Nummer 38
5. Oftober 1922
Heimwelt
Unterhaltungsbeilage des Vorwärts
Grau ist der Abend in der Eisenbahn.
Der Fernzug war überfüllt. Alle Abteile von Klasse zwei bis brei preßten den Raum vierfach belegt. Die Arbeiterwagen, achtmal überfrachtet, walzten die Achsen platt. Ich sah aus der Zeitung: daß heute Sonnabend war. Und entfchloß mich für die Vorortbahn. Sie stand auf dem anderen Bahnsteig bereit.
Ein Fensterplay war noch frei.
Mir gegenüber faß eine ältere Dame und interessierte sich leb. haft für ihre Schinkenbrötchen. Zwischendurch las sie in einem Buch. Daß des Berfassers Name nicht der meine war, freute mich. Aeltere Damen, die meine Bücher nicht lesen, sind mir immer fympathisch. Wünschte ich, daß sie nach dem Schinfenbrötchen eine Bigarette rauchen würde, böte ich ihr eine an. Aber aus der fabel. haft blanken Lacktasche holte sie ein neues Paket Brötchen. Diese fnusprig weißen Backwerke dufteten zur Abwechslung nach Käfe.
In den Kaupausen erledigten die runden blauen Augen abermals zwei Kapitel Roman . Die Geschichte schien fich jener Gefühls höhe zu nähern, wo zwei Figuren sich entweder füssen oder ein tiefes Wasser, bewacht von einer bösen Nonne, zwischen sich legen.
In diesem Roman, der, dem Titel nach, von der göttlichen Courths Mahler hätte sein können, schien der endliche Kuß den Ausgang zu beschließen. Die Dame vergaß nämlich fünf Minuten lang das Weiterfauen. Dann sah sie mich eine Weile an, auf meine Finger mit schwarzen Nägelrändern hinab und aß entrüstet das Brötchen auf.
Den Bergleich mit dem Helden des Romans, fühlte ich, habe ich nicht ausgehalten.
Helden der Courths Mahler waren in meinem Spiegel allerdings nie real. Daß ich damit aber älteren Damen irgendein Mergernis sein könnte, erfuhr ich erst in dieser Gefunde. Denn mit lang gespitztem 3eigefinger mies mein Gegenüber auf das Schild: Rauchen verboten!"
( Ich habe vergessen zu bemerken: daß ich mit einer dreiviertel noch brennenden Zigarre das Abteil betrat, fie, bis ich meinen Handtoffer verstaut hatte, auf den schmalen Fensterbord legte und nicht hindern konnte, daß die dünne Blaulinie des Rauches in gottwohl gefälliger Kurve der älteren Dame Geficht traf. Dieses nahm mit entsprechenden Organen das Brandopfer nicht ungnädig auf. Leises Bibrieren der Nasenflügel verriet nämlich: Ah. ganz wie bei meinem seligen Mann.)
Und auf einmal diese Gendarmenstrenge?! Ich wollte mich gerade mit einer sauber gewählten Entschuldigungsformel rehabilitieren: da erschien der Herr Revisor.
Mit einem individuell gezogenen Strich bestätigte er Karte um Karte.
Die ältere Dame mir gegenüber aber meinte:„ Ich bin doch hier in einem Nichtraucher- Abteil, Herr...?"
Sehr wohl, meine Dame. Aber darf ich um die Fahrkarte bitten?"
„ Dann schüßen Sie mich vor den Belästigungen dieses Herrnt" Der Herr Revisor prüfte mich durch und durch... wir fahen uns an und fahen die Dame an.
Die war gerade dabei, den Roman noch einmal von vorn an zu lesen. Was mich veranlaßte, zu glauben, daß er wohl doch nicht von der Courths Mahler oder so sein fonnte.
Der Herr Revisor bestand auf der Fahrkarte.
Die ältere Dame, ganz entrüftet, erhob sich, schlug das Buch zu, verstaute es in der Manteltasche, rückte den Reiherhut zurecht, zog die Wildledernen über Diamant und Platin, setzte sich wieder und Lonzentrierte ihr Gehirn auf meinen Handtoffer.
Der Herr Revisor zum dritten Male: Bitte, die Fahrkarte!" Die ältere Dame mir gegenüber so herzhaft erstaunt: Aber ich habe sie Ihnen doch eben gereicht... noch vor diesem Herrn da, dem Sie noch immer nicht verboten haben zu rauchen!"
Nun war die dreiviertel Zigarre von meinen Stiefeln schon längst zu Staub zermahlen, und meine Monatstarte hatte der Revifor gar nicht beachtet: Bas wohl verständlich sein dürfte, wenn man jeden Tag zweimal auf dieser Strede fährt und mindestens breimal denselben Revisor trifft. Gegen solcherlet stummes Ueber einkommen dürfte noch der Verein gegen das Bestechungswesen nicht fechten fönnen
Der Herr Revisor ist wirklich ein redlicher Kerl und mit bes
netbenswerten Nerven ausgestattet.
Daß er sich der älteren Dame mir gegenüber nun um einen
Schritt näherte und die Hand energischer reckte, war gewiß fein
Grund, die Notbremse zu ziehen.
-
aber
Das tat zwar die ältere Dame mir gegenüber auch nicht das Abteil geriet doch in eine gewisse Aufregung, als sie mit aftmathisch pustendem Lärm nacheinander alle Taschen umkehrte, die Wildledernen auszog und wieder überstreifte, den Reiherhut gerade rückte und den Roman zum dritten Male aufschlug.
Zum Glüd bremste der Zug, mit schwarzer Schrift auf weißen Tafeln fagte sich die Station an und parierte den Stoß der Bremsen. Das Abteil regte sich auf, vier Personen stiegen aus, niemand ein. Mir gegenüber, wo die ältere Dame gefeffen hatte, lag neben Haufen Stullenpapier eine Karte dritter Klasse.
Der Herr Revisor, der aus dem letzten Abteil zurückam und die Dame suchte, hob die hier unstatthafte Karte auf und lächelte. Der Mann an der Sperre, das wußte er, vollzog das Urteil, das zu sprechen ihm leider genommen war.
Das wenigstens lag in seinem Blid, der grüßend mich traf, da die Bremsen sich wieder lockerten und die Station nach rückwärts Nun war ich ganz allein in dem Abteil.
rollte.
Neben mir lagen ein paar Zeitungen und ein illustriertes Blatt. Ich hätte das lesen können, vielleicht auch eine Zigarette dabel rauchen dürfen...( denn wer hätte das wohl jetzt verbieten wollen?)... und die Beine auf das Poffter gegenüber werfen mögen.
Da ich aber doch den Fensterplatz hatte und die Sonne sich rebliche Mühe gab, die Landschaft hell und weit zu machen, war das Näherliegende: daß ich hinaussah.
Die Häuferreihen wurden immer dünner, Wald legte sich dazwischen, eine Brüde zeigte Wasser, aus Fabriken stöhnte Rauch und wies auf ein paar frech aufgemachte Landhäuser. Dann kam wieder etwas Wald. Und schließlich ein Feld.
Da die Felder der Mark hauptsächlich Kartoffeln die Nahrung geben, zartes, weißes Mehl anzusehen, mußte auf diesem vorbei. gedrehten Ackerstück wohl auch die Kartoffel die Frucht sein, die man erntete.
Auf diesem Feld aber bräunte nicht nur Kartoffelfraut; zwischen den umgelegten Strünken nieten abwechselnd Frauen und Kinder. Wie von dem Sand aufgeworfen statt Stein und Schlehen.
Die Frauengesichter hatten zweifellos etwas Sandiges, will fagen: eine aus Grau in Grau rinnende Haut. Nur die Tücher über den Haaren hatten etwas wild Schweifendes mit blauen oder roten Flecken. Und die Kinder lachten nach jedem Hieb der Hacke das Blaue vom Himmel. Weil wie Sterntaler die Kartoffeln fielen und sich gern sammeln ließen.
Etwas weiter auf dem Feld standen Säcke schön in Reih und Glied, und die Männer, die immer neue auffüllten, zergliederten gerade den Lieferungsvertrag, ob er nicht eine Lücke hatte, einen Leuerungszuschlag durchschlüpfen zu laffen.
Höhere Löhne in den Fabriken, höhere Bewertung der Felda
frucht.
Ein ganz einfaches Rechenerempel.
Man sage nur nicht, daß in den Dorfschulen
Na, und so weiter.
Eins ergibt eben immer das andere.
Und was auch erklären dürfte, daß nach dem Kartoffelfeld zur Abwechslung ein Obstgarten fam.
Es waren aber weder Birnen, noch Aepfel, noch Pflaumen mehr auf den Bäumen. Dafür jedoch fuhr ein Mann mit einem breiten weißen Pinsel die Stämme hinauf und die Stämme hinunter und gab ihnen so einen Begriff von fünftigen Schneewehen. Dazu jagten fich zwei Hunde und hoben zwischendurch an einem frischen weißen Baum das Bein.
Das mußte den Mann, der die Bäume so sauber anstrich, wohl geärgert haben. Kurz und gut: er hob entschlossen den Eimer Kalk bis zur Brust empor und schüttete ihn in einem prachtvollen Bogen über die Hunde aus.
Da lag es nun wie ein Stück Winter auf der Erde und seitwärts ins Kraut von Brombeeren retteten sich zwei stattliche Weißfüchse.