Für unsere Mütter und Hausfrauen

Nr. 10°

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Beilage zur Gleichheit ooooo

Inhaltsverzeichnis: Gläubige und Ungläubige. Von Leo Tolstoi . Eine Dichterin des Proletariats. Von Bernhard Rausch. Für die Hausfrau. Feuilleton: Unter den Häuslern der Berge. Von M. Andersen Negö.

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Gläubige und Ungläubige.

Wie in vergangener Zeit, begegnet man auch jetzt der offenen Anerkennung und Bekennung des orthodoxen Glaubens meist bei stumpfen, grausamen Menschen, die sich selbst für höchst bedeutend halten. Verstand aber, Ehrenhaftigkeit, Geradheit, Herzensgüte und Sittlichkeit trifft man meist bei Menschen, die sich selbst für un­gläubig erklären." Leo Tolstot in: Meine Beichte".

Eine Dichterin des Proletariats.

,, Gebt Raum! Aus Arbeitsstätten voller Lärm und Braus, Bom Pflug der Felder her und von der Schmieden Graus Und Höllengluten bring ich,

Aus Höhlen, wo ein Volt spinnt, hämmert, webt und schafft, Aus Schacht und Gruben steig ich, und voll freier Kraft Den Ruhm der Arbeit sing ich."

Mit diesen stolzen Worten aus ihrem Gedichtband Fatalità" ( Schicksal) trat im Jahre 1892 die junge italienische Dichterin Ada Negri vor die breitere Öffentlichkeit. Die allgemeine Beachtung, die die kraftvollen, von sozialer Begeisterung durchglühten Verse sofort erzwangen, wuchs zu heller Bewunderung, als man erfuhr, daß die Sängerin des Volkes ein armes Proletarierkind sei. In furzer Zeit wurde Ada Negri die berühmteste lebende Dichterin Italiens . Über den revolutionären Gehalt ihrer Poesie sah man im Bürgertum zunächst wohlwollend hinweg. Man war geblendet von der ungewöhnlichen Erscheinung und hoffte eine zunehmende Klärung" der jugendlichen Leidenschaftlichkeit. Indessen, als 1895 der zweite Gedichtband Ada Negris Tempeste"( Stürme) erschien, in dem das sozialrevolutionäre Feuer noch heftiger loderte, begann man sich von der Dichterin abzuwenden. In der Meinung, die Kunst vor " Tendenz" zu retten, folgte das Bürgertum nur seinem Selassen­instinkt, dem sich eine Dichterin entfremden mußte, die von sich sagte: In meinen Adern rollt das Blut,

Das Blut des Volkskinds heiß und stolz."

Denn auch die Kunst ist nicht in dem Sinn etwas allgemein Menschliches, daß sie über Zeiten, Völkern und Klassen schwebt. So­lange es Klassengegensäge gibt, werden sie sich wie in allen ideo­logischen Gebieten, so auch in der Kunst spiegeln. Die Schöpfungen Ada Negris waren der poetische Ausdruck der Gedanken und Emp findungen, Klagen und Hoffnungen des italienischen Proletariats, mit dem die Dichterin lebte. Sein Los bestimmte das Wesen ihrer ersten Dichtungen.

Das Geburtsjahr Ada Negris, 1870, war zugleich das Jahr der endgültigen politischen Einigung Italiens . Wie in Deutschland , so wurde auch dort die politische Einigung zum mächtigen Hebel des wirtschaftlichen Fortschritts. Seit 1870 wird in Italien der Puls­schlag der modernen kapitalistischen Wirtschaft belebter, Traftvoller, deren Entwicklung sich in jenem Lande bis jetzt freilich nicht so rasch vollzogen hat wie in Deutschland . Der Zeitraum 1870 bis 1895 war für die Entstehung von Ada Negris sozialer Lyrik entscheidend, die mit der Veröffentlichung des Gedichtbandes" Tempeste" ihren Abschluß findet. Damals befand sich der italienische Stapitalismus noch in seinen Anfangsstadien. 1895 war Jtalien kaum zur Hälfte Industrie und noch zur Hälfte Agrarstaat. Die Großindustrie kon­zentrierte sich, abgesehen vom Bergbau, hauptsächlich in Oberitalien , wo die Bergströme dem kohlenarmen Lande die billige weiße Kohle" liefern. In diesen Industriegebieten brach mit dem Kapitalismus über das Volk all jenes verheerende Elend herein, das stets die Frühzeit des Stapitalismus begleitet, weil der Arbeiter da noch als cinzelner der rücksichtslosesten Ausbeutung preisgegeben ist. Die Lage des italienischen Proletariats war ähnlich der des englischen in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, die Engels so Klassisch geschildert hat.

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Die Geschichte des italienischen Proletariats ist eines der dunkelsten Stapitel in der Geschichte des Kapitalismus überhaupt. Nach 1867, als die kapitalistische Industrie faum die Ränder Norditaliens be­rührt hatte, schrieb Vittor Hehn in seinem geistreichen Buch über

1913

Italien : Solche verhockte, versessene, verkümmerte, schiefgewachsene, in Aften- und Bücherstaub, in Handwerks- und Gewerbesbanden verkrüppelte halbe und Viertelmenschen wie bei uns, trifft man in Italien nirgends." Freilich konnte Hehn fortfahren: Da es in dem Lande noch wenig Fabriken und keine Kohlenminen gibt, so fehlen auch die Fabritsklaven und die englischen Kohlenarbeiter unter der Erde, die Repräsentanten tiefster Entwürdigung unseres Geschlechts." Diese Repräsentanten entstanden aber recht schnell und in besonders erschreckendem Maße unter den Frauen und Kindern. Nach einer amtlichen Statistik belief sich 1890 die Zahl der unter 14 Jahren alten Kinder, die in Italien in Fabriken und Bergiverken frondeten, auf 82103! In der gesamten Baumwollspinnerei waren 1890 von insgesamt 149105 Arbeitskräften 143071 Frauen und Kinder unter 14 Jahren. Ein gesetzlicher Schuß fehlte fast vollständig. Erst 1886 wurden einige mangelhafte Beschränkungen der Kinderarbeit erlassen, die aber auf dem Papier blieben, weil für ganz Italien zwei(!) Gewerbeinspektoren tätig waren. Sogar amtlich sind in Italien 161/2 stündige Arbeitszeiten für Kinder unter 14 Jahren ermittelt worden.

In furzer Zeit wurde das Proletariat Italiens in einen Abgrund grenzenlosen Elends und entseglicher Verkommenheit geschleudert. Krankheit und Verbrechen nahmen einen unheimlichen Umfang an; namentlich richtete die Pellagra furchtbare Verwüstungen an, eine Krankheit, deren Wesen noch nicht vollständig erkannt ist, die aber das Los des ländlichen Proletariats in maisbauenden Gegenden ist, wo starke Sonnenhite auf einen durch Arbeit und Hunger ge­schwächten Drganismus einwirkt. In welch einem Gegensatz stand dieses unsägliche Elend des bis zu Tode gehezten Proletariats zu der frohen Behaglichkeit des vorfapitalistischen italienischen Völlchens, für das das dolce far niente( süßes Nichtstun) sprichwörtlich gewesen ivar! Die Leiden seiner Stlasse ergriffen früh die heiße Seele des Volkskindes Ada Negri .

Am 3. Februar 1870 wurde Ada Negri als Tochter einer Textil­arbeiterin zu Lodi geboren, einem Städtchen in der Nähe von Mai­ land . Kurz nach ihrer Geburt starb ihr Vater im Hospital, sie hat ihn nie gekannt. Ihre früh verwitwete Mutter ertrug mit bewunderns­werter Straft während etwa zwanzig Jahren das traurige Los einer Baumwollspinnerin.

Als Witwe mühte sie sich Tag und Nacht Für ihre Tochter, für ihr höchstes Gut Ihr einz'ges, mit der hellen Augen Pracht."

In flösterlicher Zurückgezogenheit lebten Mutter und Kind in zwei Zimmerchen eines kleinen Hauses in einer abgelegenen Straße, auf der Gras wuchs. Die Fenster unseres Heims", so erzählt Ada Negri , gingen auf den Garten, der von einer hohen Mauer umgeben war, wie ein Klosterpark, und wenn wir auf unserem kleinen Balkon standen, umgab uns föstliche Einsamfeit und grüne Weite." Die tapfere Arbeiterin sorgte nicht allein für das körperliche Wohlbefinden ihres Töchterchens, sondern suchte ihr auch unter Opfern und Ent behrungen eine möglichst gute Erziehung angedeihen zu lassen. Ada Negri sollte einst Lehrerin werden. Frühmorgens um 5 1hr mußte meine Mutter schon zur Fabrik und kam erst am Abend wieder. So blieb ich nach den Schulstunden mit meinen Büchern allein, sezte mich auf den kleinen Balkon und lernte und träumte." Troz der Armut und der engen Verhältnisse, in denen die fünftige Dichterin aufwuchs, konnte sich Geist und Gemüt des hochbegabten Mädchens während seiner treulich behüteten Kinderzeit reich entfalten. Das Jugendidyll nahm ein Ende, als Ada mit 18 Jahren den Kampf ums tägliche Brot aufnahm, indem sie Dorfschullehrerin in Motta Visconti, einem Dörfchen am Ticino in Oberitalien wurde.

Was die Veränderung für sie bedeutete, lehrt ein Blick auf die jämmerlichen Schulverhältnisse Italiens zu jener Zeit. Die obli­gatorische Volksschule besteht in Italien erst seit 1877. Nach amt­lichen Ermittelungen konnten im Jahre 1881 in Italien 67,26 Pro­zent weder lesen noch schreiben. Niedrige, schmutzige, von Kindern überladene Räume, häufig ehemalige Ställe, dienten als Schul­räume, für die sich die Vermieter als einflußreiche Gemeindemit­glieder oft noch das Doppelte und Dreifache des angemessenen Mietspreises zahlen ließen. Diesen Verhältnissen entsprach auch die Lage der Lehrerschaft. 60 Prozent der am schlechtesten bezahlten Dorfschullehrkräfte waren Lehrerinnen mit einem Monatsgehalt von 40 Mr.