Für unsere Mütter und Hausfrauen

Nr. 24°° ooo ooo Beilage zur Gleichheit O O O O O O O O 1913

-

Inhaltsverzeichnis: Der Roman des Proletariats. Bon D. Wittner. ( Schluß.) Reform der Ernährung. I. Bon M. Kt. Gegenüber. Von Fr. Theodor Vischer. Feuilleton: Hamza und Hanifa. Von Gustaf Janson.  ( Schluß.)

-

Der Roman des Proletariats.

Von Otto Wittner.

( Schluß.) Immerhin, die Notwendigkeit des Zusammenschlusses der vielen Kleinen gegen die Großen steht nun fest in Belles Bewußtsein. Durch unermüdliche Agitation bringt er die in schwerer Zeit ver­zagten Berufsgenossen dazu, der fast gesprengten Organisation wieder beizutreten. Mit Keckheit und List führt er, nun der Kopf des Verbandes, Streich auf Streich gegen den stärksten Unter­nehmer, der die Organisation nicht anerkennt. Er nimmt diesem seine besten Arbeiter vom Werktisch weg und bringt die Güte seiner Waren in Verruf. Er verhindert Zuzug und Ersatz. Da muß der mächtige Fabrikant seinen Betrieb schließen. Durch diese erfolg­reichen Manöver wächst das Ansehen der Gewerkschaften gewaltig. Die Unternehmer vereinigen sich jedoch gleichfalls und machen in einer Zeit der Krise, der Teuerung und des winterlichen Glends die Kraftprobe, die Arbeiterorganisationen zu zerschmettern. Das wird Belles Heldenzeit. Auch die Organisationen sind auf den Kampf wohlvorbereitet. Blanmäßig wird ein Verband nach dem andern in die große Entscheidungsschlacht hineingeführt. Mit Streik­brechern und Ausländern hält die größte Maschinenfabrik sich not­dürftig aufrecht. Aber Belle weiß sich Eingang in den Betrieb zu verschaffen, die Gewalt seiner Worte weckt Scham in den Abtrün­nigen, und wie gebannt folgen sie ihm, der sie zu den Toren hin­aus ihren Kameraden wieder zuführt. Dieses tede Stücklein belebt die gesunkene Zuversicht der Arbeiter, und als nun die Ausstän­digen als letzte Reserven die Gasarbeiter und Straßenreiniger ins Gefecht führen, ist der große Kampf entschieden. In einem ge­waltigen Triumphzug führt Belle die siegreichen Arbeiter durch die Stadt.

-

Aber dieser Sieg der Sache ist mit den schwersten persönlichen Leiden und Opfern erworben. Auch Pelles Hausstand ist ver­nichtet: seine geliebte Frau hat, um den Hunger der Kleinen zu stillen sich selbst verkauft. Und noch Schwereres stürzt auf ihn. Halb in gedankenlosem Scherze zur Zerstreuung, halb in einem durch die Not erzeugten phantastischen Wahn hat Belle mit seiner zeichnerischen Gewandtheit einen Kassenschein kopiert. Aus Rach­sucht hält man Haussuchung bei dem Führer der Ausständigen. Das belastende Material wird gefunden, und der Prozeß wegen vorbereiteter Fälschung von Staatspapieren ist fertig. Die Arbeiter haben gesiegt aber der sie führte wandert ins Zuchthaus.

-

Nach Jahren wird Pelle frei, innerlich verändert, in der Ein­samkeit ein Einsamer und Reicherer geworden. Er hat das Leben besser verstehen gelernt in der Zeit, in der er nicht lebte. Seine Frau nimmt er wieder zu sich, er sieht, daß er ihr nichts zu ber­geben hat. In die Bewegung seiner alten Genossen, wie sie in der Zeit fortschreitend geworden ist, findet er sich aber nur schwer. Sie ist auf dem eingeschlagenen Wege weitergerollt, fast mit der gedankenlosen Sicherheit des Automaten. Sie droht zu bersumpfen aus Mangel an Widerstand. Es fehlt an dem Sauerteig neuer Jdeen, an der Lockung neuer Ziele. Kämpfer hat Belle verlassen und findet nun selbstgenügsame kleinbürgerliche Philister. Er steht betrachtend abseits, selbst eine halbvergessene Episode. Ganz von born beginnt er wieder, und gerade an diesem stumpfen Wider­streben erstarkt seine revolutionäre Energie. Mit der politischen und gewerkschaftlichen Bewegung in ihrem ruhig gleichmäßigen Tempo hat sich das Bürgertum bereits abgefunden. Es gilt das Lager des Feindes von einer anderen Seite her zu stürmen und durch den Anblick solches neuen Werdens die Genossen ihrer Schlaffheit zu entreißen. In Pelle wird der alte Gedanke wieder lebendig, die Arbeiter sollten die Produktion selbst in die Hand nehmen. Noch einmal wird er zum Führer. Anfangs wird sein Unternehmen berlacht, solange es den kümmerlichen Maßen seines Ursprungs noch nicht entwachsen ist. Aber bald zeigt es sich als eine gute Waffe im Kampf für die neue soziale Ordnung. Die bürger­liche Gesellschaft soll hier gewissermaßen von innen heraus unter­höhlt werden. Belles Betriebe gestalten sich immer mehr aus,

immer neue tätige Glieder wachsen ihnen zu. Auch dem Woh nungselend, das Belle in seiner frühesten Kopenhagener Zeit so grausam miterlebt hat, kann nur der organisierte Wille des Pro­letariats selbst ein Ende machen. Und schon sieht Pelle auf dem Hügel nahe der Vorstadt die neue Stadt erstehen, von der aus die kommende Generation ihren Sieg vollenden wird. Aber der erste, der von dem neuen Lande Besitz ergriff für das arbeitende Bolt, das war er Pelle der Eroberer.

-

-

Dies ist in ganz grobem Umriß der Inhalt dieses reichen Buches. Aber seine Fülle ist nicht in einer Stizze auszuschöpfen. Mit welcher Feinheit ist allein das Erwachen der sozialen Emp­findungen in dem heranwachsenden Belle gestaltet: sein instint­tiver Haß gegen die Feinen und Gutgekleideten, seine Solidarität mit allem Elend, an das ihn die Gemeinsamkeit des Lebens bindet, feine Witterung für die böse Luft, die über Herrensißen liegt, über allen großen Anhäufungen von dem, was den Bielen   gehören sollte bis er schließlich erkennt: Nie konnte es ein Glüd für ihn allein geben das Märchen war tot! Er war mit all den anderen verbunden und mußte Glück und Unglück mit ihnen teilen. Darum gaben ihm die Verunglückten ihren Segen." Und wie wundervoll bersteht es der Dichter, die durchaus typischen Erlebnisse Belles individuell zu verkleiden, seine Bubenschlachten als Hütejunge, seine Wanderung nach der Kleinstadt, sein Tasten und Suchen in den Verworrenheiten des Großstadtelends, das plöbliche Berlöschen seines sozialen Empfindens in dem befriedigten Glüd junger Ehe, sein Wiederaufflammen im Vatergefühl. Und so hat er seinen Helden auch mit einem Kreise scharf erfaßter Gestalten umgeben, die alle in ein eigenes und typisches Verhältnis zu dem Haupt­problem gebracht sind und von denen sich die reichere Indivi­dualität Belles lebendig abhebt. Da ist die Kraft", eine über­schäumende, ungebändigte Natur, die für sich allein die Welt neu ordnen möchte und am Widerstand der im Besitz Wohnenden zer­schellt: diesem Proletarier der früheren Generation liegt der Ge­danke an die anderen noch ganz fern. Da ist der gewissenhafte Ge­werkschafter, der von Anfang an mit dabei" war, in der schwersten Zeit Treue hielt, aber über den nächsten Augenblick nicht hinaus­sieht. Da ist der Träumer, der den Menschen von innen aus rebo­lutionieren will, und der Anarchist, der in überwallender Bitter­teit nur vom großen Beispiel der befreienden Tat Nettung erhofft. Und Frauen, sich behauptend und sich hingebend, ganz Gattin und Mutter, ohne viel verstandesmäßiges Intereffe für das da draußen; die Schönheit, die leben, sich selbst in anderen genießen will; die Kameradin. Und dann vor allen ist der prächtige alte Lasse da, Belles Vater, von allen Nöten herumgeworfen, unverwüstlich und vertrauend, ernst und humorvoll zur rechten Zeit, das männliche Gegenstück zur Mutter" Gorkis. Mitleid und Sehnsucht sind die beiden Grundtriebe, die alle Menschen in Bewegung halten. Hafen und Meer, Land und Großstadt sind nur die Leiter ihrer Sehnsucht, die in immer neuen Formen wirken und schaffen will und selbst den schmutzigen Hof der scheußlichen Arche" noch mit tanzenden Sonnenstäubchen übergoldet. Denn die Sehnsucht ist es, die alle Taten gebiert, alle Zukunft trägt.

"

Ein sehr breites Bild hat Andersen Nerd so geschaffen: es ist breit wie das Leben selbst und wie die wenigen ganz großen Werke, die Schahhalter dieses Lebens find. Aber er hat es auch mit der phantastischen Kraft des Dichters gestaltet, vor der das längst Vertraute neu und das Neue vertraut wird. Besonders ist es ble Großstadt, die seine Phantasie befruchtet. Eine greuliche Miet­faserne wird ihm zu einem verwunschenen Hochwald mit tausend Märchengeheimnissen. Die Bogenlampen hängen wie eine Nethe spähender Bichtvögel über dem Asphalt; von Zeit zu Zeit schlagen fie mit den Flügeln, um sich schwebend zu erhalten. Alle Geräusche und Schatten nächtlicher Straßen erhalten ein gespensterhaftes Leben.

Die Übersetzung Mathilde Manns ist im ganzen recht flüssig, freilich von vielen standinavischen Wendungen durchsetzt und viel­facher Verbesserung fähig, wozu hoffentlich Gelegenheit geboten wird.

Frankreich  , Rußland  , Skandinavien   haben so ihren Beitrag zum Werden des neuen Romans, des proletarischen Romans gesteuert. Und wo bleibt Deutschland  , wo bleiben wir?