Für unsere Mütter und Kausfrauen Nr. 5 U�d als sie nach der Vorstellung in jubelnder Begeisterung zur Tür des armseligen Zimmers hereinstürzt, fallen die Rutenstreiche hageldicht auf sie hernieder. Um sich zu schützen, kriecht sie unter das Bett, aber die Mutter schlägt weiter, wohin sie trifft. Schließlich muß sie, die Hände mit Striemen bedeckt, aus den Knieen um Ver zeihung bitten. Von Mitleid erfaßt, nimmt die Mutter das schluch zende Kind auf den Schoß.„Als sie meinen Kopf an ihre Brust lehnte, war mein Glücksempfinden vielleicht doch noch größer als beim Zauberschleier im Marionettentheater. Aber nie habe ich die Berechtigung dieser Züchtigung anerkannt, nie habe ich die bittere Erinnerung daran verwinden können." Genossin Popp zählte siebzehn Jahre, als sich ihr zum erstenmal ein alter Kindertraum erfüllte: einen Weihnachtsbaum zu haben. Viele Wochen mußte sie von ihrem kärglichen Lohn als Fabrik arbeiterin sparen, um ihn zu erfüllen. Mit der Fabrikarbeit be gann überhaupt der allmählich« Aufstieg aus den tiefsten Schlün den proletarischen Elends. Die junge Adelheid gehört zu den„Fa- briklerinnen", die etwas auf sich halten und„höher hinaus" wollen. Sie verzichtet nicht hochmütig auf die bescheidenen Freuden ihres Lebenskreises, aber sie verliert sich nie an sie. Mit klarem Blick und wägendem Verstand beobachtet sie, was sich um sie abspielt. Sie liest gern und viel, und mit besonderem Genuß hängt sie auf einem cklten Wiener Friedhof in stiller Einsamkeit ihren schwärmerischen Gedanken nach. Sie wird umworben von Männern, die sie freien, und von solchen, die sie nur flüchtig besitzen wollen. Mutter und Freunde beschwätzen die Aussichten der„guten Partien", Adelheids Herz redet nicht, und ohne Liebe will sie sich nicht binden. Mit der nachtwandlerischen Sicherheit einer rein und edel gebore nen Seele geht das junge Mädchen an Abgründen und Sümpfen vor über, die gar manche ihrer Nrbeitsgenossinnen und Freundinnen verschlingen. Ein natürlicher, stolz gestärkter Abscheu vor dem nied rigen und gemeinen ist ihr Berater und Schutz. So schlägt der Blitz dcS sozialistischen Gedankens in den guten, wohlvorberciteten Bo den trefflicher Menschlichkeit. ES vollzieht sich die große, entschei dende Wendung in Adelheids Leben. Der Sozialismus entfaltet die reichen Talente ihres Geistes und Charakters, sie wird aus seiner Bekennerin zu seiner Evangelistin, wird aus einer von Hundert tausenden, die in der Wüste der kapitalistischen Gesellschaft wan dern, zu einer Führerin in das gelobte Land der Freiheit. Die„Erinnerungen" haben in Skizzen voller Leben und Wirklich- leitstreue eine Reihe von charakteristischen Erlebnissen und Beob achtungen aus der Zeit festgehalten, wo Genossin Popp sich be geistert, alle Bedenken beiseite schiebend, durch keine Schwierigkeit geschreckt, in den Strom der rasch steigenden sozialistischen Arbeiter bewegung warf. ES war die Zeit, in der unter dem Jndustrieprole- tariat Österreichs das Verständnis für die Notwendigkeit erwachte, auch die Frauen der Klasse und namentlich die erwerbstätigen Frauen, aufzuklären nud zu organisieren; die Zeit, in der die Ar beiterinnen selbst sich zu rühren begannen, um ihre Interessen gegen die kapitalistische Ausbeutung zu verteidigen. Die rechte Strmde >and in Adelheid Popp die rechte Persönlichkeit. Unsere Genossin wird eine der hervorragendsten Begründerinnen der österreichischen Arbeiterinnenbewegung, und ihr eigenes Lebensschicksal ist von nun an unlösbar mit deren Geschichte verflochten. Ihre Lehrjahre als Agitatorin und Organisatorin fallen zusammen mit den Anfängen der Arbeiterinnenbewegung. WaS die„Erinnerungen" von dieser zwiefachen Frühlingszeit er zählen, atmet den Reiz, des KeimenS und Werdens. Wir erleben mit ihnen die hingebungsvolle Betätigung des schrankenlosen Idea lismus, wie ihn der Glaube gebiert, der Berge versetzen will. Noch »ehlt es an der Mitwirkung, den Leistungen der Frauenmassen, die die sozialistische Bewegung tragen sollen. Um diese Massen zu wecken und zu werben, bedarf eS der höchsten Opferfreudigkeit, Begeisterung und Tatkraft der wenigen Einzelnen. Die junge Sendbotin des Sozialismus folgt jedem Ruf, der an sie ergeht. ES muß mit jedem Heller Agitationskosten gespart werden. Adelheid läßt sich endlose Stunden vom Bummelzug rütteln und schütteln, wandert weite Wege im Regen, Sturm oder Schneegestöber, nächtigt, sie weiß nicht wo und wie, heute in irgendeinem Armutskämmerchen, das ihr treue Gesinnung bietet, morgen in einem verfallenen Gasthaus, das mehr Spelunke ist. Der Rednerinnen sind so wenige, daß an jede einzelne ungeheure Anforderungen gestellt werden. Adelheid steht bis auf die Knochen durchnäßt am Pult, sie spricht nach kaum überstandener Krankheit, der Körper zitternd, fieberheiß. Häufig gibt es Auseinandersetzungen mit Gegnern, zumal mit Klerikalen, noch häufiger fast Zusammen stöße mit der überwachenden Polizei. Es erfolgen Anklagen, Pro zesse, Verurteilungen. Unsere Genossin erfährt wieder und wieder, wie hemmend sich noch auch in den Arbeiterkreisen daS Porurteil der politischen Betätigung von Frauen entgcgenstemmt. Ihr gesundes, natürliches Taktgefühl bewahrt sie vor den Entgleisungen so mancher „Emanzipierten " ins Männische. Adelheid bleibt Weib und ent waffnet dadurch vielen Widerstand gegen die Frauenbewegung. Die äußere Mühsal und Schwierigkeit des Wirkens wird von inneren Kämpfen begleitet. Der jubelnde Beifall in den Versammlungen vernrag nicht die Gewissensfrage zu übertäuben:„Genügt dein Wissen und Können deiner Aufgabe?" Der innere Drang des Wirken müssens erzeugt so nimmergesättigtes Lern- und Bildungsbedürfnis, das sich in zähem Ringen durchsetzt. Dem Idealismus der Führerin antwortet der Idealismus der erwachenden Proletarierinnen, den, rastlosen Ausstreuen der sozialistischen Gedankensaat reift der Erfolg. Die Arbeiterinnenbewegung Österreichs und Genossin Popp, sie sind zusammen mit höheren Zwecken und einander fördernd gewachsen. Was hier flüchtig, in groben Linien angedeutet ist, das muß man in der Anschaulichkeit der unmittelbaren Darstellung in den„Erinne rungen" selbst lesen. Diese schließen mit anregenden AuSführrmgen über Alkoholismus, Ehe und Familie, Berufstätigkeit der Frau, Kindererziehung, den Haushalt jetzt und in Zukunft und die neue Frau, Ausführungen, die die geistige Physiognomie der Verfasserin vervollständigen. Adelheid Popps„Erinnerungen" sind volkstümlich im guten Sinne des Worts. Zu der Ehre, eine Autodidaktatin zu sein, die aus eigener Kraft emporstieg, fügt unsere Genossin den Geschmack wahrer Bildung, nicht auf jeder Seite durch Zitate und die neuesten Mode- Worte der literarischen TageSströinungen sich selbst den errungenen kul turellen Reichtum zu bescheinigen. Als sie ihre.Erinnerungeu" schrieb, war es ihr nicht um literarischen Ruhm zu tun. Sie gehorchte einem inneren Gebot. So gab sie sich als Schriftstellerin, wie sie sich als Redncrin gebot: herzlich, frisch, echt und schlicht, ganz sie selbst. TaS aber ist gerade nicht der mindeste Vorzug ihres Büchleins und prägt auch literarisch seinen Wert. Denn solcher Wert ist unmöglich ohne das echt Menschliche, daS durch die Form stark und aufrichtig zu uns spricht. AuS den„Erinnerungen" aber redet zu uns und sollte zu Hunderttauscnden reden das ringende und wirkende Menschen- tum unserer lieben Adelheid Popp , der hingebungsvollen, Verdienst- reichen Kämpferin für den Sozialismus. Klara Zetkin. voo Ernährungsfragen. Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger gestaltet sich da» Problem einer ausreichenden Volkse rnöhrung. Zu den uncr- schwinglich hohen Lebensmittelpreisen kommt auch noch der M a n- gel gerade an den wichtigsten Nahrungsstoffen, wie Eier, Milch, Butter, Fett jeder Art. Eine umstrittene Frage ist es, ob daS Fleisch nur durch Preistreibereien wucherisch verteuert ist, oder ob es an den genügenden Mengen von Schlachtvieh fehlt. Jedenfalls steht die eine unbestreitbare Tatsach« fest, daß Fleisch nur al» seltener Luxus auf den Tisch der Arbeiterfamilien, der kleinen Leute kommt. Fast jeden Tag erscheint eine neue Verordnung deS Bundes- rat«, die weder den Teuerungspreisen noch dem Mangel an fett- und eiweißhaltigen Nahrungsstoffen wirklich abzuhelfen vermag. Gerade der fett- und eiweißhaltigen Nahrungsmittel aber bedarf der moderne Mensch in hohem Matze. DaS Wohnen in der Groß- itadt, daS hastige Tenipo d«S Verkehrs- und Geschäftslebens, die Fabrik- und Maschinenarbeit, der stete Lärm, die Sorgen und Spannungen, die gerade jetzt in der KriegSzeit noch mehr Nervcn- energie verzehren als früher: alle» das zwingt uns, nach Nahrungs- Mitteln zu greifen, die uns die zur Wiederherstellung der MuSkel- und Nervenkraft nötigen Stoffe in möglichst gehaltvoller, leicht ver- daulicher Form zuführen. DaS sind aber eben die Fette und die eiweißhaltigen Stoffe wie Fleisch, Eier, Milch. Wir können diese Nahrungsmittel am besten vergleichen mit den sogenannten„Kraft- futtermitteln", die der Landwirt zur Mästung de» Schlachtviehs oder zur Erzeugung von Vollmilch bedarf. Je hochwertiger die Ar beitsleistung, je größer der Verbrauch an Nerven, desto gehaltreicher und leichter verdaulich muß die Nahrung sein. Zumal der minderbemittelten Bevölkerung wird häufig der Rat gegeben, sich mit Ersatzmitteln zu behelfen. Gestützt auf irgendwelche medizinische Autoritäten und chemische Analysen wird ihr bewiesen, daß das ganz gut möglich sei. Man habe ja genügend Kartoffeln, Gemüse, Obst und Zucker. Besonder? der Zucker sei ein gutes Ersatzmittel für mangelnde Fette. Wir wollen hier nicht da- von sprechen, daß auch die genannten Nahrungsmittel, dank den falschen und halben Maßregeln der Behörden, ganz unverschämt hoch im Preise stehen, so daß manche Arbeitermutter nicht einmal davon genügend zu kaufen imstande ist. Wir wollen heute nur den Nährwert dieser Stoffe etwas näher ins Auge fassen und et-
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26 (26.11.1915) 5
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