Nummer Z2 24. fiaguft 1«22 N-,--- u Anterhaltungsbeilage öes Vorwärts Wir erwarten öas vMnger Soot . Erzählung von Alfons Paquet . „Ich weiß nicht mehr, wie eigentlich jenes kleine Dorf an der englischen Küst« heißt, in dem ich damals übernachtete. Ich weiß nicht einmal mehr den Namen des kleinen sauberen Matrosenwirts- Hauses, in das mich mein Führer brachte, wofür ich ihm aus Donk- barkeil einen Schilling gab, denn es war mir ein finsterer, unHeim- lichcr Weg gewesen, auf dem er mir, ohne ein Wort zu sagen, vor- gegangen war. Ich war damals fünfzehn Jahre alt. Ich war um halb zehn Uhr abends vom jzolbornviadukt mit dem kiontinentalzuge bis Oueenboro gefahren, um am nächsten Morgen meine Mutter zu erwarten, die um halb sechs mit dem Vlissinger Boot ankommen wollt«. Wir hielten kurz nach elf an der Strundstation. Die Reifenden alle, die der Zug beförderte, wollten mit dem Schiffe fort, das gegen Mitternacht nach cholland abging. Ich mar der einzig« Passagier des menschengefüllten Zuges, der nicht an Bord trat: ich stand seitwärts, das Schiff brüllte aus seinen beiden Sirenen, ich sah mit einer gewissen Un- ruhe zu, wie die Leute samt ihrem Gepäck in das schwimmende Hotel befördert wurden und wie es endlich abdampfte und fein Licht in die dunkle See hinaustrug. Es war auf der Brücke dunkel geworden. Ich dachte, ich sei s allein geblieben, zog meinen Mantel aus, rollte ihn zusammen und 1 legte mich den langen Weg unter einen Schuppen neben den Kranen, um den Margen zu erwarten. Ich hätte es sicher durch- geführt, denn es mar Sommer. Aber da'kamen noch vier Arbeiter aus dem Zollhans«, und ehe sie die Laternen auslöschten, bemerkten sie- mich. Ich fragte, ob ich hier schlafen dürfe. Der Aufseher konnte es nicht erlauben. Er empfahl mir, nach Oueenboro zu gehen oder in das kleine Dorf, dessen Namen ich vergessen habe. Keiner seiner Leute aber wohnte in dem drei Viertelstunden ent- fernten Städtchen Oueenboro. alle hatten ihre 5)ütte in der Nähe der Etation: nur einer wohnte in dem Dorf, und der nahm mich mit. Wir kletterten über das Bahngleis, überstiegen zwei Zäune, kamen auf ein« weitgeschwungene, schmale Landzuge, an deren beiden Seiten das Wasser war, und hier ging er etwa zehn Mi- nuten, ohne sich nach-mir umzusehen, in der Finsternis vor mir her und lieferte mich am End« in dem kleinen, noch hell erleuchte-> ten Gasthause ab, dessen Besitzer er empfahl, mich beizeiten zu wecken, da ich zum Frühboot wolle. Dann setzte"« sich zu ein) paar Männern an den Tisch und fing an, seinen Schilling zu ver-> trinken.� Mich brachte der i)ausknecht sofort in ein Zimmer im ersten Stock. Als wir vor der Türe standen, klopfte er erst an, und jemand rief:„Herein". In der Mitte des Zimmers standen zwei hohe weiße Betten ausgedeckt: auf dem einen saß ein älterer, bärtiger Mann, der sich beim Kerzenlicht die Beinkl-ider auszog. Ich sagte schüchtern: „Guten Abend." Er sah mich etwas verwundert an und erwiderte meinen Gruß. Der Hausknecht tagte:„Hier ist noch ein.Herr, der auch zum j Boot will. Gute Nacht!" und machte die Tür hinter sich zu. Der. Fremde ließ sich im Ausziehen durch mich nicht stören, j Ich legte möglichst geräuschlos Hut und Mantel ab, fetzte meine Stiefel vor die Tür und kleidet« mich in dem großen Sessel, der\ neben meinem Bette stand, aus. Als ich damit fertig war, holte � ich das Neue Testament aus der Tasche und begann ein paar Verse f daraus zu lesen, wie es damals vor dem Schlafengehen meine Ge- i wohnheit war. Der fremde Mann hatte sich unierdesien ins Bett gelegt. Er � wartete, bis ich das Buch beiseite gesteckt hatte und in mein Bett schlüpfte, dann blies er die Kerz.e aus. Es war stockfinster. Ich � konnte zuerst nicht einmal das Fenster entdecken, es war dicht ver- hangen. Mein Lager war weich und behaglich. Ich war müde, konnte aber nicht Einschlafen. Vielleicht eine halbe Stunde lag ich still mit offenen Augen, dann fing ich an, mich herumzuwerfen. Von meinem Nachbar hörte ich nur die schweren, unregelmäßigen Atem- züg«, die mich vermuten ließen, daß er auch nicht schlief. Aus einmal fragte er gedämpft und langsam:„Sie können wohl auch nicht schlafen, Herr, nicht wahr?" Ich erschrak doch und hörte mein Herz laut klopfen. Ich ant- wartete ebenfo gedämpft:„Nein, ich bin wach." „Sie wollen jemand mit dem Frühboot erwarten?" „Meine Mutter." Er gab keine Antwort. Nach einer Weile sagte ich:„Sie sommt aus Deutschland : sie weiß hier nicht Bescheid, versteht die Sprache nicht, könnte in das falsch« Ende des Zuges einsteigen." „Das ist's", erwiderte er. „Sie weiß nichts davon, daß ich dort warte", fuhr Ich fort. Ich war froh, ein paar Worte sprechen zu können, und sein Ant- warten machte mich zutraulich.„Ich will sie überraschen." „Es wird sie freuen." Dann schwiegen wir beide eine Zeitlang. Endlich wälzte er sich im Bett herum und seufzte,„ach ja", richtete sich halb auf und ließ sich wieder zurückfallen. „Icj� wart« auf meinen Bruder", sagte er langsam.„Ich brauchte ja nicht hierherzufahren, um ihn abzuholen, aber es ist mal so. Ich habe keine Ruhe. Ich war schon heute abend auf der Landungsbrücke, aber mit dem vorigen Boote kam er nicht. Ob er überhaupt mit dem nächsten kommt. Ich sage mir, er muß doch kommen." Pause. Wir lagen völlig ruhig. Nun fuhr er fort:„Er hat mir einen Brief geschrieben, näm. lich, er ist sehr krank. Gott , er ist der einzige Mensch, den ich habe. Er wohnt in Rotterdam , ist Kaufmann. Vor vier Wochen, so schreibt er, ist er krank geworden, und seine Frau, eine Französin, hat ihn verlassen. Ich versteh' das nicht, ich versteh' das nicht, er ist so ein einzig guter Mensch.„Ich muß dich noch einmal sprechen, ehe ich sterbe, aber du sollst nicht zu mir herüberkommen, ich komme zu dir. Es wird mir schon besser werden, wenn ich erst unsere Küste wiedersehe", schreibt er.— Ich bin ein Junggeselle, bin nur einmal zu meinem Vergnügen nach Boulagne gefahren, ich verstehe nichts vom Ausland. Sie sind ja vom Festland: sagen Sie, ist es da wirklich so schlimm?" „Schlimm? Ich wüßte nicht." „Diese verschiedenen Völker und Religionen. Nun denken Sie. Er, ein richtiger Cockney, geht nach Holland und heiratet eine Französin. Solch ein Unsinn! Nein, es ist unbegreiflich von'hm ge- mesen, ich sagte es immer. Ich habe mir schon den Kopf zer- brachen." Ich fand es auch unbegreiflich, und schwieg. Er kramte unter feinem Kopskissen. In seiner 5)and knisterte ein Papier. „Entschuldigen Sie, ich muß den Brief noch einmal lesen. Oder wollen Sie schlafen?" „O nein, ich könnte kein Auge zutun." „So mache ich Licht." Er schlug Licht, richtete sich auf. breitete den Brief vor sich aus und stellt« die Kerze auf seine Bettdecke. „Ich lese es vor: ich kann mir manches absolut nicht erklären." Ich nickte: ich war neugierig und hatte nur die Befürchtung, daß ich's wohl auch nicht erklären könne. Er las mit halber Stimme vor, indem er das Schreiben an die Kerze hielt und sich oft verbesserte: „Mein lieber Martin.(Das ist nämlich m«in Rufname.) Martin, ich muß Dir«inen recht traurigen Brief schreiben, nachdem Du nun so lang« Zeit keinen von mir bekommen hast.(Nämlich, ich habe ihm letztes Jahr zwei oder drei Briefe geschrieben, die er alle nicht beantwortet hat. 2llso:) Denn ich hatte keine Sekunde Ruhe dazu, und an alldem trägt Eylvaine die Schuld(das ist diese Französin), di«s bodenlos erlogene, heuchlerische und niederträch- tiae Weib, ich kann keine andere Bezeichnung gebrauchen(es muß eine wahre Teufelin fein), die mich bis zu dieser Stunde ewig hinter» gangen hat und mich nun, da ihr meine Krankheit lästig zu werden droht, mir nichts dir nichts verlassen hat. Jetzt kann ich Dir erst schreiben, mein treuer Martin. Und wenn ich unterwegs sterben sollte, ich bleib« keine halbe Stunde mehr in dieser Wohnung. Ich gehe nachher ins Hotel und übermorgci für immer von hier fort. Mein alte, Leiden hat sich feit einem Monat sehr verschlimmert, ich kühle mich gealtert und niedergeschlagen. Ich muß Dich noch einmal sprechen, ehe ich sterbe, aber ich will nicht, daß Du hierher kommst, ich komme zu Dir. Vielleicht wird mir schon besser, wenn ich erst unsere rveiße Küste wiedersehe. Ich fahre über Llissingcn, am Mittwoch. Erwarte Demcn Bruder Philipp."
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