Nummer 49
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28. Dezember 1922
Heimwelt
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Unterhaltungsbeilage des Vorwärts
Mit Jungen und Mädels aller Klassen und möglichst vieler Nationen hat der Verfasser diesen Sommer einen Monat auf der Insel Sylt eine Lebensgemeinschaft gebildet. Er hat so die Schulgemeinde in der Pragis erprobt und Kinder vieler Böller zuein ander gebracht. Wie's dabei gehalten werde, mag dies Beispiel erweisen, das wir Münchs Bericht: Mit Jungvolt aller Länder auf Sylt "( Dürrsche Buchhandlung, Leipzig ) entnehmen. Die Worte über Duldsamkeit, die ich bei unserer RathenauFeier gesprochen hatte, waren zum guten Teile längst verpufft. Ein Narr aus der Kaiferzeit wäre es, der nicht einfähe: Das ist das wohlverdiente Schicksal aller Festreden!
Etliche meiner Jungen sprachen wieder über unseren Saul in der üblichen schnoddrigen Weise und hängten ihm alberne Namen Eines Tages fand ich ihn niedergeschlagen, weinerlich. Er schüttete mir sein Herz aus: wieder hatte ihm einer mit dumm dreister Rede wehgetan.
an.
Ich sprach mit meinen Hamburgern über Saul. Alfred Jehmlich, dieser bedachtsame Junge von vierzehn Jahren, fagte, ich folle um Saul ohne Sorge sein, er hätte schon selbst mit seinen Hamburger Kameraden darüber nachgedacht, was zu tun sei. Sie wollten nächstens eine feine Feier veranstalten und auf die Gefinnung der Kameraden einzuwirken suchen. Sie hätten nur das Programm noch nicht fertig.
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Ein paar Tage später. Acht Uhr abends. Hamburger Mädels ftehen am Gonghäuschen und alarmieren das Lager. Was gibt's? Einen Sonnenuntergang gibt's zu sehen! Den ersten nach Regen tagen.
Wir stampfen durch den Sand die Düne hinauf, die unser Lager gegen den Weststurm schützt, und schauen: Noch blendet der Sonnen ball das Auge. Langsam gleitet er ins Meer. Das ist, soweit das Auge reicht, von Gold überflutet. Dann verglimmt die grelle Lohe. Burpurne Tinten färben das Meer. Korallenrot wird allgemach zu Bernsteingelb. Jezt liegt das Meer wie ein Aehrenfeld, und der Wind streicht darüber hin. Langfam und feierlich zieht der Licht schweif der Sonne nach. Die letzten Lichtranten verzehren sich traumflüchtig wie Feuerwerk.
Nun glüht am Erdensaum nur noch ein schmaler Streifen. Es fleht aus, als sei ein Bronzereif um das Meer gelegt. Dann verglimmen alle Lichtscheine an der Horizontlinie, der letzte Glanz rieselt der Sonne nach ins Abgründige. Und wie wir uns nach Often umschauen, stehen wir im Banne eines neuen Farbenwunders. Ueber dem Wattenmeer ziehen dicke Bäusche von Wolken. Die halten noch den Glanz der Sonne fest und geben dem Watt von threm Farbenschat, fie färben es blutrot, derweilen im Westen das Meer stahlgrün wogt. Jede Minute wird man von neuen großen Eindrücken gepackt!
Jetzt hält Alfred Jehmlich die rechte Stunde für gekommen. Er bittet, daß wir uns an den Hängen eines Dünenteffels lagern. Er hat ein Mädel mitgebracht, eine junge Künstlerin von siebzehn Jahren, die soll auf ihrer Geige spielen. Das Mädel ist von ihrer schwäbischen Heimat burch Thüringen umd durch Lönsland gepilgert und als einsam trollender Wandervogel nach Sylt gekommen. Ein un fcheinbares Mädel ist's, tiefgebräunt, von dürftigem, wildgewach Senem Haar. Barfuß, in schlichtestem grauen Wanderkleid steht sie in unserem Kreise und spielt ergreifend eine Sarabande von Händel . Jeder Bogenstrich verrät ein ernftes, tiefbefeeltes Menschenkind.
Das Bild wird uns bleiben: Wie der Sturm an ihrem Kleid riß, ihr Haar zauste, wie der rinnende Sand ihre nackten Füße eingrub. Wir vergaßen Sturm und Kälte, ließen uns von der Geige den Sinn des Daseins deuten und unsere Gedanken auf legte Dinge richten. Die Geige in der Hand einer Künstlerin redete in allen Sprachen, diese Geige redete in allen Sprachen meiner ausländifchen Jungen und Mädchen. Sie redete jedem ins Herz hinein: Set duldsam...
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Als das Mädel ihr Spiel beendet hatte, trat Alfred Jehmlich wieder in den Kreis.
„ Jungens und Deerns! Jetzt hört mal tau! Jezt könnte uns Saul Smolinsky vertelln, wie dat to Hus bi em utsehn deit! Er tönnte uns etwas aus seinem Leben erzählen!"
Alfred tat, als käme ihm dieser Einfall ganz von ungefähr, Sauls Erzählung Aus meinem Leben sollte aber ein flug berech neter Programmpunkt dieser Abendfeier sein.
Saul erzählte in russischer Sprache. und Ewgenij übersetzte: Er hatte bei einem polnischen Volksschullehrer deutscher Nationalität Deutfchunterricht gehabt. Bor zwei Jahren hatte die pol nische Regierung von diesem Lehrer einen neuen Diensteid gefordert. Weil dieser Eid mit der Anerkennung politischer Thesen verquickt war, hatte der Lehrer den Eid verweigert. Er war feines Amtes entsegt worden. Saul war nun auf eine höhere Schule ge fommen, wo bisher Deutschunterricht zu den Pflichtfächern gehörte. Obwohl die Entente der polnischen Regierung aufgegeben hatte, die Kultur der Minderheit zu schützen, wurde dieser Schule piößlich die staatliche Unterstützung entzogen. Saul mußte auf Fortbildung im Deutschen verzichten und sich dem Russischen zuwenden. Er ließ darlegen, wie gern er mit Hilfe der deutschen Sprache sich auch die deutschen Kulturgüter erobert hätte! Wenn er richtig deutsch reden könnte, wäre er heute sicher ein ganz anderer. Die Kameraden tönnten sich kaum eine Vorstellung machen, wie weh es täte, wenn man auf einem geiftigen Gebiete, nach dem einem der Sinn steht, hungern müsse!
Saul war mit einem Male in ein anderes Licht gerückt. In der Stille, die diesen Worten folgte, fiel wohl in manches Herz ein ernstes Samenforn der Duldsamfeit
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Jezt geschah etwas, das Alfred Jehmlich nicht in seinem Programm vorgesehen hatte. Unsere Muriel, die den Sinn der Feier fofort begriffen hatte, trat in den Kreis.
„ Ich uill nur vier Uörter sagen. Meine Mutter lieft gern deutsche Dichter. Die vier Uörter hat sie bei eurem Gerhart Haupt mann gefunden:
Uas trennt, ist Irrtum! All right!"
Das waren vier Pfeile mit Widerhaken. Die faßen in den Herzen fest.
Dem nächsten Programmpunkt ging ein Scharmühel zwischen Saul und seinem Dolmetscher veraus. Alfred Jehmlich hatte Ewgenif dazu bewogen, Sauls Tagebuch an sich zu nehmen und uns daraus vorzulesen der Zweck sollte hier einmal das Mittel heiligen. Saul wollte das nicht dulden, es gab ein russisches Wortgepläntel. Emgenij schien aber Saul überzeugt zu haben, daß es sich nur um sein Bestes handle, und er schwieg.
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Ewgenij übersetzte:
,, Kann ich denn etwas dafür, daß ich bin Jude...?„ Beim Gott meiner Bäter: werde ich sein ein minderwertiger Mensch...?" Er las eine Reihe solcher Randbemerkungen vor, und sie verfehlten wohl nicht ihre Wirkung.
Aus Alfred Jehmlichs feierlicher Art war zu schließen, daß jetzt die wichtigste Nummer des Programms folgen follte. Jungens und Deerns! Nu möllt mi uns noch vertelln laten, wohin der Haß de Minschen bring'n deit!"
Und jetzt schilderte Nikohos Judenpogrome und die Greuel der armenischen Massenmorde! Wenn irgend etwas über Haß und Duldsamkeit fann nachdenken lehren, dann waren es die Bilder unferes Armeniers von den Massenabschlachtungen unter Abdul Ha mid, der aus Armeniens Erbfeinden, den Kurden, Hamidjehregtmenter bildete und sie wie Hyänenrudel auf die Armenier losließ! Das war ja auch der Grund, weshalb ich mich gerade um einen jungen Armenier bemüht hatte: er sollte uns bei Gelegenheit zeigen, daß blinder Haß in seiner letzten Auswirkung zu grauenhafter Mezelei führen muß.
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