Nummer 24
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19. November 1924
Heimwelt
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Unterhaltungsbeilage des Vorwärts
Leonie.
Als Leonie aus Paris in das Dorf zurückkehrte, regnete es an biefem Abend. Auf dem Dorfplate hatten sich die Kinder ver. fammelt und erwarteten das Mädchen, um es auszulachen.
Leonie hatte, als sie nach Paris gezogen war, versprochen, dort -reich zu werden, und siehe da: fie fehrte ärmer, als sie je gewesen war. zurüd.
Der Tag ging gerade zur Neige, als das große Mädchen aus dem Bahnhofsgebäude in einer Haltung heraustam, wie man sie hat, wenn man ein Gefängnis verläßt. Im gelblichen Nebel der Coeleftinengasse fah man die gutmütige Silhouette des Mädchens auftauchen, in dieser Gasse, die, von Wagenspuren zerfurcht und schlecht gepflastert, wie das schartige Rüdgrat eines alten Droschken gauls aussah. Als Leonie die Gasse hinabstieg, schwellte und rollte der Wind ihren grauen Rock und den farblosen Schal dem Abend entgegen.
Das Heimatdorf bereitete ihr einen schlechten Empfang. Wo fie vorüberging, schloffen sich die Fenster, wurden die Nasen gerümpft, Die alten Leute, die ihr guten Tag boten, taten es sehr zerstreut. Gefährten und Gefährtinnen vom Vorjahre betrachteten sie mit leeren Augen, die nicht zu erkennen schienen wo man sich doch bei einigem guten Willen erkannt hätte Nach ihrer Abreise flügge gewordene Jugend wandte sich ab, als hätte man sie unterrichtet.
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Man fonnte ihr nicht verzeihen, daß sie keinen Erfolg gehabt hatte. Sie war schlimmer als fremd geworden.
Verstohlen blickte sie nach rechts und lints. Sie beschleunigte ihren Schritt, sie leuchte, fie weinte Schweiß, fie flüsterte verlegen ihr Tutu", das sie seit ihrer Kindheit gewohnt war. Ihr schwarzer Hut sah wie verwitwet, wie degradiert aus.
Sie wandie fich zum Haufe ihrer Schwester, zum einzigen Asyl, zur einzigen Verwandten.
Vor der Tür blieb sie stehen und flötete ein ersticktes ,, Tutu". Wie eine Bettlerin streckte sie die Hand aus und ergriff schwerfällig den Glockenzug, der sich in seinem Winkel zu versteden schien.
Die Tür ging auf: die magere Frau Dieze erschien und betrachtete ihre Schwester.
Ach! Sie war weniger lebhaft und heiter, als wie sie in die Hauptstadt gezogen war, um sich auszubilden und viel Geld zu ver. dienen. Damals hatte sie ein so unschuldvolles und fröhliches Gesicht, daß man sie fast darum beneidete.
Als Frau Dieze die große Leonie so beliegt und zermülrbt vor ihrer Tür stehen fah, beschlich sie ein Gefühl der Scham( was würden die Leute sagen?); Innerlich aber frohlockte sie, und dieses Gefühl tam aus ihr selbst. Die Augen zum Himmet aufschlagend, rief fie den Schatten des Herrn Dieze an; heuchlerisch bedauerie fie, daß er diese erbärmliche Rückkehr, die mit Frau Diezes geheimsten Hoffnungen fo sehr übereinstimmte, nicht mehr sehen konnte, da er im Vorjahre ahnungslos verschieden war.
Und nach einer Baufe jagte sie zu ihrer Schwester: ,, Du bist es?"
Leonie wollte fast ein Lächeln versuchen, aber sie rieb nur ver. legen die Hände und verzog mit einem Achselzucken den Mund. Ihr Sklavenrücken beugte sich und zog durch das schwarze Lürloch ins Haus ein
An den folgenden Tagen streifte Leonle durch die Gaffen. Der Empfang, den man ihr am ersten Abend bereitet hatte, änderte sich nicht. Ueberall stieß fie auf die gleichen, gelegentlich mißtrauischen und boshaften Gefiaster. Nein, sie würde sich nie mehr an diese Leute gewöhnen, non denen fic. fortgezogen. war.
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Die Leute genierten sich gar nicht vor Leonie, die Leute zeigten ihre Seele ganz nadt. Wild, felbftsüchtig und habg'erig, das waren fie alle. Und mehr noch: fnechtisch im Angesicht der Macht, hatten sie nur vor den Bedienten des dörflichen Schlosses Respekt. Das Schloß in seiner phantastischen Gestalt herrschte über das Dorf schlim mer noch als die Kirche.
Die Heimgekehrte fand sich so von allen Seelen verlassen, sah bei jeder Begegnung überall so verschlossene Gesichter, daß ihr eines Abends sogar eine Ruh auffiel, die sie ohne Bosheit betrachtete. Ein andermal rührten sie die Zeichen, welche ihr die vor der Pfarre stehenden Pappeln gaben, alle gleichförmig zu beiden Seiten der Steinbant, die immer am gleichen Platz sie wie ein Mensch im Schatten erwartete.
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Man wollte sie nicht mehr. Sie fühlte es. So konnte es nicht mehr lange bleiben.
Eines Morgens eine halbe Stunde, nachdem Leonte aus ihrer Wohnung geflüchtet war begegnete fie einem Menschen mit einem seltsamen Kopf. Das ganze Haupt war schwarz um. widelt; die Haare mischten sich mit dem Barte und untereinander, fiebrige Augen trugen den Schein einer Lampe in den Tag. Sie erinnerte fich: der Narr. Von der Seite her sah sie ihn an und erstaunte: immer noch war er wahnsinnig?
Aber dieses Geschöpf lachte sie an und rief sie bei ihrem Namen. Dieser zage Anruf in der Dede ließ sie erbeben. Wider Willen
lächelte fie ihn, so gut fie fonnte, an und machte ihm eine kleine Berbeugung. Ja, fie ging an ihn heran und machte„ Tutu" wie stehen und fragte sich: 3ft er ein Narr? ein kleiner Vogel. Einen Augenblick später blieb sie auf dem Wege stehen und fragte sich: Ift er ein Narr?
Ohne zu wissen wie, fanden sie sich wieder. Als sie ihn zum zweitenmal fah, streichelte er zärtlich einen verkrüppelten Hund, ein Beweis, daß es mit seinem Wahnfimm so arg nicht sein konnte.
Seine Haare waren nicht weiß. Er war eher elend als alt. Er
vegetierte armselig dahin. In einen weiten Malerkittel gehüllt, schien er dasselbe Schickfal mit fich zu schleppen wie Leonie. Er das Leben gleicherweise ummöglich. war verhaßt und verachtet wie fie, und beiden machten die Leute
Am dritten Tage fonnte sich Leonie nicht enthalten, dem Manne ganz leise zu fagen:
Ich habe Ihnen ein Geheimnis anzuvertrauen."
Ich Ihnen auch!" sagte er.
andere hörte sehr lange zu. Nach dieser Unterhaltung schüttelten sie die Köpfe; einen Augenblick herrschte Schweigen, dann murmelte fie:
Sie flüsterten und flüsterten. Jeder sprach sehr lange und der
,, Sie sehen wie ein Künstler aus!"
,, Und Sie wie eine Rose!" sagte der Mann..
Und indes fie errötete und auflächte, sah sie wirklich wie eine pausbäckige Blume aus.
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Blöglich verschwanden Leonie und der Narr.
Welch ein Standal! Nach der Messe bildeten die Damen Grup pen, um darüber zu sprechen. Wohlverstanden: man brachte das Verschwinden, dieses Verschwinden zweier Menschen, in Zufammmenhang, um daraus ein doppeltes Berbrechen zu machen. Es gab Geflüster, halberstickte Flüche und das gewiffe verständnisinnige Lächeln.
,, Bch werse sie hinaus, wenn sie zurückkommt!" fagte Frau Dieze. Und fügte hinzu: llebrigens hätte ich sie auch so hinaus geworfen."
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Plötzlich trat ein Herr zur Gruppe der Damen.
Pardon," sagte er und lüftete den Hut. Er trug eine Brille und hatte rote, wie Spielfarten leuchtende Wangen. Es war der Notar des Schloffes. Er sagte fehr laut zu Frau Dieze:
Ihre Schwester wird zu Ihnen nicht mehr zurückkehren. Gie wird einen Herrn ehelichen, der zu gleicher Zeit mit ihr diese Gegend einen Herrn, den Sie kennen." verlassen hat
Ah!" gludften drei gestreckte Welverhälse.
Und Ihre Schwester hat das Schloß gekauft von dem Gelde, das sie in Paris erwerben. Sie wollte nicht, daß man es wiffe. Sie wollte Sie überraschent"
Und mit kleinen, abgehadten Schritten entfernte sich der Notar aus dem Bereich von sechs verdugt breinschauenden Augen. ( Deutsch von Josef Kalmer .)