung" könnte man die Wedekind'schen Szenen überschreiben. Was soll mir ein Konversationslerikon, das auf die nächstliegende Lebensfrage nicht antwortet," sagt der unglückliche Moritz Stiefel, den die Schule zum Selbstmord treibt. Was soll mir meine Erziehung, was follen mir Schule und Elternhaus... müßte es eigentlich heißen.
Gibt denn die Schule Antwort auf diese Frage?- Nein, denn sie hat, um mit Wedekind'schen Worten zu sprechen, das„ Anstandsgefühl für das dem Menschen eingewurzelte Empfinden für die Diskretion der Verschämtheit einer sitt lichen Weltordnung," das der ehrliche Melchior, der ein m Mitschüler mitteilt, was er weiß, nicht hat. Volksschule und höhere Schule trifft die Schuld; die letztere noch in viel höherem Maße, als die erste. Die Schule allein fann aber die Frage nicht beantworten. Die Aufklärung" tann nicht mechanisch vermittelt werden wie irgendein anderes Wissen. Sie braucht die rechte Stunde und die rechte Stimmung. Der Hauptanteil wird dem Elternhause zufallen. Sagt nun das Elternhaus dem Kinde das, was es werden will? Auf die Frage der Wendla nach dem Geheimnis der Entstehung des Menschen,„ offenbart" ihr ihre Mutter, daß man, um ein Kind zu bekommen, den Mann, mit dem man verheiratet ist, lieben müsse, lieben müsse, wie man einen Mann nur lieben könne. Wie viele solcher Mütter gibt es noch? Wir wollen es nicht entscheiden.
Alle Eltern sind überzeugt, die besten zu sein. Und doch verstehen sie meist ihre eigenen Kinder nicht. Ohne Zweifel liegt nach ihrer Meinung die Schuld bei den Kindern. Und doch betrügen die Eltern ihre Kinder zuerst mit dem Märchen vom Storch; und doch stehen die Eltern ihren Kindern in den Entwicklungsjahren verständnislos gegenüber. Sie grämen sich vielleicht, weil die Kinder ihnen gegenüber nicht das Vertrauen haben, das sie erwarten. Sie ahnen nicht, daß die Eltern nicht warten dürfen, bis die Kinder zu ihnen fommen. Vielleicht erkennen sie es auch manchmal und sind zu feige, die Folgerungen zu ziehen. Den Eltern fällt der Dienst am Kinde zu. Die Bedeutung des Kindes wird zu wenig erkannt und wenn sie erkannt wird, wird diese Erkenntnis in falscher Weise verwendet. Erziehen soll nicht„ Verziehen" bedeuten. Es ist richtig, daß viele Eltern, namentlich Proletariereltern, keine Zeit haben, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen. Aber diese eine, diese wichtigste Frage muß ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Eltern betrügen nicht ungestraft ihre Kinder. Sie verlieren das Vertrauen ihrer Kinder, weil sie es nicht zu ihnen haben. Wie sagt doch Dostojewski :„ Man kann einem Kinde alles, alles fagen.... Man soll vor den Kindern nicht unter dem Vorwande, daß sie klein sind und es für sie zu früh sei, viele Dinge zu erfahren, alles geheim halten."
Und wenn man" es" ihnen nicht sagt?
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Nr. 15
" O Mutter, warum hast du mir nicht alles gesagt," ruft die kaum fünfzehnjährige Wendla auf ihrem Krankenbette aus, als sie erfährt, daß sie nicht die Bleichsucht, wie man ihr vorgeredet, sondern ein Kind hat. Und sie war doch nicht verheiratet und hatte nicht geliebt. Aber das ist es ja, daß du nicht verheiratet bist, das ist ja das Fürchterliche." Andere Worte findet die schuldige Mutter ihrem Kinde gegenüber nicht. Sie hat an ihrem Mädchen ja nichts anderes getan, als ihre liebe, gute Mutter an ihr getan hat. Und das Kind muß um einer falschen Moral willen beim Abortus sterben, Oder was sagt der Rentier Stiefel am Grabe seines Sohnes? " Der Junge war nicht von mir, der Junge hat mir von klein auf nicht gefallen." Das ist alles.
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,, Selig sind, die reinen Herzens sind," steht auf Wendlas Kinder leben und haben an ihrem Schicksal schwer zu tragen. Grabstein. Sie stirbt, aber Tausende, Millionen anderer sind zur Gewohnheit und zu etwas Alltäglichem geworden, Reiner siehts will es nicht sehen? Sittliche Verfehlungen Eine Gewissensfrage an die Mütter und Bäter:„ Wer von Ihnen fühlt sich frei von solchen Jugendtorheiten? Man geht vielleicht mit einem Lächeln darüber hin: es ist nicht zu sehen. Freilich. Aber die psychologischen Schäden, die in den Kindern angerichtet werden, läßt man unberücksichtigt. Und sind die nicht viel größer als die vielleicht entstehenden körperlichen? Kinder sind meistens gerechter als Erwachsene. Sie schleppen sich mit dem Bewußtsein einer Schuld- wenn man überhaupt von Schuld sprechen will, die nicht die ihre ist. In dem Augenblick, da sie das erkennen, stehen sie ihren Eltern ferner denn je. Eine Entfremdung ist unvermeidlich. Und so geht es von Generation zu Generation. Es liegt eine furchtbare Tragit in den Worten Hänschen Rilows, die er beim Betrachten einer Venusreproduktion ausspricht:... Man merkt..., daß sie eine musterhafte Erziehung genossen hat. Mir gehtesja ebenso. Mirgeht
,, Frühlings Erwachen " will nicht gelesen und nicht gesehen, es will verstanden werden. Die Tragödie ist eine Anflage, eine große Frage an die Eltern, an die von heute und an die kommender Geschlechter. Wie lange noch sollen Eure Kinder an ihrer Erziehung zu Grunde gehen? Herbert Heiland.
Der Wert des Zwecklosen
Unter diesem Titel hat Moritz Goldstein ein Buch heraus. gegeben. Der Wert des Zwecklosen! Klingt das nicht merk. würdig in einer Zeit, die eigentlich nichts anderes weiß und kennt als den Zweck, weil Zweck gleichbedeutend ist mit Erfolg und als dessen letztes Ziel das persönliche Wohlleben und der Genuß, unbekümmert um jede Verantwortlichkeit vor sich selbst und dem großen Ganzen? Ist dieser Prediger in der Wüste ein Schwärmer, ein Afzet, ein Weltverächter, der da sagt: Alles Jrdische ist eite!!? Nichts von alledem. Er ist einfach ein Mensch, der den Mut hat, unbefangen an die Jahrtausende alten Probleme der Philosophie heranzugehen, und der mit leisem gütigen Lächeln der Frau Philosophie beweist, daß sie die Rätsel des Lebens bisher noch nicht gelöst hat und sie auch nicht eher lösen wird, als bis sie den Menschen selbst als des Rätsels Lösung ansieht.
Goldstein beherrscht sein Thema in so geistreicher und spannender Weise, daß der philosophisch geschulte Kopf seine helle Freude daran haben kann; aber er ist zugleich so klar und eindeutig, daß auch der naive Leser ihm willig durch die vielverschlungenen Pfade dieser Wissenschaft folgt. Er fordert nicht, daß man sein einfaches gradliniges Denken zur Umkehrung aller Begriffe zwingt, wie es die Erkenntnistheorie nur allzu häufig verlangt, sondern er führt sie mit sicherer Hand auf ihre beiden Urfragen zurück, auf die Fragen: Woher? und Wohin? Und da er selbst von dem furchtbaren Grauen über die Sinnlosigkeit des Daseins bis in seines Wesens Tiefen durchschüttelt worden ist, weiß er um die Qualen der Suchenden und geht mit ihnen noch einmal den schweren Weg durch alle Abgründe des lebenheischenden, todessehnsüchtigen Zweifels an Gott, Welt und Jch. Er weist nach, daß weder die Philosophie noch die exakte materialistisch gerichtete Wissenschaft den Schleier von den letzten