36Für unsere Mütter und KausfrauenNr. 9FeuilletonVier Tage auf dem Schlachtfeld.Von Wsewolod Garschw. lFortsetzung.)ES wird heiß. Die Sonne brennt. Ich öffne die Augen, sehe die selben Sträucher, denselben Himmel, nur bei Tagesbeleuchtung.Ah, da ist auch mein Nachbar. Ja, das ist ein Türke, ein Toter.Wie ungeheuer groß er ist! Ich erkenne ihn, das ist derselbe....Vor mir liegt ein von mir getöteter Mensch. Weshalb habe ich ihngetötet? Er liegt hier tot, blutübergossen. Warum hat das Schicksal ihnhierher gejagt? Wer ist es? Vielleicht hat er auch, wie ich, einealte Mutter? Lange wird sie an den Abenden an der Türe ihrerarmseligen Hütte sitzen und nach dem weiten Norden hinschauen:Kommt nicht ihr Herzenssohn, ihre Hilfe und ihr Ernährer?...Ich aber? Auch ich____ Ich würde sogar mit ihm tauschen. Wieglücklich ist er! Er hört nichts, fühlt nicht den Schmerz der Wun den, weder die tödliche Sehnsucht, noch Durst.... Das Bajonettist ihm direkt ins Herz gedrungen____ Da auf dem Uniformrock istein großes schwarzes Loch; rings darum aber ist Blut.Das habe ich getan.Ich wollte es nicht. Ich wünschte niemand BöseS, als ich zumKampf ging. Der Gedanke, daß auch ich Menschen töten müsse,schwand von mir. Ich stellte mir nur vor, wie ich meine Brustden Kugeln entgegenstellen werde. Und ich ging hin und tat es.Nun, und was geschah? O Tor, o Narr! Dieser unglückliche Fellahaber— er hat die ägyptische Uniform an— er ist noch wenigerschuld. Bevor man sie, wie die Heringe in eine Tonne, auf denDampfer steckte und nach Konstantinopel brachte, hatte er nie wedervon Rußland, noch Bulgarien gehört. Man befahl ihm zu gehen,und er ging. Wenn er nicht gegangen wäre, man hätte ihn mitStöcken geschlagen oder vielleicht hätte irgendein Pascha aus einemRevolver eine Kugel auf ihn abgefeuert. Er machte den langenschweren Marsch von Stambul bis Rustschuk. Wir machten einenUberfall, er verteidigte sich. Als er aber sah, daß wir schrecklicheMenschen, die sich vor seinem patentierten englischen Gewehr nichtfürchten, vielmehr immer vorwärts und vorwärts drängten, gerieter in Entsetzen. Als er fortgehen wollte, sprang irgendein kleinerMensch, den er mit einem Schlage seiner schwarzen Faust nieder schlagen konnte, heran und stieß ihm das Bajonett ins Herz.Was hat er denn für Schuld?Und welche Schuld trifft mich, obgleich ich ihn ja getötet habe?Welche Schuld habe ich auf mich geladen?... Wofür quält mich derDurst? Der Durst! Wer weiß, was dies Wort zu bedeuten hat?Damals sogar, als wir durch Rumänien zogen, als wir in derschrecklichen Hitze von vierzig Grad Märsche von fünfzig Werstmachten, damals stand ich nicht das aus, was ich jetzt ausstehe. Ach,wenn doch jemand kommen würde!Mein Gott! Ja, er wird sicher Wasser in dieser großen Flaschehaben! Aber man muß erst zu ihm hin können. Was wird dasfür eine Mühe kosten! Einerlei, ich krieche hin. Ich krieche. DieFüße schleifen nach, der unbewegliche Körper vermag kaum, sichauf den schlaffen Händen fortzubewegen. Bis zu dem Toten sindes zwei Klafter, für mich jedoch ist es mehr— nicht mehr, aberschlimmer— als Dutzende Werst. Aber es muß sein. Der Halsbrennt unausstehlich, wie von Feuer. Ja, und man stirbt ohneWasser eher. Dennoch, vielleicht____ Und ich krieche. Die Füße� stoßen auf die Erde und jede Bewe gung ruft einen unerträglichen Schmerz hervor. Ich schreie, schreieund heule, aber dennoch krieche ich weiter. Endlich, da ist er. Daist die Feldflasche... es ist Wasser darin— und wieviell ES scheint,mehr als die halbe Flasche. Ol Das Wasser reicht lange vor....bis zum Tode!Du rettest mich, mein Opfer!... Ich begann, auf einen Ell bogen gestützt, die Flasche loszulösen, und plötzlich verlor ich dasGleichgewicht und fiel mit dem Gesicht auf die Brust meinesRetters. Es ging schon ein starker Leichnamsgeruch von ihm aus.Ich hatte getrunken. Das Wasser war warm, aber noch nicht ver dorben und außerdem war es viel. Ich werde noch einige Tageleben. Ich entsinne mich, in der„Physiologie des täglichen Lebens"heißt es, daß der Mensch ohne Nahrung, nur mit Wasser, längerals eine Woche leben kann. Ja, da steht auch die Geschichte vondem Selbstmörder, der den freiwilligen Hungertod gestorben ist.Er lebte noch sehr lange, weil er trank.Nun, was ist dabei? Wenn ich noch fünf— sechs Tage lebe,Was kommt dabei heraus? Die Unsrigen sind weggegangen, dieBulgaren sind fortgelaufen. Einen Weg gibt es nicht in der Nähe.Einerlei— gestorben mutz sein. Nur habe ich mir statt eines drei tägigen Todeskampfes einen achttägigen bereitet. Ist es nichtbesser, ein Ende zu machen? Neben meinem Nachbar liegt sein Ge wehr, ein ausgezeichnetes englisches Erzeugnis. Ich brauche nurdie Hand auszustrecken; dann— eine Sekunde, und das Ende istda. Patronen liegen in Haufen hier herum. Er hat nicht alle ab geschossen. Also ein Ende machen oder— warten? Was? Erlösung?Tod? Warten, bis die Türken kommen und anfangen, die Hautvon meinen verwundeten Füßen abzuziehen? Besser tut man eSselbst. Nein, man mutz den Mut nicht sinken lassen; ich werde biszu Ende kämpfen, bis die Kräfte versagen. Wenn man mich findet,bin ich gerettet. Vielleicht sind die Knochen nicht getroffen und manwird mich heilen. Ich werde die Heimat, die Mutter, Mascha wie dersehen....Herrgott, laß sie nicht die ganze Wahrheit erfahren! Mögen siedenken, daß ich auf der Stelle getötet bin. Was wird in ihrer Seelevorgehen, wenn sie erfahren, daß ich mich zwei, drei, vier Tage ge quält HabelMein Kopf schwindelt; meine Reise zu dem Nachbarn hat michvollständig ermattet. Und noch dazu dieser schreckliche Geruch hier!Wie schwarz er geworden ist... wie wird er morgen oder über morgen aussehen? Und ich liege jetzt nur deshalb hier, weil mirdie Kraft fehlt, wegzukriechen. Ich will mich ausruhen und dannkrieche ich auf meinen alten Platz zurück; es ist gut, der Wind wehtvon dort und wird den Gestank von mir wegtreiben.Ich liege vollständig ermattet da. Die Sonne brennt mir aufGesicht und Hände. Ich habe nichts, um mich zu bedecken. Wenn dieNacht doch bald käme: das wird, wie es scheint, die zweite sein.Die Gedanken verschwimmen, und ich verliere das Bewußtsein.Ich hatte lange geschlafen, denn als ich erwachte, war es schonNacht. Es ist alles wie vorher, die Wunden schmerzen, der Nachbarliegt ebenso ungeheuer groß und unbeweglich da.Ich vermag meine Gedanken nicht von ihm loszureißen. Habeich denn alles Liebe, Teure verlassen, bin ich nach einem langenMarsche hierhergekommen, habe ich gehungert, gefroren, unter derHitze gelitten; liege ich endlich jetzt hier mit diesen Ovalen— nurdamit dieser Unglückliche aufhört zu leben? Ja, habe ich dennirgend etwas im militärischen Sinne Nützliches getan, außerdiesem Mord?Mord, Mörder.... Und wer?Ich! Als ich beschloß, in den Kampf zu ziehen, haben mich die Mutterund Mascha nicht zurückgehalten, obgleich sie um mich weinten.Geblendet von der Idee, sah ich diese Tränen nicht. Ich hattekeinen Begriff— jetzt habe ich ihn—, was ich denen getan habe,die mir am Liebsten sind.Ja, sollte man eigentlich daran denken? Was vergangen ist, holtnian nicht zurück. Und was für ein sonderbares Verhalten zeigtenviele Bekannte meinem Entschluß gegenüber.„Na, der ist auch verrückt! Läuft mit und weiß nicht weshalb!"Wie konnten sie das sagen? Wie verhalten sich solche Worte zuihren Vorstellungen von Heldentum, Vaterlandsliebe und ande ren Dingen? In ihren Augen vertrat ich doch alle diese Tugen den. Und trotz alledem— bin ich„verrückt".Und da fahre ich nach Kischineff, man packt mir einen Ranzenund allerhand militärische Sachen auf. Und ich gehe zusammen mitTausenden, unter denen vielleicht einige wenige zu finden sind, diegleich mir freiwillig gehen. Die übrigen würden zu Hause ge blieben sein, wenn man es ihnen gestattet hätte. Aber sie gehenebenso wie wir,„die Zielbewußten", marschieren tausende Werstund kämpfen ebenso wie wir, oder sogar noch besser. Sie erfüllenihre Pflichten, ungeachtet, daß sie sofort alles im Stiche gelassenhätten und fortgegangen wären— wenn man es nur gestattethätte. Es wehte ein scharfer Morgenwind. Die Sträucher bewegtensich, ein halbverschlafenes Vögelchen huschte auf. Die Sterne warenerloschen. Der dunkelblaue Himmel war lichtgrau, hatte sich mitzarten Federwölkchen bedeckt; eine graue Halbdämmerung entstiegder Erde. ES begann der dritte Tag meines... Wie soll man esnennen? Leben? Todeskampf? Der dritte____ Wieviel sind nochübrig? Jedenfalls nicht viel. Ich bin sehr schwach geworden, undwie es scheint werde ich nicht einmal von dem Leichnam wegrückenkönnen. Bald werden wir beide einander gleich und uns nicht mehrunangenehm sein. Ich mutz trinken. Ich werde dreimal am Tagetrinken! Morgens, mittags und abends.<Schlub folgt.)«eranNoorlllch für die NedaNwn: Frau»lara getNn(gundel), WtlhelmShöh«,Post Degerloch bei Stuttgart.