Für unsere Mütter und Hausfrauen
Nr. 7
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Beilage zur Gleichheit
Inhaltsverzeichnis: Schein und Wirklichkeit. Gedicht von Gottfried Keller . über ansteckende Krankheiten. Von Alex. Lipschütz.( Schluß.) Kochbeutel. Von M. Kt. Feuilleton: Zum Nachdenken. Heiliger Abend. Gedicht von Karl Bröger . Friede auf Erden. Von Adolf Schmitthenner .
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Schein und Wirklichkeit.
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So manchmal werd' ich irre an der Stunde, An Tag und Jahr, ach, an der ganzen Zeit. Es gärt und tost, doch mitten auf dem Grunde Jst es so still, so kalt, so zugeschneit!
Habt ihr euch auf ein neues Jahr gefreut, Die Zukunft preisend mit beredtem Munde? Es rollt heran und schleudert, o wie weit! Euch rückwärts. Jhr versinkt im alten Schlunde.
Doch kann ich nie die Hoffnung ganz verlieren, Sind auch noch viele Nächte zu durchträumen. zu schlafen, zu durchwachen, zu durchfrieren! So wahr erzürnte Wasser müssen schäumen, Muß, ob der tiefsten Nacht, Tag triumphieren, Und sieh: Schon bricht es rot aus Wolkensäumen.
Lleber ansteckende Krankheiten.
Bon Alex. Lipschüß.
( Schluß.)
Aus dem bisher Mitgeteilten folgt, daß soziale Momente für die Verbreitung von ansteckenden Krantheiten von hervorragender Bedeutung sind. Je enger Menschen zusammenleben, je weniger Sorgfalt sie auf Reinlichkeit legen können, desto größer ist stets die Anstedungsgefahr. Darum sehen. wir auch, daß ansteckende Krankheiten vorzugsweise die ärmere Volksklasse befallen. Man könnte denken, daß, wenn eine Krankheit in Form einer Epidemie wie ein Fegefeuer über die Bevölkerung hinzieht, sie alle in gleicher Weise befallen müßte. Aber das ist nicht der Fall. Speziell für Deutschland besiben wir in dem Material über das Auftreten der Cholera in Hamburg vor 23 Jahren einen außerordentlich interessanten Beweis für den Einfluß sozialer Verhältnisse auf die Ausbreitung von Infektionskrankheiten. Wie die folgende Tabelle uns zeigt, befiel die Cholera namentlich die
Bersteuertes Einkommen
Mart
800 bis 1000
Über
1000 0 2000
D
2000
3500
S
3500
5000
W 5000
10000
W 10000
25000
0
25000 50000
D
50900
Auf je 1000 Steuerzahler Dieser Gruppe erkrankten an der Cholera Personen
114 100
47
40
31
18
17
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minderbemittelten Kreise, während die sehr bemittelten von der Cholera so gut wie verschont blieben. Auch mit Bezug auf die meisten andern Infektionskrankheiten ist festgestellt worden, daß sie in den Kreisen der Minderbemittelten viel verbreiteter sind, als in den besitzenden Kreisen des Volkes. Für die Beurteilung der großen sozialen Bedeutung der ansteckenden Krankheiten ist die Tatfache sehr wichtig, daß der Verlauf der Infektionsfrankheiten in den verschiedenen Kreisen der Bevölkerung verschieden ist. Die Zahl der Todesfälle zum Beispiel bei Masern und Scharlach ist bei den Kindern der Armen im Verhältnis zur Zahl der Erkrankten größer als bei den Reichen. Die sozialen Umstände gestatten es diesen, die Behandlung zwedmäßiger auszugestalten als das bei den Unbemittelten der Fall ist. Die Wohnungsverhältnisse und die Pflege entsprechen in den ärmeren Klassen der Bevölkerung nur sehr selten den Anforderungen, die von ärztlicher Seite gestellt werden. Das beeinflußt natürlich
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in weitem Maße den Verlauf der Krankheit. Der Körper des unbemittelten Patienten ist häufig auch wegen ungenügender Ernährung und wegen überarbeitung viel weniger widerstandsfähig als des bemittelten. Darum allein schon erliegt der Minderbemittelte viel eher dem schädlichen Einfluß der krankmachenden Bakterien als der Bemittelte, und darum allein schon ist auch der Verlauf der Krankheit je nach der sozialen Lage des Patienten verschieden.
Aber wohl bei keiner anderen Krankheit aus der Zahl der Infektionskrankheiten liegt der Einfluß der sozialen Lage auf das Vorfommen und auf den Verlauf der Krankheit so offen zutage, wie bei der Tuberkulose. Man hat die Tuberkulose mit Recht als Proletarierkrankheit bezeichnet. Durch Untersuchungen, die über den Einfluß der sozialen Lage auf ihre Verbreitung und auf die Sterblichkeit an Tuberkulose vorgenommen worden sind, hat man zweifelsfrei festgestellt, daß die Tuberkulose in einer fozialen Gruppe umso berbreiteter ist, je schlechter diese soziale Gruppe ökonomisch gestellt ist. In manchen Städten beträgt die Sterblichkeit an Tuberkulose in den arbeitenden Klassen das zehnfache der Sterblichkeit in den Kreisen der Wohlhabenden. Die soziale Lage ist also von dem größten Einfluß auf die Verbreitung der Tuberkulose. Was man als schlechte soziale Lage" bezeichnet, ist ein ganzes Bündel von verschiedenen Dingen: das schlechte Wohnen, das schlechte Essen, die Arbeit bis zur übermüdung, die Schwächung des Organismus, wodurch dieser für die krankmachenden Reime empfänglicher wird, die Arbeit in schlecht gelüfteten Räumen, die Tatsache, daß man den Erkältungskrankheiten mehr ausgesezt ist, die mangelnde Pflege bei leichteren Erkrankungen, die den Boden abgeben können für die Tuberkulose wie die Influenza, der sogenannte Lungenkatarrh,- alles das kommt zusammen, um dem Tuberkelbazillus die Möglichkeit zu geben, sich im Organismus auszubreiten und ihn krank zu machen. Von ganz besonderem Einfluß sind die Wohnungsverhältnisse. Ein tuberkulöses Mitglied der Familie kann alle anderen Mitglieder mit Tuberkulose infizieren, während die Isolierung eines mit Tuberkulose behafteten Familienmitgliedes, seine Entfernung aus der Familie als wichtigste Vorbeugungsmaßregel gegen die Erkrankung der anderen Mitglieder der Familie bezeichnet werden kann.
Der Einfluß der sozialen Lage auf die Verbreitung der Tuberkulose macht sich auch noch in einer anderen Beziehung geltend. Es ist festgestellt, daß be st i m mte Berufe ganz besonders für die Tuberkulose empfänglich sind. Es sind jene Berufe, wo sehr viel scharfer Staub geatmet wird: Metallarbeiter, Graveure, Drucker und Sezer, Steinarbeiter, Glasbläser, Töpfer, Spinner, Weber und Hutmacher , Müller, Bäcker und Lederarbeiter, Straßenkehrer, Briefträger und Straßenbahnschaffner haben eine außerordentlich große Sterblichkeit an Tuberkulose. Bei ihnen macht die Zahl der an Tuberkulose verstorbenen 20 bis 40, ja fogar 50 Prozent aller Verstorbenen aus. Besonders klar tritt das vor Augen, wenn man die Sterblichkeit an Tuberkulose in den einzelnen Berufen miteinander vergleicht. Steinhauer zum Beispiel sterben siebenmal so häufig an Tuberkulose als Bantangestellte. Die Bankangestellten und die Steinhauer bilden gewissermaßen die beiden Extreme. Zwischen ihnen liegen die Schneider, die Schreiner , die Metzger, Buchdrucker, Maler usw.
Halten wir uns all das vor Augen, was wir über den Einfluß der sozialen Lage auf die Verbreitung und den Verlauf der Infektionskrankheiten gehört haben, und namentlich das, was wir über den Einfluß der sozialen Lage auf die Verbreitung der Tuberkulose und auf die Sterblichkeit an dieser Krankheit gehört haben, so finden wir ganz bestimmte Gesichtspunkte, nach denen wir uns bei der Bekämpfung der ansteckenden Krankheiten richten müssen. Die Behauptung, man müsse die ansteckenden Krankheiten bekämpfen, indem man von den Menschen die krankmachenden Bakterien fernhalte, ist in Wirklichkeit ein ganzes sozialpolitisches Programm. Denn man kann die Bakterien vom Menschen nur fernhalten", wenn man zu sozialen Maßnahmen greift! Man wird den Tuberkelbazillus zum Beispiel von den Menschen, von den Broletariern nur fernhalten können, wenn man die Wohnungsverhältnisse im Proletariat von Grund auf ändert. Aber auf eine vollstän dige Vernichtung der krankmachenden Keime dürfen wir nicht so bald hoffen: die Tuberkelbazillen find so ziemlich allgegenwärtig".