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Nummer 5

Heimwelt

2. Februar 1922

Unterhaltungsbeilage des Vorwärts

Die Familie Declerc.

Bon L. Troßft.*)

Seit November ist Jules Declerc im Felde. Er ist 45 Jahre alt und war in seinem Beruf Straßenbahnschaffner. Wäre er einfacher Soldat gewesen, so wäre er mit seinen Kameraden irgendwo rück wärts auf einem Druckposten geblieben. Aber zum Unglück für seine Frau und zu seinem eigenen war er Sergeant, und so wurde er an die Front geschickt. Seine Tressen fosten ihm viel, sant seine Frau. Die ersten Wochen war er fast andauernd bei den Kämpfen, dann in den Schützengräben und die letzten Monate vor Toul . Frau Declerc ist eine schöne Frau mit einem feinen Brofil und grauen Haaren. Sie erwartet ihn ruhig und hartnäckig. Ihre Nach, rin, Frau Richard, die Brotausträgerin, erwartete auch ihren Mann, aber Richard wurde durch eine verirrte Rugel getötet, weit hinter der Feuerlinie, am Abend vor seinem Urlaubsantritt. J..1 dritter Kriegsmonat, als ihre kleinen Ersparnisse fast aufgezebrt weren, be­gann Frau Declerc als Aufpärierin zu arbeiten, und der eigene Haushalt rückte in zweite Linie. Die Kinder besuchten die Saule und erhielten dort zu essen. Während der letzten drei Wochen fragt jeden Tag der älteste zwölfjährige Sohn Marcel, mit dem blassen Gesicht und der alten Müße aus der Schule heimfommend:" It Bapa angekommen?" und bekommt Tag für Tag di Antwort: " Nein, aber sicherlich wird er dieser Lage tommen." Frau Declerc hat aus Paris einen Brief ihrer ältesten Schwester erhalten, der die Todesnachricht ihres ältesten Sohnes brachte. Er war 20 Jahre alt, feit April verheiratet und seit August im Kriege. Am Tag, nachdem die Unglücksbotschaft eingetroffen war, verspätete fich Frau Declerc um eine Viertelstunde beim Beginn der Arbeit, und indem sie sich bei ihrer Arbeitgeberin entschuldigte, erklärte sie ihr: " Wir haben diese Nacht nicht geschlafen."" Wir". das waren die andern, die schon Witwen waren, und diejenigen, die in der emigen Angst der Witwenschaft lebten. Sie vereinigten sich gruppen­weise bei jeder neuen Witwe oder bei jeder Witwe, der ihr Sohn geraubt worden war, um die Nacht mit ihr zu verbringen, um sich mit ihr zu erinnern und mit ihr zu weinen die meisten in Trauer gekleidet, mit kleinen Bildern des Mannes oder Sohnes als Brosche auf der Brust. Sie weideten sich gemeinsam an ihrem Unglüd, an dem Verhängnis, feiner Allgemeinheit am nächsten Morgen gingen

sie wieder an ihre Arbeit.

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In dieser Atmosphäre von Angst, schlaflosen Nächten und Arbeit erwartete Frau Declere schweigend und hartnäckig ihren Mann. Nein, nein," sagte sie in hoffnungslosen Augenblicken, kein Mann wird aus dem Krieg heimkehren, fciner!"

Ende Oktober, als der blasse Marcel in seinem langen Mantel, der noch das folgende Jahr gut auslangen mußte, um 5 Uhr aus der Schule durch die Hauptstraße heimkommt, ruft ihm der fleine Ge­müsehändler zu: Lauf heim, dein Vater ist zurückgefomment" Raum haben ihm diese Worte im Ohr geflungen, da läuft er mit seinen mageren Beinen, die endlosen Schöße feines Mantels zurück­schlagend.

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Der Gergeant Declerc ist wirklich angekommen, endlich mit viertägigem Urlaub. Wie den anderen, hat man ihm erlaubt, für hundert Stunden im Familienleben unterzutauchen, im friedlichen Leben, unter der Bedingung, am bestimmten Tag zurückzukommen. In finsterer Nacht sind die Urlauber aller Waffengattungen in einen düsteren Zug ohne Beleuchtung gestiegen, der einige Kilometer von der Feuerlinie entfernt steht. Todmüde haben sie sich auf die Bänke gesetzt oder auf den Fußboden gelegt und find bei der taktmäßigen Bewegung der Wagen eingeschlafen. Dann haben sich in beſtimm­ten Bahnhöfen fleine Gesellschaften von Heimatsgenossen gebildet.

*) Dieses im November 1915 in Frankreich geschriebene Stim­mungsbild, das jetzt erst sozusagen aus dem Pariser Nachlak Tropfis in der Humanité" veröffentlicht wird, zeigt den Organisator der Roten Armee und rüsichtslosen Diktator als zartfühlenden Feuilletonisten.

Das Band der Front ist für einen Augenblick zerrissen, das der Heimat ist wiederhergestellt, man spricht im Dialekt. Je mehr man sich von der Front entfernt, desto mehr ist man von der Stille be täubt. Declerc mit der stärksten Gruppe steigt in Paris aus. Als er heimtam, war seine Frau bei der Arbeit, Marcel in der Schule, und nur die zwei Kleinsten unter Aufsicht ihrer ältesten Schwester waren daheim. Der Gergeant füßte die Kinder, warf einen Blick um sich und fühlte eine gewisse Freude, ein mit Unruhe gemischtes Erstaunen in sich.

und hoffen, und fünf Minuten nach dem freudigen Wiedersehen Frau Declerc tehrt nichtsahnend heim, ermüdet vom Glauben ist sie von einer quälenden Angst erfaßt: in vier Tagen muß er zur Front zurück! Der Sergeant ist sehr ruhig und flagt über nichts, seine Frau ist erstaunt und erschreckt. Sie hat die Empfindung, nicht den Weg zu seinem Herzen zu finden, und der rasch vergängliche charakter ihres Wiedersehens wird immer schmerzlicher, man tönnte sich am Kreuzungspunkt zweier auseinanderlaufender Leben denken. Declerc ist sehr sparsam, er hat nicht nur fein einziges Mal Geld verlangt, sondern er hat auch von seiner Löhnung als Sergeant gespart. Er bringt eine fleine Summe Geldes und Geschenke für die Kinder mit Ruhig, wie betäubt von der Ruhe, die ihn umgibt, erzählt er von den deutschen Schützengräben, die so nahe sind, daß man von einer Linie zur anderen sprechen konnte, fast ohne die Etimme zu erheben. Aber das ist verboten. Man sieht nicht das Ende des Krieges, d. h. man sieht in den Ereignissen kein An­zeichen des Endes. Mit einer leisen, wie fernen Stimme- seine Frau tennt sie noch nicht, diese Stimme den Handgranaten und Minen, den Stickgafen und flammenden erzählt der Sergeant von Flüssigkeiten, den Stacheldrähten. Frou Declere hört zu, nur mit Mühe glaubend, daß sie ihren alten Jules vor sich hat, daß er so hat leben und handeln können. Ab und zu nimmt sie thn beim Aermel und sagt: Nein, nein, ich sehe dich nie wieder, du wirst nie wiederkommen, um mich zu sehen." Der Sergeant sagt nichts, er glättet langfam feine frühzeitig weißgewordenen Haare und blickt zur Seite. Die vier Tage vergehen rasch, da fizzen sie beide schon Sie begleitet ihn bis Paris , sie hält seinen Arm und sieht ihm sanft nebeneinander im Waggon, der Sergeant Declerc und seine Frau. in die Augen. Eine heftige Zärtlichkeit bewegt ihren Blick und ihre Finger. Er ist verschlossen, wie zerstreut. Er antwortet ihr kurz, mit fast gleichzültigem Ton und sieht hauptsächlich zum Fenster hinaus. Nur manchmal, wenn ihre Blicke sich kreuzen, gleitet ein dankerfüll. tes Lächeln über sein Gesicht. Er will nicht der Rührung nachgeben, mit seinen Gedanken ist er schon weit in der Ferne

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dort!

In Paris muß man zum Nordbahnhof. Dort stempelt man den Urlaubsschein ab, und nun ist Declerc wieder in die Brigade ein­gereiht, ein fleiner Teil der großen Kriegsmaschinerie. Sèvres, seine Frau und Marcel sind wieder von ihm durch einen Rauchvor­hang getrennt.

Mit zerstreuter Miene verabschiedet er sich von seiner Frau unter den Augen der anderen Urlauber und, unter ihnen in seinem Abteil fizzend, ist er wieder gänzlich mit Leib und Geele in der Atmosphäre der Kriegszone untergetaucht

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Frau Declerc hat ihr Sonntagskleid, ihren Ring und ihre Kette in den Schrank gelegt, die sie für ihren Mann an­gelegt hatte. Sie beginnt die 140 Stufen des Hügels anzusteigen, um an ihre Arbeit zu gehen. Und einige Tage später suchen ihre Augen in Furcht und Hoffnung den Briefträger. Die traurigen Nachrichten folgen rasch. Der Kolonialmarenhändler des reichen Eckgeschäftes ist gefallen, sein Kommis ist verwundet, der Besizer des Spielzeugladens hat ein Bein verloren. Immer häufiger treffen sich des Nachts die Frauen in Trauer, und man zählt schon siebzig Männer, die nicht nach Sèvres zurückkehren.

Marcel trägt behutsam die reue Mütze, die man ihm aus dem alten Käppi des Sergeanten gemacht hat. Noch lange nach der Ab­fahrt seines Vaters blieben seine Augenlider rot, und die dunklen Ränder, die er unter den Augen hat, fir.d tiefer denn je.