Juniwanöerung durch Petersburg . 0. St. Petersburg , im Juni. Vu» dem eine Stunde von Petersburg entfernten Pawlowsk , der vollendetsten Empirestätte Pauls I., zurückkehrend, noch ganz eingehüllt in die Erinnerung an das sonnendurchglühte Grün des Parts, die frische Pracht des hier im Norden spät blühenden Flieders, die Schätze des in ein Museum verwandelten Schlosses, steige ich auf dem Bahnhof aus dem Zuge. Schon vor der Einfahrt in die Glashalle zeigen einem zwei auf totem Strang stehende P r o p a» ganda»Waggons, daß man Petersburg betritt, die Hauptstadt der„Nördlichen Kommune". Es find zwei Warenwagen, bedeckt mit phantastischen Plakaten in schreienden Farben: die Darstellungen so primitiv, daß man wohl merkt, sie sind dazu bestimmt, auf die noch immer tiefumnachtete Bauernschaft innerer Gouvernements zu wirken. Mühsam enlleert sich der überfüllte Zug. Man wird vom Strom mit sortgerissen, den Bahnsteig entlang in das moderne, für den Berkehr mit den kaiserlichen Sommerresidenzen prächtig erbaute Bahnhofsgebäude. Es macht auch heute noch einen westeuropäischen Eindruck. Nur die Steinfliesen sind von monatealtem Schmutz ge- bohnt, so daß die Farben und Ornamente, namentlich in den Seiten- gängen, kaum mehr hindurchblicken. Sogar Fahrkartenschalter gibt es auf diesem Bahnhof. Auf den drei anderen großen Bahnhöfen der Stadt, dem Nikolaibahnhof für die Verbindung mit Moskau , dem Baltischen und dem Warschauer Bahnhof, sucht man heute ver- geblich nach einem Schalter. Die sind in benachbarte Hotels oder Privatgebäude verlegt worden. Denn diese drei Bahnhöfe sind alt und äußerst eng gebaut. Die Sowjetregierung aber bedarf auf jedem Bahnhof eines sogenannten„A g i t p u n k t s", d. h. eines Propa- gandaraums, der schon deshalb gern aufgesucht wird, cell sich nur dort einige Stühle oder Bänke befinden, außerdem aber auch ein großer Tisch, auf dem die mannigfaltigste Sowjetliteratur, auf elendstem Matulaturpapier gedruckt, ausliegt. Um diesen Raum zu beschaffen, mußten die Schalter beseitigt werden. Mein Weg führt am Fontankakanal entlang dem N e w s k i- Prospekt, der früheren Schlagader de- Petersburger Straßen- Verkehrs, zu. Das Wasier schleicht noch ebenso braun und ohne Gefälle zwischen den gewaltigen Granitquadern hin, wie einst, aber der Anblick ist doch völlig gewandelt. Es fehlt etwas, was wesentlich zum Bilde Petersburg » gehört«. Der Kanal, der früher während der ganzen Schiffahrtszelt so dicht mit den großen Holz-, Sand- und Ziegelbarken bedeckt war, daß die kleinen Passagierdampfer der finnischen Gesellschaft zuweilm nur knapp Ihren Weg hindurchfanden, ist jetzt frei und ohne das emsige Leben, das ihn sonst bewegte. Und dasselbe beobachtet man auf allen übrigen Kanälen, wie auf den zahlreichen stromartig breiten Newaarmen. Jahr um Jahr haben d!« Barten dort gestanden, ungenutzt, ohne Fürsorge, von ihren Be- sitzern oerlassen. Langsam sind sie verfault, zuerst bis zum Bord- rande und endlich ganz in den Fluten versunken. Hier und da ragt ein Wrack noch empor. Einige Brücken sind durch quergeschwemmte Bartenrümpfe gesperrt, und dieses bei Rußlands spärlichem Eisen- bahnnetz so wichtige Transportmittel ist so gut wie verschwunden und in Jahren nicht wiederherzustellen. Unter solchen Betrachtungen bin ich zum Newski gelangt. In feinem Einschnitt nach dem Nikolaibahnhof zu ragt in der hellen Junisonne der Turm des Polizciamts auf. Die hohen eisernen Masten für die Signale bei Schadenfeuern sind seit den Reoolutions- tagen demoliert und ihre Trümmer ragen drohend und geknickt schräg über die Straße hinaus— ein mahnendes Wahrzeichen für das Uebel, an den, die ganze Stadt, das ganze Reich krankt. Da steht es sichtbar zu lesen:„Nichts schadhaft Gewordenes kann in diesem Lande wiederhergestellt werden!" Aber In Versammlungen und kommunistischen Kongressen hallt es wieder von dem Worte„Wieder- oufbau— Wiederaufbau!" Und phantastische Riesenpläne werden entworfen für die„Elektrisierung ganz Rußlands ". Ich wende mich auf dem Newski nach links zur Admiralität. Aber ist es auch der Newski? Man fühlt sich fast versucht, daran zu zweifeln, so hat sich der Gesamteindruck verwandelt, und wenn nicht die helle Tagessonne schiene und die immerhin zu große Menge von Fußgängern einen irremachte, würde man meinen: es ist der Newski, ober um 3 oder 4 Uhr morgens, zu der Zeit, wo früher auch der Nachtoerkchr verebbt war. So steht er jetzt immer aus. Alle Läden geschlossen, viele Schaufenster mit Brettern vernagelt. Der berühmte Kaufhof im Zentrum der Stadt— ein gewaltiger von großen steinernen Bogengängen umgebener Bau, der ein ganzes, ausge- dehntes Straßenviertel einnimmt und stets den Eindruck eines orientalsschen Riesenbazars machte, in dem Orient und Okzident ihre Gaben In Ueberfülle vereinigt hatten— tot, ausgestorben, die Bogengänge mit Hängeketten für die Passanten abgesperrt! Und der D e r k e h r auf den Straßen...? Vereinzelte Autos mit Kommissaren darin, zuweilen ein Lastauto der Regierung, das ist alles, Pferde sieht man kaum mehr. Kein Wunderl Schon im Spätherbst ISIS habe ich auf der ca. 2H Kilometer langen Streck« vom Anitchkow-Palais bis zum Generälstab fünf wegen Unterernäh- rung vor ihren Fuhrwerken gefallene Pferde auf einem Spazier- gang gezählt. Die Elektrische verkehrt nicht. Man siebt die in der Abendsonne glänzenden Schienen sich kilometerweit in der Perspektive verengen.— Kein Wagen darauf. Aber nein, da scheint doch etwas heranzukommen... Dan* kann es nur ein Patetwagen der Stadtpost sein oder ein Transport- zug. Diesmal ist es ein Transport und zwar ein leerer. Da» wirkt immer magnetisch auf die gleichmäßig sich fortbewegenden Passanten» mengen zu beiden Seiten des Newski. Die Rüstigeren erfaßt ein« Bewegung, sie eilen heran. Der Transport kommt näher. Gewöhn« lich ist Holz darauf verladen gewesen, zuweilen auch Dünger. Ab« wer fragt danach, wenn er schon kilometerweit zu Fuß gegangen und müde geworden ist? Da stehen sie auch schon auf den Platt» formen, die Beneidenswerten, denen es gelungen ist, sich hinaufzn» schwingen: Soldaten, Studierende, Arbeiter. Beamte. Und jedem, der herangelaufen kommt, wird geholfen. Wieviel mal hat mir ein kräftiger Zug von oben, ein entgegengestreckter Arm, geholfen, mit kühnem Schwung in mehr oder weniger voller Fahrt, mit dem kartoffelschweren Rucksack auf dem Rücken, hinaus und mitten in den zuweilen recht saftigen Dreck aus der Plattform zu fliegen. Den» dieses Gute hat wenigstens die Kleidung eines heutigen Peter»- burger»: zu schonen ist daran nichts mehr. Rur einzelne Angehörig« des weiblichen Geschlechts verstehen es immer noch, sich durch Aend«- rungen an ihrer früheren Kleidung oder durch geschickte Verwendung alter Stoffreste, ein fesches Aussehen zu geben. Gegen die mächtigen Instinkte der Natur kommt eben keine Regierungsform auf... Es ist inzwischen Abend geworden. Auch die Fußgänger, di« den Newski bisher belebten, verlaufen sich allmählich. Aber dunkel wird es nicht. Die bleichen melancholischen Frühsommernächte sind geblieben wie einst. Sie haben sich nicht gewandelt, und während stch heimschlendere, leuchten matt und eigenartig die goldenen „Nadeln" der Admiralität und der Festungskirche über den wogenden breiten Strom zu mir herüber. Helle Nächte— dunkle Schicksal«: beide ruhen still und gleichmütig über der verfallenden Hauptstadt Rußland ». Nüüe Seele. Müde Seele, ruh« dich Aus an meiner Brust? Sprich kein Wort, denn all dein Leid Ist mir längst bewußt. Hörst du wie mein Herze schlägt? Schlägt für dich allein. Müde Seele, wirs auf mich Alle deine Pein. Werde stark durch meine Kraft, Lebe in der Ruh: Schwinge feflellos dich auf, Müde Seele du. Ctllt VItItr-Kmtn Erziehung. Wenn ein Kind mit Geld sich vergeht oder gar etwa» irgendwo wegnimmt, so befällt die Eltern und Lehrer. eine ganz sonderbare Furcht vor einer verbrecherischen Zu» kunft, als ob sie selbst wüßten, wie schwierig es sei, kein Dieb oder Betrüger zu werdenl Was unter hundert Fällen in neunundneunzig uns die momentan unerklärlichen Einfäll« und Gelüste des träumerisch wachsenden Kindes sind, das wird zum Gegenstande eines furchtbaren Strafgerichtes gemacht und von nichts als Galgen und Zuchthaus gesprochen. Al» ob alle diese lieben Pflänzchen bei erwachender Vernunft nicht von selbst durch die Eitelkeit davor gesichert würden, Dieb« und Schelme sein zu wollen. Dagegen wie milde und freund- schaftlich werden da tausend kleinere Züge und Zeichen de» Neides, der Mißgunst, der Eitelkeit, der Ans m a ß u n g, der moralischen Selbstsucht und Selbst« gefälligkeit behandelt und gehätscheltl Wie schwer merken die wackeren Erziehungsleute ein früh verlogenes und verblümtes inneres Wesen an einem Kinde, während sie mit höllischem Zeter über ein anderes herfahren, das aus Ueber- mut oder Verlegenheit ganz naiv«ine vereinzelte derbe Lüg« gesagt hat. Denn hier haben sie eine greifliche bequeme Hand» habe, um ihr donnerndes: Du sollst nicht lügen I dem kleinen erstaunten Erfindungsgenie in die Ohren zu schreien. Gottfried Keller .
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