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Nummer 1

Heimwelt

4. Januar 1924

Unterhaltungsbeilage des Vorwärts

Ohne Bleibe.

Bon Ostar Maria Graf

Es war schneidend falt.

Der Schuhmann an der Ede fah einem angeheiterten Doppel­paar grießgrämig nach und fnurrte mürrisch.

Die Stimmen der Spätlinge verschwammen mehr und mehr. Es wurde wieder still. Wie ausgestorben dehnte sich das ver laffene Geviert aus. Düster und drückend ragten die Hauswände empor. Der Schnee fiel dicht und sehr ruhig.

Mißmutig schwenkte der Schuhmann in eine breitere Straße ein. Durch die gleichmäßiger verteilte Schneefläche schien es hier heller und weiter zu sein. Er blickte erleichtert in die weiße Ein­tönigteit. Eine strichhaft hagere Gestalt fam auf ihn zu. Der Mann schien weder Kopf noch Arme zu haben. Nur die Beine warf er mechanisch nach vorn wie ein aufgezogenes Gespenst. Als er faum noch fünf Schritte von ihm entfernt war, hustete der Schuhmann sehr vernehmlich und hob sein verärgertes Gesicht. " Sie!" rief er dem Herankommenden gehässig laut entgegen und warf sich in straffere Haltung.

Die Gestalt blieb stocksteif stehen. Nur der Frost schüttelte sle. Haben Sie Papiere?" fragte der Schuhmann, noch einen Schritt machend, und musterte den Mann.

Der rührte sich nicht.

ander, Seidenrauschen, Lächeln, Autohupen und das fadendünne Birpen füßlicher Tonfälle vermischten sich zu einem betäubenden Geräusch. Einfach glänzend!" rief mer. Rührend, wie die Hohl­mann fpiel!"" Rein, einfach entzückend!" zwitscherte eine über helle Stimme. Huw, dieses Schweinewetter! Kommt schnell ins Auto!" ließ sich zwischendurch vernehmen. Und wieder: Kri­tisch gewertet: Eine Glanzleiffung in Regie und Spiel!" Es plätscherte fort und fort, oben, unten, überall. Abschied nehmen, Handtüsse, Einladungen für das morgige Festeffen, Lachen, Autovor und abfahren alles wie ein flimmernber Hexentanz! Karl Pruvit war mittlerweile unbemerkt bis an das Eingangs tor gelangt. Noch eine geschickte Finte und er hatte für heute nacht ein Dach über dem Kopf. Sein Herz schlug heftig. Es war wieder Leben in seine froststarren Glieder gekommen. Behende glitt er an den aufeinandergedrängten Gestalten vorbei und fühlte auf einmal Raum und Wärme. Er lugte spähend nach dem betreßten Portier, duckte sich mehr noch zusammen, hielt den Atem an, arbeitete sich an der Wand entang

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Im selben Augenblick aber stockte die Bewegung des Menschens trupps. Er zerteilte fich und fäh brachen die Reden ab. Durch eine gloßzende Gaffergasse hastete der Portier mit steinernem, finster drohenden Gesicht auf ihn zu.

,, Was suchen Sie denn da? He! Sie! Siel" schrie der Tür hüter. Karl Pruvit zog wie ein gezüchtigter Hund die Schultern Sie!!" brüllte der Schuhmann wie fluchend und leuchtete dem hoch und verbarg den Kopf völlig in seiner schlotternden Brust. Fremden mit der Taschenlaterne entgegen. Alles an ihm war wieder in bester dienstlicher Ordnung. Ein harfiger, abgerissener, verdorrter Baumstamm oder eine arg ramponierte Säule fonnte es sein, was da im Lichtkreis stand. Raschen Blicks überflog fie der Polizist.

Ihre Papiere! Sind Sie denn taub?" schrie er abermals, wütend über das Aufgehalten werden bei solcher Kälte, und setzte Schnell, wie witternd hinzu: Oder haben Sie feine?"

Der Frembe zog endlich seine erstarrie Hand aus der tiefen Hosentasche und reichte ihm die schmußigen, durchnäßten Ausweise. Start Pruvit, Klempnergehilfe" stand auf der überleuchteten Invalidenfarte. Herkunft, Geburts- und letzter Dienstort und Datum waren verzeichnet. Abgestempelte Marken flebten auf der ersten Hälfte.

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Der Schußmann steckte das Papier unter den blauen Militär­paß und schlug diesen auf. Infanterist Pruvit, Kart 14. Regiment" orientierte bie erste Seite. Verwundet bel Luneville ( Armschuß rechts), desgleichen bel Tarnopol ( Knieschuß links), verwundet bei Berdun( Schuterschuß lints)" war im Anhang eingetragen, und soundso viele Gefechte und Schlachten erwähnte das nächste Blatt.

Das Gesicht des Schußmanns verlor mehr und mehr die stiere Härte, hob sich etwas höher aus dem Mantelfragen. Hm! Auch Krlegsteilnehmer? Ohne Bleibe, was?" fagte er mit zufriedener Ruhe und streckte dem regungslos Da ftehenden tie Baplere hin. Dessen Gestalt schwankte ein lein wenig nach vorn.

" Hundekälte das! Warten Sie, es geht schon!" rief da der Schuhmann noch fonaler und steckte bem Mann die Papiere hilfs bereit in die Rocktasche: st ja noch nicht so spät. Noch alles offen in der Stadt. Sie tommen sicher unter!"

So," faqte er eben, als in nächster Nähe die Uhr zehn schlug. Einen Augenblick horchte er auf, nichte und entfernte sich eilfamen Schritts. Schon von weitem erspähte er die Ablösung.

Karl Bruvit riß sich fest zusammen und schritt wieder weiter. Der Schnee fiel und fiel.

Nach einer Langen Welle wurde es endlich etwas lichter. Men­fchen stapften vorüber. Grelle Autolaternen glogten über einen freien Play. Ueber einem mächtigen Säulenportal leuchteten groß bie Buchstaben Schauspielhaus".

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,, Was Sie wollen, frag' ich!?" bellte der Portier hinter ihm und packte ihn heftig am Arm, riß ihn zurück. Ohne Wort und ohne Abwehr ließ sich der Eingedrungene von dem belfernden Tür hüter und zwei inzwischen herbeigeeilten Logendienern ins Freie schieben. Hym, sowas? Sich ins Theater einzuschleichen!" jagte jemand von den Stehengebliebenen und schüttelte den Kopf. Der Ins Stoden geratene Menschenhaufe betam wieder Bewegung und brängte sich durch den Ausgang. Die Tore schlossen sich finster. Schwäßend trabten bie letzten Paare vorüber.

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Karl Bruvit stand zögernd und benommen im glitzernden Schneegeflod. Einen Augenblick hatte es den Anschein, als straffe sich sein Körper, als hole er zu einem Satz aus und wolle in die vorbelgleitenden, duftenden, rauschenden, geschwäßigen Menschen springen; aber schließlich torfelte er doch über die verschneite Frei­treppe hinunter und bog in die Geitengasse ein, ble vom Theater­plah abzweigte.

Karl Pruvit hob den Kopf hilflos. Eine frappe Wurfweite von ihm ragte etwas Schwarzes aus dem Schnee und bewegte sich wie schwebend von der Stelle. Willenlos und ohne Grund folgte er der Erscheinung.

Lange ging er so.

Es mußte schon tief, nach Mitternacht sein. Trist gähnten die menschenleeren Straßen und Plätze.

Man stand am Rande des Stadtparts. Die ferzengerade Gestalt verschwand zwischen den Bäumen. In der aufgeworfenen Bahn der Spur schritt Karl Pruvit weiter. Es war viel dunkler hier. Die schneebeladenen Baumäste lasteten schwer herab. Nur zeitweilig gab sich eine hellere, freiere Stelle und undeutlich ließen sich ein. gemummte Bänke erkennen. Auf einer solchen heckte die zusammen­gekauerte Gestalt nun, der er die ganze Zeit gefolgt war. Stoisch ließ sich Karl Bruvit neben ihr nieder und legte, wie aus einer plötzlichen Eingebung heraus, feinen steifen Arm um nasse, scharfe Schultern. Lahm schmiegten sich die beiden Körper aneinander. Raft!" murmelte es taum hörbar aus dem Kopf, der haltlos auf feine Brust herabglitt.

Ralt!" brummte Pruvit ebenso Ceise und schloß seine Augen. Auch sein Kopf sant herüber auf das Genic des anderen.

Stein Schnee fiel mehr. Es war seltsam: Jetzt, da man schonungslos der Kälte ausgeliefert war, wußte man nicht mehr, war's eine rasende Hiße oder eine gänzliche Eifiafeit, was in den Gliedern brütete. Der ganze Körper hatte das Gewicht verloren. Es schien, als schwebte er durch eine unfäglich friedliche Stille. Auf einmal drückte etwas Hartes an den Arm, umflammerte, zerrte. Es schrie wie durch Nebelschwaden, dann näher. Es rüttelte stärker. Das Geschrel schwoll. Der Kopf an der Brust bewegte sich stumin.. Kan Pruvit öffnete die Augen. Das grelle Licht einer Taschen­laterne stach ihm ins Gesicht, blendete schmerzte. ... Spe

Bielleicht vom Licht angezogen, beschleunigte Kart Pruvit un­willkürlich seine Schritte, eilte geraden Wegs auf den Theater. ausgang zu. Eben strömte die Besucherschar aus den großen glitzernden Loren. Er befand sich im Nu mitten im bichtesten Gemeng und drängte sich vorwärts. Eine warme Duftwelle schlug ihm entgegen, starfgeschminkte Gefichter tauchten auf und feltfam Pühne Reflere marf das grelle Licht auf alänzende, rauschende Damentoletten. Ueberschnell schwirrten geschäftige Stimmen ime- am rm.

Hel Was ist dat" schrie ein Schuhmann, riß erregt