Neuer Social WMkrat Inhalt. Die„rcaktivilärc" Masse. Politische Ncbersicht: Zum Militiir-Etat.— Das Elend der Handelskrise.— Wie das Volk vertreten wird.— Der Krach Strous- Berg,— Graz.— Frankreich.— Unsere Invaliden.— Gehalt eines Betriebs-Direktors. Deutscher Reichstag . Protest gegen die Entwürfe eines Gesetzes, betreffend die Abänderung des Titels VIU. der Gewerbe-Ordnung. 5torrcspondcnzcn: Altona.— Nordhausen. Tprcchsaal. Tie„reaktionäre Masse". ii. I In der von uns„reaktionär" genannten Gesellschaft haben wir als bewegendes und herrschendes Prinzip die Selbstsucht des Individuums gefunden. Da dieser alle Welt und alle Menschen nur als Stoffe zur Befriedigung dienen, während„Recht" und„Gesetz" keinen anderen Sinn haben, als den, die Selbstmacht und Selbstlust dieser Be- � friedigung zu hemmen, so ist die Selbstsucht an sich— ?der im Paradiesesstande der Unschuld— überhaupt unfähig, Rechte und Gesetze oder einen Staat zu bilden. Sie Mus; erst durch bittere Erkenntnißfrüchte über die Schäd- lichkeit ihrer unbeschränkten Ausübung, und über den höheren Bortheil einer freiwilligen oder gezwungenen Beschränkung belehrt worden sein, um gewisse Schranken, irgend ein gegenseitig verpflichtendes„Recht", einen Bcr- frag anzuerkennen. Dieser Vertrag wird aber uothwendig immer dem Stärkeren die Ausbeutung des Schwächeren zu Recht gestatten und gesetzlich machen. So gehen z. B. zwei Raufbolde auch einen Bertrag als Herr und Sclave ein, wenn einmal der Besiegte genügend zerschlagen worden ist, um die Inferiorität seiner Kräfte als sichere Thatsache zu empfinden. Denn, so wie er nicht jeden beliebigen Augen- blick wiederum zerschlagen werden möchte, so zieht auch der Starke es vor, statt des ewig erneuten Kampfes, der doch uothwendig auch Wechsel, Schaden und Gefahr bringt, Sicherheit vor dem Gegner und Frieden zu haben, so bald derselbe nur freiwillig sich zu der verlangten Unterthänig- keit versteht. Das Wohl des Herrschenden wie des Die- nenden gewinnt also durch ein zwischen ihnen aufgestelltes Recht des Stärkeren, und dieses Recht wird daher die Seele der ersten Gesellschaft, wie es noch heute die Seele des ftlassenstaats ist; immer aber bleibt ihm der Inhalt, daß nur der größere Bortheil des Individuums, die mehr gesicherte Ausbeutung des Nächsten sein Ziel und Augenmerk ist. Der Socialismus dagegen erhebt, was hier nur als Beigabe zum Bortheil der Selbstsucht erscheint, die Gegen- leitigkeit, selbstständig, in freier und reiner Form zur Grundlage, zum herrschenden Prinzip der Gesellschaft. Und da die Gegenseitigkeit schon in ihrem ersten Auftreten, als Gehülfin der Selbstsucht, diese einschränkte, und, soweit Ne immer zur Geltung kam, als„Gesetz" sich über sie erhob, so ist leicht ersichtlich, daß sie zum Leben und Rich- tung gebenden Prinzip geworden, die Selbstsucht immer nur als reaktionäres Moment sich gegenüber hat und baß in der Bekämpfung dieser Reaktion ihr Sieg und ihr Wesen besteht. Die Gegenseitigkeit, oder, wie wir sagen, die Soli- barität, ist das Ei des Kolumbus . Sie war in der Will- Wirherrschaft der Selbstsucht das erste und einzige gesell- schastsbildende Element; in ihr wurzelt aller Ursprung und alles Wachsthnm der Kultnr. Und seitdem ist sie den politischen, mirthschaftlichen, religiösen Gesellschastsbildncrn und Gesetzgebern aller Zeiten unter tausend Namen durch die Finger gerollt als ein unselbstständiges, immer wieder rollendes und schwindendes Gleichgewicht, und hastet als iolches allen Einrichtungen des Staates und der Gesellschaft an. Der Socialismus aber hat dieses Ei aufrecht gestellt, und nun, aufrecht und selbstständig, bedarf es keiner Stütze, keines außer ihm liegenden Haltes mehr, und trägt, indem ss sich selbst trägt, die ganze politische, wirthschastliche und sittliche Ordnung eines neuen Staates, einer neuen Gesell- schaft. Auf Solidarität ist ja Alles gebaut, was wir echt menschlich nennen, und, sagen wir mehr, all unser Rie lisch enthinil ist Solidarität. Jenseits liegt nur das Wesen des Thiers, aus dem wir stammen. Was ist denn unser Geist, der Geist jedes Einzelnen? Ein solidarisches Bewußtseinsleben. Aus der Menschen- gemeinschaft erst ist er hervorgegangen und wird sonst nir- gends gefunden; erst das solidarisch gewordene Denkwesen Und Denkgesetz giebt ihn uns, und das erste Einswerden von Bewußtsein mit Bewußtsein ist sein Keim. Wie das Rufnehmen der Nahrung zum Einswerden der Nahrung und des Leibes führt, so das Ausnehmen der Gegenstände in die Sinne zum Einswerden der Sinnesempfindung mit den Bingen oder zum Bewußtsein von der Welt. Dieses hat auch das Thier. Aber die Unterscheidung eines be- wußten Ichs geht erst aus der(durch Familienleben) bis zur Einheit von Bewußtsein vertieften seelischen Ge- meinschast der Menschen hervor, aus welcher gefundenen Bewußtseinssolidarität das Selbstbewußtsein erwacht, die Unterscheidung des Persönlichen, oder das„Ich"— welches das Thier nicht hat. Darum gelangt der Mensch, wenn er einsam bleibt, so wenig jemals zum Geist, wie das Thier, bleibt Thier mit den Thieren, oder stumpfsinnig, Idiot, in der Einsamkeit des Kerkers. Der Geist, die Bewußtseins- solidarität der Menschen, ist das Gemeinwesen Aller, von dem alles Geistige des Einzelnen ausgeht und das die per- sönlichen Unterscheidungen an sich hat, wie der Baum seine Zweige. Aus sich selbst können diese nicht emporwachsen, aus ihm, von ihm gewährt, getragen und nach seinen Ge- setzen entwickelt, wachsen sie hervor, und das, was da mit- wächst, sind nur scheinbar die Zweige, in Wahrheit ist es das Ganze, der Baum. Alles„Wissen" des Einzelnen im höchsten Sinne ist nicht mehr subjektive Empfindung, Phan- taste und Gedanken oder Wahrheit des Einzelnen, sondern es ist von anderen Menschen getheiltes, solidarisches Bewußtsein vom Wesen sei es der Natur- oder der Menschenwclt. Wissen(wie das Einmaleins) ist„sicher", wenn es alle regelmäßig entwickelten Mensche» theilen. Die Wissenschaft ist das, mit Ausschluß von individuell-wahren Erkenntnißbausteinen nur aus solidarischen Wissensbausteinen aufgeführte Gebäude menschlicher Erkenntniß oder des Ent- wickelungsganges der Gesellschaft. Das persönliche Gefühl der Gewißheit selbst, wenn es auch irrthümlich sein sollte, hängt von dem Grade der Solidarität ab, in welchem wir die uns„überzeugende" Erkenntniß als verpflichtend für alle Menschen annehmen. Die Säulen unseres geistigen Wesens also, der Er- kenntniß, sind aus dem Materiale der Solidarität ge- baut— und solidarisch finden wir, wie das geistige Wesen, so all unser eigentlich oder wahrhaft„Menschliches", in welchen Beziehungen immer wir es durchforschen. Denn, was ist Sittlichkeit? Der Trieb und die Kraft nur des solidarischen Lebensgesetzes in uns. Die Selbstsucht, ihr gegenüber, sucht und thut das Gesetz des Einzelnen, des Individuums; die„Tugend" aber' übt auf Kosten des Individuums das gemeinsame Gesetz der Menschen! Nicht die bloße Hingabe an den Nächsten— etwa die jenem zu einem Morde behülflich wäre— ist schon sittlich, sondern die Hingabe erst für ihn an ein allgemeines. Allen gehört- ges Lebensgesetz oder Lebensgut der Menschen. Und darum erscheint auch jede unmittelbare Hingabe an das Gesammt- oder Gemeinleben, in der Freundschaft, Ehe, Vaterlands- liebe, als Treue, Redlichkeit, Rechtssinn, sittlich, idealistisch oder tugendhaft. Das„Recht", welches Kant den Aug- apfel Gottes nennt, ist nichts als das gemeinsame Lebens- gesetz der Gesellschaft gegenüber den Ansprüchen des indivi- duellen Lebensrechtes. Und je mehr Einzelne ein Recht anerkennen, je höher steigt sein Werth, je„heiliger" wird seine Geltung; die Gerechtigkeit, welche wir im Namen aller Menschen anrufen können, bewegt am tiefsten unser Ge- müth, ist die weittreffendste Rcchtswaffe, das Menschen- recht. Mag auch Recht und Sittlichkeit noch niedrig stehen, so daß sie z. B. neben den Schutz des eigenen Gemein- wesens gleichwerthig Beraubung und Verwüstung des frem- den setzen, oder Liebe nur für den Genossen, für den Geg- ner aber Haß verlangen— immer ist die Hingabe des Ein- zelnen an sein Ganzes, also Opferung der Selbstsucht zu Gunsten der Solidarität, ihr sittlicher Inhalt. Und so sind alle Güter des Herzens, der Seele, des Geistes, in der Gemeinschaft, der Solidarität der Menschen unweigerlich beschlossen und gehen in ihr auf, immer im Gegensatze zu dem reaktionären'Prinzip der Selbstsucht. Ich wiederhole es daher, all' unser Menschenthum ist Solidarität, gemeinsames Gesetz und gemeinsames Leben der Menschen. Wir sind Communisten und Müs- sen es sein, so weit wir wahrhaft Menschen sein wollen. Die Anker unserer menschlichen Existenz: Gewißheit, Wahr- heit. Recht und Logik, die Ideale aller Religion und Sitte: Tugend, Liebe, Freiheit, Bildung, Sittlichkeit, das Geistes- wesen selbst, sind Communivmus, Einheit»nd Gemeinsam- keit des Lebens, in die wir hineinwachsen, je menschlicher, je vollkonunener wir werden. Wir besitzen alle diese Güter entweder gar nicht, oder mit einander; wir haben keine Wahl. Und je gemeinsamer wir sie besitzen, um so voll- tommener sind sie, im Ganzen wie für den Einzelnen. Wir sind die rechten Theiler von Berus . Während das Thier die Welt in sich schlingt und für sich allein ver- schlingt, um zu genießen und sich zu befriedigen, müssen wir die menschlichen Güter: Freundschaft, Liebe, Wohl- stand, Bildung, Geist, getheilt haben, um sie zu besitzen — jedes menschliche Glück ist ein getheiltes! Die höchste Forderung der Religion selbst ist, nach Christi Ausspruch, das Theilen der Menschen mit einander oder die Gegen- seitigkeit.„Alles nun, was ihr wollt, das die Leute euch thun sollen, das thuet ihr ihnen; das ist das Gesetz und die Propheten." Wir bringen also in dem Prinzip, das die Social- Demokratie gegenüber der„Reaktion" auf- stellt, einen höheren Kulturzustand zur Geltung, oder, um es recht zu sagen, gegenüber dem Recht des Stärkeren und der Selbstsucht, auf welchen der Klassenstaat gebaut ist, legen wir Social-Demokraten erst das Fundament für die eigentliche, die menschenwürdige Gesellschaftsordnung. JL D. Politische Ueberficht. Berlin , 20. November. Das rothe Gespenst spukt jetzt allerorts, sogar im Mi- litär-Etat des deutschen Reichel. Dort leistet dasselbe nämlich hülfreiche Hand, um für einen„Kommandanten" in Frankfurt a. M. die Summe von 12,300 Mark und für einen solchen in Altona die Summe von 10,800 Mark zu motiviren. Wörtlich heißt es in den Motiven unter Anderem: „Dem als Kommandant von Altona und gleichzeitig als Kommandant der in Hamburg garnisonirenden Truppen fungi- renden Offizier, fällt es zu, bei Störungen der öffentlichen Ordnung die obere Leitung der Truppen in dem Komplex von Städten und Ortschaften zu übernehmen, dessen Kern die Städte Hamburg und Altona bilden. Es entzieht sich dieser Erörterung, in wie weit von gewissen Theilen der dort funktionirenden zahlreichen Bevölkerung solche Ruhestörungen zu besorgen sind. Die Größe des event. zu schützenden Eigenthums und die Bedeutung von Hamburg lassen jedenfalls eine Ruhestörung da- selbst besonders verhängnißvoll, die energische schnelle Unter- drückung einer solchen besonders nothwendig erscheinen. Zu letzterem Zwecke wird die Einsetzung eines besonderen Komman- danten vom militärischen Standpunkte aus unerläßlich. Denn außer dem kommandirenden Generale, welcher der Befehlführung über ein Armeecorps und über einen Corpsbezirk durch das Kommando einzelner Truppenabtheilungen nicht entzogen werden darf, garnisonirt kein höherer Befehlshaber in Hamburg und Altona . Bon auswärts herangezogene Befehlshaber würden zur Ueber- nähme des Kommandos zu spät eintreffen, demnächst in Folge mangelnder Lokalkenntniß nicht mit derjenigen Sicherheit handeln, welche allein die Schnelligkeit des Erfolges verbürgt.... „Die Verhältnisse von Frankfurt a. M. gleichen insofern denjenigen von Hamburg-Altona , als auch dort eine zahlreiche agitatorischen Einflüssen ausgesetzte und theilweise leicht zugängliche Bevölkerung auf engem Räume versammelt, anderer- seits vieles und großes Eigenthum zu schützen ist. Die Motivi- rung der Commandantur von Altona trifft daher im Allgemeinen für diejenige von Frankfurt a. M. zu." Nun, es wird den Herren Liberalen nicht allzu angenehm sein, die 23,400 Atark bewilligen zu müssen, aber zum Schutze des„heiligen Eigenthums" muß man es sich schon einen Groschen kosten lassen. Schade nur, daß das„Eigenthum" nicht einen Deut sicherer ist, ob nun ein Kommandant, oder Lasker'chen, oder Niemand in Altona und Frankfurt a. M. thront, denn den bösen Socialisten— fällt es gar nicht ein, eines schönen Tages Hamburg und Frankfurt zu plündern und den Inhalt der feuerfesten Geldschränke der Börsenmänner zu„thei- len". Gegen die„Gründer" aber helfen auch keine Komman- danten. DaS grausigste Elend der Handelskrise allerorts, das ist die Signatur unserer Zeit. Die grenzenloseste Schamlosigkeit aber ist es uun, wenn die Pourgeois-Presse dieses offen ableugnet und sich gebehrdet, als ergehe es den Arbeitern nur zu wohl. Ein solches Mannvver macht heute die„Vossische Zeitung"; dieselbe bringt folgenden Erguß: „Die schutzzöllnerische Partei hat es für gut befunden, auch den Kulturkampf mit dem Eisenzoll in Verbindung zu bringen, und die Behauptung aufgestellt, man werde Tausende von hungernden Arbeitern dem Ultramontanismus in die Arme treiben, wenn man die gefährdete Eisen-Jndustrie nicht durch die Verlängerung der Schutzzölle rette. Man kommt aber durch diese Behauptung in Widerspruch mit einer anderen Behauptung, die man gleich- falls nicht entbehren kann, um die Agitation fortzusetzen, nämlich mit der Behauptung, daß man mit der Schwierigkeit allzu hoher Löhne zu kämpfen habe. Von zwei Behauptungen kann nur eine richtig sein; entweder das Angebot von Arbeit oder die Nachfrage nach Arbeit überwiegt. Beide zugleich können unmöglich richtig sein. Giebt es mehr Arbeits-Gelegenheit als Arme, so kann der' Arbeiterstand keiner Noihlage entgegengehen, und giebt es mehr Arbeiter als Arbeits-Gelegenheit, so gehören Lohnherabsetzungen nicht zu den Unmöglichkeiten. Nach der Darstellung eines hervor- ragenden westfälischen Industriellen, der die schutzzöllnerische Agi- tation mit besonderem Eifer betreibt, und dessen Schilderung wir daher folgen dürfen, ohne daß uns die Gegner den Vorwurf der Schönfärberei machen können, herrscht im westfälischen Industrie- Distrikt noch heute Arbeitermangel. Es ist uns ein Werk namhaft gemacht worden, welches im Jahre 1872 gegen 5000 Arbeiter be- schäftigt hat und heute höchstens noch 3000 beschäftigt und Ivel- ches trotzdem in Verlegenheit kommt, wenn es vorüber- gehend eine größere Arbeiterzahl einstellen will, oder wenn es für manche 3lrbeiterkategorien den Lohnsatz ermäßigen will. Die 2000 ausgeschiedenen Arbeiter haben sofort in anderen Zwei- gen der Thätigkeit lohnende und dauernde Verwendung gefunden. Der Lohnsatz in den westfälischen Stahlwerken für gemeine Hand- arbeit steht noch auf drei Mark; daß die geschulte Arbeit für die
Ausgabe
5 (21.11.1875) 138
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