stellen wolle, lediglich und allein für das Jahr 1876 zu sorgen, dann, wie Jeder, der zu rechnen versteht, zugeben muß, durch Verwendung des muthmaßlichen Ueberschusses von 1875 von 14 Millionen Mark die Möglichkeit gegeben wäre, vor der Hand ohne die neuen Steuern zu­recht zu kommen, und daß ich dann die Darlegung gemacht habe, daß ich ein solches Verfahren für eine verkehrte und ungesunde Steuer­politik betrachten würde, daß wir uns heute zu vergegenwärtigen haben, wie ohne diese Vorlage der Steuergesetze und ohne deren Annahme wir dem Jahre 1877 in der Weise entgegengehen, daß wir auf ein Defizit von nahezu 50 Millionen Mark uns gefaßt machen müssen, auf 46 bis 50 Millionen Mark, und daß diese Summe nur insoweit er­mäßigt werden wird, als etwa die Veranschlagung der Steuern und Zölle um einen mehr oder weniger erheblichen Betrag hinter der Wirk­lichkeit zurückbleibt, daß ich meinerseits glaube und hoffe, die Wirklich­keit werde den veranschlagten Betrag etwas übersteigen, daß ich aber glauben und nicht hoffen kann, so sehr ich es auch wünschen möchte, Daß diese Steigerung irgendwie dazu dienen kann, die Lücke auszu­füllen und dann nothwendig zu einem Ersatz durch Steuern gegriffen werden muß. Nachdem ich dann ferner dargelegt habe, wie der Vor­schlag wegen der Börsensteuer als ein durchaus gerechter und in jeder Zeit annehmbarer zu betrachten sei, meine Herren, wenn Sie eine solche Darlegung als ein Aufgeben der Vorlage betrachten, wenn Sie einer folchen Darlegung gegenüber meinen, ich wollte mich von der persön lichen Verantwortlichkeit zurückziehen, dann, meine Herren. muß ich Ihnen sagen, daß ich diese Auffassung nicht ganz verständlich finden würde.( Sehr richtig!)

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Präsident: Der Herr Abg. Windthorst hat das Wort:

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Abg. Windthorst! Meine Herren, als ich vor einigen Wochen äußerte, daß es mit unseren Finanzen nicht ganz absonderlich stehe, wurde ein heftiger Widerspruch bemerkbar. Ich habe auf die Verhand­lungen des Budgets hingewiesen in der Meinung, daß diese meine Be­hauptung rechtfertigen werden. Die Darlegungen des Herrn Präsider ten des Reichskanzleramts,( Rufe: ,, Reichs"!) die Herren wollen lieber ,, Reichstanzleramts"( Bustimmung) des Herrn Geheimen Re­gierungsraths Michaelis, auch des Herrn Finanzministers von Preußen haben nach meiner Ansicht nachgewiesen, daß die Finanzen des Reichs nicht günstig stehen, und ich würde meinestheils aus diesen Deduktionen, die von dem Herrn Rickert und dem Herrn Richter nicht widerlegt wor­den sind, allerdings dahin kommen müssen, eine neue Steuer zu be willigen, wenn ich nicht glaubte, daß durch Ersparungen das, was uns fehlt, gewonnen werden könnte. Ich bin der Meinung, und das wird sich bei der Detailberathung des Budgets näher zeigen wir sehr erhebliche Ersparungen machen könnten. Und wenn, wie die Thronrede uns gesagt hat, der Friede gesichert ist zu unserer aller Freude, denke ich, wäre es Zeit, daß endlich Versuche gemacht würden, um zu einer größeren Beschränkung des Militäraufwandes in Deutsch­ land und in Europa überhaupt zu gelangen. Ich sage deshalb: mei­nestheils kann ich nur deshalb für eine neue Steuer nicht stimmen, weil ich die Ansicht habe, daß wir sparen müssen, sparen können und sparen sollen.

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daß

Der Herr Finanzminister hat in der vorigen Session bestimmte Klassen der Unterthanen an die Sparsamkeit verwiesen. Diese Mah­nung ist für uns Alle recht heilsam und nüßlich gewesen, aber ich denke, in Beziehung auf die Nothwendigkeit der Ersparniß muß und darf zunächst auch auf die Ressorts der Finanzminister und die sämmt­lichen Ressorts der Verwaltungen hingewiesen werden.

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Nun hat ferner in den letzten Tagen der Herr Finanzminister sich als besonders konstitutionell hingestellt, das kann ja uns selbstverständ­lich nur Freude bereiten. Der Herr Abgeordnete Dr. Lasker hat dieser Freude auch sofort einen Ausdruck der wärmsten Natur gegeben;( Hei­terkeit) es war das eine interessante Versöhnungsscene, die ich meines­theils kaum begriff, weil ich den Streit hinter den Gardinen nicht ge­sehen hatte;( Stimme links: Es war auch keiner!) aber bezeichnend war diese Scene sehr, und wenn sie von selbst noch nicht begriffen worden wäre, so haben die Blätter der nationalliberalen Partei das Verständniß uns erleichtert. Es ist, so weit ich weiß, nie so klar und bestimmt von einem Minister das parlamentarische Regiment pro­flamirt worden, wie es der preußische Herr Staats- und Finanzminister gethan hat, derselbe hat erklärt: wenn die Majorität anderer Meinung ist, als wir, dann treten wir zurück.( Nein! links.) Das habe ich verstanden, und wenn die Herren den Vortrag lesen wollen, müssen sie ihn auch so verstehen. Ich bin erstaunt, bei diesem Punkte eine ge­wisse Berneinung in den Bänken der Nationalliberalen zu vernehmen, ( Heiterkeit links. Sehr gut! im Zentrum) da gerade sie über eine solche Erklärung ihres Lieblingsministers besonders erfreut sein müßten. Meine Herren, für diese Erklärung schien mir in der Sachlage übrigens keine genügende Motwirung vorzuliegen, aber ich habe mich besonders deshalb darüber gefreut, weil ich dachte, sie wäre auch be­stimmt für das Bundesrathsmitglied für Bayern , für den Herrn Staatsminister von Fäustle.( Heiterkeit im Zentrum.) Denn es ist interessant genug, daß wir in dem gewiß bedeutendsten Bundesstaate in der Praxis das Gegentheil von dem sehen, was hier von dem preu­ßischen Minister als konstitutioneller Grundsay publizirt worden ist. ( Bischen links. Sehr gut! im Zentrum.) Meine Herren, ich pflege solche Aeußerungen der Minister nicht blos akademisch aufzufassen, ich ziehe gern praktische Resultate daraus. Von dem verehrten Herrn Ministerpräsidenten und Reichskanzler ist diese Aeußerung des Herrn Minister Camphausen heute anscheinend rektifizirt. Der Herr Reichs­tanzler sagt: aus der Ablehnung einer Steuervorlage folgt für uns, daß wir sie wiederbringen, die Ablehnung ist keine Rabinetsfrage; fie fonstatirt nur eine Meinungsverschiedenheit, eine geschäftliche Meinungs­verschiedenheit, die wir demnächst im Laufe der Geschäfte weiter ent­wickeln und ausgleichen. Der Unterschied der beiden ministeriellen Aeußerungen wird Jedem ohne weiteren Kommentar verständlich sein. Eine weitere Rektifikation des Herrn Reichskanzlers in Beziehung auf die Aeußerungen des Herrn Ministers Camphausen ist heute vor­gekommen, und der Herr Minister Camphausen hat diese Korrektur acceptirt. In sehr weiten Kreisen des Hauses wurden die Aeußerungen des Herrn Finanzministers in Beziehung auf die Bedürfnißfrage in Rücksicht der Steuern dahin aufgefaßt, daß ein absolutes Bedürfniß noch nicht vorliege, daß erst in der Zukunft das Bedürfniß sich zeigen werde, daß man diese Steuern mit Rücksicht auf diese Zukunft zweck­mäßig bewillige; daß er aber die Unmöglichkeit, namentlich in Preußen, auch ohne diese Steuern mit den Matrikularumlagen fertig zu werden, nicht erkenne. Er hat uns gesagt, daß er trok seiner scharfen Brille diese Unmöglichkeit nicht einsieht. Wenn die Sache aber a so belegen ist, dann muß ich meinestheils sagen: Ich bewillige der Regierung nicht eher Geld, bis die absolute Nothwendigkeit vorliegt. Diese absolute Nothwendigkeit müssen wir aber erst noch erfahren und zwar nach den eigenen Aeußerungen des Herrn Ministers.

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Mehrere Finanzmänner dieses Hauses haben laut oder minder laut wiederholt darauf hingewiesen, daß man noch nicht wissen könne, ob nicht die Einnahmen, aus den Zöllen insbesondere, sich noch ganz be= deutend vermehrt haben werden, und daß man deshalb auch noch nicht wissen könne, ob überhaupt im Jahre 1876 irgend welche Verlegenheiten ein­treten werden. Das führt auf den Punkt, von dem ich gehofft hätte, daß man etwas Näheres von Seiten der Herren Minister zur Aufklä­rung darüber gehört hätte, oder daß aus diesem Hause zur Aufklärung desselben beigetragen wäre. Eine Vermehrung der Einnahmen der hier fraglichen Art ist nur dann zu erwarten, wenn das jetzt darniederlte­gende Gewerbewesen, der darniederliegende Handel sich entschieden hebt, wenn der Volkswohlstand wieder in eine bessere Lage kommt, als er heute sich befindet. Die Herren von der nationalliberalen Partei, die über die Sache sich geäußert haben, leugnen eigentlich jeglichen allgemeineren Nothstand.( Ruf links: allgemeinen!) Ich habe ausdrücklich, mein verehrter Gönner,( Heiterkeit) gesagt allgemein", weil ich weiß, daß insbesondere mein verehrter Freund, der Herr Kollege Rickert, meint, lokal feien allerdings Nothstände vorhanden, eine allgemeinere Noth gäbe es aber nicht. Ich behaupte meinestheils nicht, daß ich das All­gemeine vollständig übersehen könnte. Ich stehe in meinen bestimmten Kreisen und maße mir nicht an, über dieselben weit hinaus zu sehen, aber, das glaube ich doch unbedingt sagen zu müssen, daß in den Krei­sen, in welchen ich lebe, der Nothstand sich auf das äußerste und allge­mein bemerkbar macht.( Sehr richtig! links. Ruf: Im Zentrum!) Die Herren glauben, mit einem schlechten Scherze ausdrücken zu kön­nen, daß die Noth in der Zentrumsfraktion sei. Meine Herren, die Mitglieder der Zentrumsfraktion befinden sich besser, als Sie,( Heiter­teit; sehr wahr aber nicht alle, die wir zu vertreten haben, und ich

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denke meinestheils, das Thema, welches hier zur Verhandlung steht, ist so ernst, daß man es durch solche Zurufe nicht verschieben soll.( Sehr richtig! im Zentrum.) Wenn ich alle Tage Konkurse anmelden sehe, wenn ich Firmen fallen sehe, die durch Jahrhunderte fest gestanden ha­ben, wenn ich Familien sinken sehe, von denen ich weiß, daß sie in Arbeit und sorgsamer Sparsamkeit dagestanden haben, wenn ich sehe, wie tagtäglich die Arbeiter massenhaft entlassen werden, die nicht Ent­laffenen aber nur viel weniger arbeiten können, wie ihre Löhne redu­zirt werden müssen bis zu einem Punkte, daß sie das nackte Leben nicht mehr haben, denn mit der Reduzirung der Löhne geht leider die Preissinkung der Lebensmittel nicht gleichen Schritt, dann muß ich meinestheils sagen, daß die Noth sehr groß und sehr allgemein ist. Ich behaupte aus eigener Anschauung, von der französischen Grenze bis nach Berlin existirt die Noth; ob sie in Danzig egistirt, weiß ich nicht. ( Sehr gut! im Zentrum.)

Ich meine, meine Herren, es ist nicht gut, so etwas an die Seite schieben zu wollen. Ich bin vielmehr der Meinung, daß man jeglichem Uebel, jeglichem Unglück mit großer Ruhe und Resignation und mit offenen Augen entgegensehen und in es hineingehen soll, um so am ehesten dahin zu kommen, gemeinsam zu überlegen, ob und was etwa geschehen kann, diesem Uebel abzuhelfen. Das ist die ernste Pflicht des deutschen Reichstags. Der Herr Kollege Dr. Laster hat gemeint, die Noth sei nicht so groß, weil sich die Sparkassen füllen. Ich muß zu­nächst den Beweis dieser Behauptung erwarten. Ich weiß nur, daß angeblich das in Harburg der Fall sein soll,( Heiterkeit. Rufe: Berlin !)

auch, wie hier soeben behauptet wird, in Berlin . Ich kann nur wiederholen: weisen Sie mir es nach; dann aber folgt für mich daraus allein in Beziehung auf die vorliegende Frage gar nichts; denn ich müßte zunächst wissen: wer sind denn die Leute, die dieses Geld in die Sparkasse tragen? Das sind die nothleidenden Klassen nicht, son­dern das sind diejenigen kleinen Besizer, welche, nachdem nunmehr alle Banken und alle Banquiers den Kredit verloren haben, nachdem eine große Zahl von Banken zusammengebrochen vor uns liegt und eine andere Zahl den Zusammenbruch fürchten läßt, sich und Anderen sagen: wir haben allerdings uns anstecken lassen durch den Wunsch, große Zinsen zu haben, und sind zu allerlei unsicheren Kantonisten, die wir heute als solche erkennen, gegangen; da haben wir schon so und so viel verloren in Provinzialdiskonto, in Dortmunder Union u. s. w., daß wir jetzt lieber geringere Zinsen nehmen und unser Geld bei einer guten Verwaltungs- Leihkasse, bei einer guten Sparkasse unterbringen wollen, wie z. B. bei der des Herrn Oberbürgermeisters Grumbrecht . ( Heiterkeit.)

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Das ist der Grund, warum in diese Sparlassen Depots kommen; die Depots bei den Banken sind nicht mehr so sicher, wie bei den Sparkassen, darum füllen sich die letzteren. Die bezügliche Aeußerung des Herrn Kollegen Lasker wird also, wie ich glaube, die Behauptung über den Nothstand nicht widerlegen, welche ich sehr ungern ausspreche, daß ich viel lieber wünschte, daß man sagen könnte: alle Menschen sind so reich, wie sie es wünschen.( Heiterkeit.)

Dann hat der Herr Kollege Lasker gesagt, die Vorwürfe, daß die wirthschaftliche Gesetzgebung der neueren Zeit mit zu diesem Unglück beigetragen habe, seien unbegründet; nur ein Gesetz sei zu verurtheilen, das sei das Aktiengeset. Ich bin mit ihm der Meinung, daß man das Attiengeset sehr rasch revidiren sollte; aber ich bin nicht der Meinung, daß es damit gethan ist. Wir müssen das Gesetz wegen der absoluten Freizügigkeit ebenfalls revidiren; wir müssen die Gewerbeordnung funditus revidiren.( Hört! links.) Ja, meine Herren, ich weiß sehr wohl, daß Sie widersprechen. Es sind die fraglichen Gesetze Ihre Kinder, und es wäre unnatürlich, wenn Sie diese nicht vertheidigten. ( Heiterkeit.)

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Umbringen will ich sie auch nicht, sondern nur revidiren.( Wieder holte Heiterfeit.)

Ueber die Frage des Zoll- und Steuer- Systems werden wir noch weiter sprechen. In der Rücksicht war mir die Rede des Herrn Es Ministerpräsidenten und Reichskanzlers nicht ohne Wichtigkeit. würde, glaube ich, aus seinen Anschauungen wohl folgen, daß manches auch in der Hinsicht ungethan werden müßte, was bisher gethan ist. Inzwischen wollen wir die Erörterung dieses Punktes aussetzen, bis wir an die Zollfragen direkt kommen, die uns ja ganz officiell gebracht find. Wenn der Herr Abgeordnete Dr. Lasker dann noch geglaubt hat, die Konservativen haben auch geschwindelt und haben deshalb Theil an den bestehenden Kalamitäten, nun, so habe ich diejenigen Konservativen, welche geschwindelt haben sollen, meinestheils nicht zu vertreten; ich fann nur meinestheils die Freude ausdrücken, daß meine Freunde und ich von jedem Schwindel frei geblieben sind, und daß ich wünschte, auch alle Anderen wären in derselben Lage, dies sagen zu können. Daneben aber bin ich der Meinung, es sollten derartige Refriminatio­nen mit etwas größerer Vorsicht und Umsicht nach allen Seiten aus­gesprochen werden. Unter allen Umständen wird die Existenz des Noth­standes durch solche Nekriminationen nicht beseitigt.( Sehr richtig!)

Der Herr Abgeordnete Nichter wollte auch nicht zugeben, daß ein Nothstand bestehe, und meinte, wenn ein Nothstand bestehe, so sei es die Folge des Krieges. Ich weiß nicht, ob, wenn diese Behauptung zutreffend sein soll, sich der Nothstand nicht unmittelbar nach den Kriegsjahren hätte zeigen müssen. Da war aber nichts davon zu sehen. Auch ist der geschlagene Feind in gleicher Lage nicht. Es ist ihm das bereits von dem Abgeordneten von Kardorff entgegnet worden. Meines­theils bin ich wirklich nicht der Meinung, daß der betreffende Noth­stand die Folge des Krieges gewesen ist. Viel eher haben die Milliarden dazu beigetragen, den Schwindel und jetzt den Nothstand hervorzurufen. Aber ich glaube doch, daß auch die viel mehr beschuldigt werden, als sie es verdienen. Ob man sie überall richtig verwendet, das ist aller­dings eine andere Frage, die ich meinestheils verneinen muß. Ich habe das in Beziehung auf den Invalidenfonds bereits dargethan, und es wird wohl noch Gelegenheit kommen, auch bei anderen Ver­wendungen dies weiter darzuthun. Mag die Ursache des Nothstandes aber sein, welche sie will, er besteht leider, und so lange er besteht, ist an ein Steigen der Einnahmen aus den Zöllen und Steuern nicht zu denken.

Die Milliarden bringen mich dann noch auf die weitere Ausfüh­rung des Kollegen Richter, daß davon noch so viel vorhanden sei, daß wir damit alles Fehlende decken könnten. In der Hinsicht hat ihn der Geheimrath Michaelis, glaube ich, vollständig belehrt.( Widerspruch links.)

Ich will es dem Herrn Geheimrath Michaelis und dem Herrn Richter überlassen, darüber sich zu verständigen, und abwarten, ob Herr Richter noch etwas nachweisen kann; ich werde mich über jede Ent­deckung neuer Schätze recht glücklich fühlen.( Heiterkeit.)

Der Herr Finanzminister hat den Nothstand nicht geleugnet, aber er hat gesagt: ich bin überzeugt, er wird sehr rasch vorübergehen, wir sind schon auf der Besserung. Dieses Wort, das leugne ich nicht, hat für mich eine große Bedeutung gehabt, weil kaum Einer von uns so gestellt ist, alle diese Dinge so zu übersehen, wie der Herr Finanz­minister. Aber bei aller Autorität, die ich dem geehrten Herrn auf diesem Gebiete einräume, muß ich doch erklären, daß ich derartige ein­fache Versicherungen auf meine Ueberzeugung nicht mehr einwirken laffen kann, ich muß die Begründung derselben hören, diese Begründung aber habe ich zu meinem Bedauern nicht gehört. Vielleicht wäre sie noch zu bringen und wann sie zu bringen wäre, dann würde das im gegenwärtigen Augenblick sehr angebracht sein, da die Muthlosigkeit, welche der Herr Finanzminister als jetzt zu sehr vorhanden bezeichnet hat, am besten dadurch beseitigt werden könnte.

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Das sind so die Betrachtungen, zu welchen die Diskussion über das Budget und die Steuervorlagen Veranlassung gab bis zu dem Augenblicke, wo der Herr Reichskanzler in die Diskussion eingetreten ist. Der Herr Reichskanzler hat die Diskussion auf ein ganz anderes Gebiet gebracht und hat weitere politische Erwägungen eintreten lassen, von denen ich dahingestellt sein lassen will, ob sie zu dieser Sache einen vollständig zwingenden Zusammenhang hatten.

Zunächst hat der Herr Reichskanzler nicht unternommen, aus dem Bedürfniß die Steuervorlagen zu rechtfertigen. Darauf muß ich meinestheils sagen, daß ich für jede Steuervorlage den Nachweis des Bedürfnisses für das absolute, wichtigste und entscheidende halte. Jegliches Experimentiren, mag es noch so wohlgemeint sein, ohne den Nachweis des Bedürfnisses ist bei den Steuern verwerflich. Die Innehal­tung der Grenzen des Bedürfnisses ist das erste Prinzip aller Steuern und aller Steuerreformen; wenn wir eine Steuerreform machen wollen, so ist es, glaube ich, recht rathsam, daß wir an diesem Prinzip ansehen,

und daß wir nur solche Steuern bewilligen und beantragen, deren Nothwendigkeit vollständig nachgwiesen worden ist.( Sehr richtig!)

Der Herr Reichskanzler hat dann geglaubt, diese Vorlagen recht­fertigen zu können mit seinen Jdealen von einer Steuerreform. Er hat ausgeführt, wie er dafür halte, daß die indirekten Steuern die alleinigen sein sollen und daß als Einkommensteuer höchstens eine so­genannte Anstandssteuer von großen Vermögen zulässig erscheine. ( Schluß in der Beilage.)

Sigung vom 30. Noember.

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Beginn der Sigung 12 Uhr. Der erste Gegenstand der Tagesordnung: zweite Berathung eines Theils des Etats, führt zu keiner erwähnenswerthen Debatte; über die( Elsaß- Lothringer) Eisenbahnverwaltung wird nur Unerhebliches, über die Reichs­schuld gar nichts gesprochen. Zu lebhaften Verhandlungen gab der zweite Gegenstand der Tagesordnung: der Bericht über die Wahl im 10. Liegnißer Wahlkreis, Anlaß. Der Sachverhalt ist in Kurzem: Bei der Reichstagswahl vom 10. Januar 1874 wurden in dem genannten Bezirk 6359 gültige Stimmen abge­geben; von denselben fielen auf den Landeshauptmann v. Seyde­wig 3262, also 82 Stimmen über die erforderliche absolute Ma­jorität; auf den Assessor a. D. Jung in Köln 3071. Gegen die Wahl wurde rechtzeitig protestirt, und stellten sich bei der Prüfung Unregelmäßigkeiten der gröbsten Art heraus: Beeinflus sung durch Wahlvorsteher, Vertheilung der Wahlzettel durch Gen­darmen und Ortsrichter; an einem Ort( Wiedniß) fand die Wahl in einem nur durch die öffentliche Shenkstube zugänglichen Raum statt; der Beisitzer, Gutsbesizer Druglas, hielt sich während der Wahlhandlung vielfach in der Schenkstube auf, sprach mit den Wählern und ließ größere Quantitäten Bier und Branntwein an dieselben auf seine Kosten ausschenken; ein anderer Beisitzer, Gärt­ner Hendschek, vertheilte eigenhändig Seydewitz'sche Stimmzettel, unter Anderm auch an den Häusler Stäps, und als dieser den Zettel an der Wahlurne präsentirte, nahm ihn Hendschek in Em­pfang, hielt ihn gegen die Lampe und flüsterte dabei: Es stimmt! laß Dir einen Seidel Bier geben." Und so weiter. Kurz, Unregelmäßigkeiten und Beeinflussungen gröbster Art. Auf Grund dieser Thatsachen wurde durch Reichstagsbeschluß vom 10. April 1874 die Wahl Seydewig' beanstandet und der Reichskanzler ersucht, über gewisse in dem Protest angegebene Thatsachen zeugeneidlichen Beweis erheben zu lassen. Letzteres ist geschehen und sind die behaupteten Thatsachen im Wesent= Die Wahl kam nun von lichen als richtig ermittelt worden. Neuem vor die Abtheilung( die siebente) zur Prüfung, und wurde von der Majorität beschlossen, die Gültigkeitserklärung zu beantragen! Sehr lebhaft sprach der fortschrittliche Abgeordnete Frankenberger gegen den Antrag, der aber nach längerer De­batte mit erheblicher Majorität, wie der Präsident ausdrücklich fonstatirte, angenommen wurde. Außerdem sollen die betr. Un­regelmäßigkeiten" zur Kenntniß des Reichskanzlers gebracht wer­den, mit dem Antrag, das Landrathsamt zu Hoyerswerda ( das es besonders arg getrieben) wegen der durch Gensd'armen be­wirkten Vertheilung von Wahlzetteln, sowie die betreffenden Gensd'armen wegen solcher Vertheilung rektifiziren zu lassen, welche ,, Rektificirung" den Betreffenden oder Betroffenen keine Kopfschmerzen verursachen wird.

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Der unvermeidliche Diäten- Antrag des Herrn Schulze ( von Delitzsch ) führte zu einer sehr langweiligen, durchaus keinen neuen Gesichtspunkt zu Tage fördernden Conversation. Schulze flagte über die Rücksichtslosigkeit" des Bundesraths, der sein Kindlein schon so oft erdrosselt als ob dasselbe nicht todtge­boren wäre. Herr Kapp( nationalliberal) war so freundlich, sich unsterblich zu blamiren und für etwas Heiterkeit" im eigentlichen Sinne des Wortes zu sorgen. Er stolperte so über seine eigenen Worte, daß er nicht wieder auf die Füße ge angen konnte; in seiner Verlegenheit plauderte er übrigens das fatale Geheimniß aus, daß die Diätenlosigkeit das Produkt eines Kompromisses zwischen der Neichstags- Majorität und dem Fürsten Bismarc ist. Windthorst kam auf die Frage der heutigen Beschlußunfähigkeit des Reichstages und meinte, daß dieselbe zum Theil wenigstens daher rühre, daß die Regierung nicht genügende Vorlagen aus­gearbeitet habe; er befürwortete indeß die Diäten und meinte, an einen Ausspruch Schulze's anknüpfend, der Reichstag dürfe nicht müde werden, ein Tropfen höhle zuletzt einen Stein, selbst den härtesten Marmor. Ja wohl, alter Schäfer! Aber nicht Worte! Worte sind leerer Hauch, wenn die Kraft und der Muth zu handeln nicht dahinter steht, und das ist hier der Fall. Seitens der socialistischen Abgeordneten wäre dies ausge führt und der Beweis geliefert worden, daß der Reichstag selbst an der Diätenlosigkeit Schuld ist und gar nicht den ernsten Willen hat, den Diätenantrag durchzusetzen. Liebknecht, der sich zum Wort gemeldet hatte, wurde durch Valentin mundtodt ge­macht.

Es fand namentliche Abstimmung statt: 233 stimmten, davon 173 für, 58 gegen den Antrag; 2( Bebel und Liebknecht) enthielten sich, weil sie nicht für den Papierkorb des Bundes­raths arbeiten wollen, ausdrücklich der Abstimmung.

Schluß der Situng 3%, Uhr Nachmittags. Nächste Sigung: Mittwoch 12 Uhr.

Politische Uebersicht.

Berlin , 2. Dezember.

Zwei noch unlängst als Matadore der Berliner Bör­senwelt geltende Banquiers und Inhaber einer bedeutenden Firma der jetzt falliten Firma Heß& Kaß, die Kaufleute Hermann Kaz und Salomon Kah, werden gegenwärtig steck­brieflich verfolgt. Das Schlimmste dabei ist, daß durch den Bankerott diefer Schwindler ein großer Theil hiesiger kleiner Bürger um einen Theil ihres Vermögens gekommen sind.

Wie es im ,, deutschen Reiche " aussieht, ersehen wir aus einer einzigen Nummer des" Frankfurter Anzeigers" vom 23. November, der folgende Vorkommnisse mittheilt: Am Samstag erhängte sich ein Mädchen. Zwei Burschen brachen gemeinsam in Dachkammern und Mansarden ein und nahmen daraus mit, was ihnen zum Versilbern anstand. Vierundfünfzig arbeits­lose Leute wurden zur Aburtheilung eingeliefert.- Gestern waren nicht weniger als 149 Wohnungen zum Vermiethen aus­geboten, daneben 200 möblirte Zimmer und 136 Schlafstellen. -An der Börse eine heillose Deroute( allgemeine Rauferei) der Bettel ist im höchsten Flor. Fürwahr, eine herrliche Kulturentwickelung!"

Nach statistischen Angaben standen am Ende des vorigen Jahres in England und Wales 28,870 Personen im Dienste Ser Polizei, 457 davon waren Geheim- Polizisten. Diese Armee der öffentlichen Sicherheit" fostete 2,698,412 Pfund Sterling, oder 130,920 Pfund Sterling mehr als im vorausgehenden Jahre. Von den 29,000 Polizisten kommen nahezu 10,000 für die Haupts stadt in Abrechnung. Berlin , das nicht einmal ein Biertel der Bevölkerung von London zählt, besigt bereits ca. 15,000 Polizeibeamte.