11

Die Türkei   und der Sultan   müssen grenzenlos glücklich sein. Die Gewalt des Sultans ist eine absolute; frei von jeder Kontrole und Verantwortlichkeit, ist sie weder durch berathende Versammlungen, noch durch die Pflicht, irgend wem Rechenschaft zu legen, noch irgend wessen Ansicht einzuholen, eingeschränkt. Der Sultan   vereinigt in seiner Hand die gesetzgebende, die rich­terliche und die vollstreckende Gewalt. Der Muselmann sagt: Der Sultan ist der Schatten Gottes auf Erden", oder auch: Ein Befehl des Sultans ist das Gesetz selbst." Die äußeren Zeichen, mit welchen das Volk und die Großen ihre Ehrfurcht vor dem Sultan zu erkennen geben, entsprechen dieser Allgewalt. Er empfängt höchstens die durch Konstantinopel   reisenden Mit­glieder regierender Familien, die Botschafter, den Großvezier, den Scheif- ul- Islam und in langen Zwischenräumen einige Mi­nister oder Provinzgouverneure. Die Türken, welche zu ihm zu­tritt erhalten, nähern sich ihm nur zitternd; meistens müssen sie mehrere Stunden warten, ehe sie eingelassen werden. Sobald sie die Schwelle des Zimmers, in welchem sich der Sultan   befindet, überschritten haben, bleiben sie dicht an der Wand mit weit vor= gebeugtem Körper, die Hände über dem Leibe gekreuzt, in demü­thigster Stellung oder richtiger ganz niedergedrückt stehen. Man foll dem Sultan nicht in's Angesicht blicken, höchstens wage der Gast, wenn der Sultan   das Wort an ihn richtet, einen verstoh­lenen und flehenden Blick auf den Herrscher. Auf jede seiner Aeußerungen antwortet man mit einem Asemena, b. i. einem türkischen Gruße, indem man nämlich die rechte Hand an die Lippen und an die Stirn führte. Je tiefer die Hand sich neigt, ehe sie sich zu den Lippen erhebt, desto ehrfurchtsvoller ist der Gruß. Vor dem Sultan   sinkt sie bis zum Boden herab. Man darf sich nicht vor ihm seßen. Davon giebt es nur eine Ausnahme, wenn nämlich der Sultan  einen fremden Souverän oder Prinzen zu Tische lädt, dann sind auch die Minister zugezogen und müssen sich nothgedrungen zum Essen sezen, aber auch dann thun sie es so wenig wie möglich und halten sich ängstlich am Rande ihres Sessels. Wenn der Sultan   öffentlich erscheint, so grüßt er nicht das Volk und das Volk darf ihm auch nicht zurufen. Ein Jeder nimmt auf seinem Wege die eben beschriebene Stellung. Man erhält erst einen richtigen Begriff von der absoluten Gewalt und ihren Folgen, wenn man diesen Mann allmächtig und mit geringschäziger Miene durch die schweigende Menge, deren schmutzige Gewän­der und düstere Blicke ein resignirtes Elend verkünden, vorüberreiten sieht.

* Zu den letzten Maßnahmen unserer Berliner   Polizei vom 23. November ist außerdem nachzutragen, daß noch weitere Haussuchungen bei den Parteifreunden Hagendorf, Stöhr und Krause stattgefunden haben. Beim Parteifreunde Hagen­dorf wurden wahrscheinlich in Ermangelung eines Besseren, vielleicht von Petroleum sogar verschiedene national- ökono­mische Werke mit Beschlag belegt.

* Versammlungs- Auflösungen scheinen wieder auf der Tagesordnung zu stehen. So wurde in Eisenach   am 26. No­vember eine zahlreich besuchte Arbeiterversammlung aufgelöst. Auf die Frage: Warum?" giebt es meist keine Antwort.

* Der letzte Aft eines erschütternden Familiendramas Spielte sich am 27. November vor dem Berliner   Stadtschwurge­richte ab. Am 22. Februar d. J. starb der Kutscher Horst und ließ seine Frau nach achtjähriger Ehe mit drei Kindern zurück, dem 9jährigen Mar, der 6jährigen Marie und der 5jährigen Elisabeth. War das Fortkommen der Familie schon bei Lebzeiten des Mannes ein fümmerliches, so kam die alleinstehende Frau, in der Sorge um die Kinder, vollends zurück. Sie bezog mit ihrer Mutter, einer Waschfrau, und ihrer Schwester, die den Tag über außer dem Hause beschäftigt war, ein fleines Quartier in der Prenzlauerstraße 56, aus Stube, Kammer und Küche beste­hend, und nähte für ein Kürschnergeschäft. Aber der Verdienst reichte nicht für die Bedürfnisse der Familie hin, endlich hörte er ganz auf, und nun versuchte die Frau durch Nähen an der Ma­schine ihr Brod zu verdienen, was ihr jedoch nicht in wünschens­werthem Maße gelang. Die sonst heitere Frau, die an ihrem Mann mit zärtlicher Liebe gehangen hatte, wurde von Tag zu Tag schwermüthiger, ihr einziger Trost bestand in Thränen und wiederholt unterhielt sie sich mit ihrer Mutter von der Katastrophe des Zimmermeisters Bäntsch, der aus Nahrungssorgen seine Fa­milie mit Kohlendunst vergiftete. Mitte Juli war der Jam­Mitte Juli war der Jam­mer auf's Höchste gestiegen, der Kredit war erschöpft, die letzten entbehrlichen Sachen versetzt, das Geld bis auf wenige Silber­groschen verzehrt. Als am Abend des 22. Juli gegen 7 Uhr die Schwester der Wittwe von der Arbeit nach Hause zurückkehrte, hörte sie aus der Stube her ein verdächtiges Röcheln; bestürzt öffnete sie die Thür und sah zu ihrem Entsetzen die Schwester auf dem Fußboden, die Kinder in den Betten liegend, alle vier Personen sauber gewaschen und mit reiner Wäsche bekleidet. Der fleine eiserne Dfen in der Stube, der gewöhnlich in der Küche als Kochheerd diente, der feine Dunst in der Stube deutete ge­nugsam an, was geschehen. Auf den Hülferuf des jungen Mäd­chens eilten die Nachbarn herbei. Sie fanden das älteste und das jüngste Kind todt vor, die Mutter und das zweite Kind leb­ten noch; letteres verstarb trot ärztlicher Pflege noch im Laufe der Nacht. Die Mutter wurde bis zum 2. August in der Cha­rité behandelt, um sodann unter die schwere Anklage des Mor­des gestellt zu werden. Die Angeklagte, Marie Louise Auguste Horst, geb. Bergner, ein ärmlich gekleidetes Weib von 28 Jah­ren, dem Elend und Gram ihren harten Stempel in das früher wohl nicht unschöne Geficht drückten, erzählte den Geschworenen in herzergreifender, von Thränen unterbrochener Rede ihr schwe­res Geschick. Sie habe nicht mehr ein und aus gemußt, Mutter und Schwester hätten sie von dem geringen Verdienste unterstützt und das habe ihr erst recht das Herz abgedrückt. Am Morgen des 22. Juli fei ihr der Entschluß gekommen, sich das Leben zu nehmen; Nachmittags gegen 3 Uhr habe sie den eisernen Ofen in die Stube geschleppt, für das letzte Geld Holzkohlen geholt und dieselben angezündet. Als ihr schon etwas schwindlig ge­worden, sei ihr Blick auf die Kinder gefallen, einer plöglichen Eingebung folgend, habe sie dieselben schnell gewaschen, rein an­gezogen und zu Bette gebracht, um sie mit sich in's Jenseit zu nehmen." Dann habe sie sich über die brennenden Kohlen ge= beugt und den Dunst so lange eingeathmet, bis ihr die Be­sinnung schwand. Von dem Präsidenten darauf auf­merksam gemacht, daß sie vor dem Untersuchungsrichter einge­räumt habe, schon längere Zeit den Gedanken mit sich herumge= tragen zu haben, sich und die Kinder zu tödten, versicherte die Angeklagte, damals die Unwahrheit gesagt zu haben, in der Hoffnung, sie werde hingerichtet und auf diese Weise mit ihrer Familie wieder vereinigt werden. Die Geschwornen gaben nach längerer Berathung ihr Verdikt dahin ab, daß die Ange­flagte schuldig sei, ihre drei Kinder vorsätzlich getödtet zu haben, daß jedoch nicht erwiesen sei, sie habe die That mit Ueberlegung begangen. Das Urtheil des Gerichtshofes lautete wegen ,, Todt­

-

-

-

zwei Jahre Gefängniß. schlages" auf Nun, uns So­cialisten kann ein solcher Vorfall nicht mehr in Erstaunen seßen, da wir nur zu gut wissen, daß arm zu sein, in der heutigen Gesellschaft als die größte Schande gilt.

* Wie weit bereits die Franzosenfresserei bei uns gedie­hen ist, ersehen wir aus der Sammlung deutscher Ge­dichte für Schule und Haus", einem Buche, das an Chau­vinismus nichts zu wünschen übrig läßt. Das Produkt deutschen Geistes ist bereits auf vielen Lehranstalten und Schulen einge­führt. Zur Charakteristik nationalliberaler Gesinnungsweise thei= len wir folgende Stelle daraus mit: ,, Schäumt ein uferloses Meer, Ueber diese Franken her! Alle Triften, alle Stätten, Färbt mit ihren Knochen weiß! Welchen Rab  ' und Fuchs verschmähten, Gebet ihn den Fischen preis. Dämmt den Rhein   mit ihren Leichen, Laßt, gestaut von seinem Bein, Schäumend um die Pfalz   ihn weichen Und ihn dann die Grenze sein! Eine Lustjagd, wie wenn Schüßen Auf der Spur dem Wolfe sizen! Schlagt ihn todt! das Weltgericht

Fragt Euch nach den Gründen nicht!"

Wem sollten da nicht sich die Haare zu Berge sträuben? und solche Poetasterei will man, wie verlautet, dem ,, Reichs­lande" bieten, das unter den Fittichen des neuen Reiches" sich ausnahmsweise glücklich" fühlt? Wohl bekomm's!

Innere Parteiangelegenheiten.

Einladung

zur Landes- Versammlung der sächsischen Social- Demokraten, welche zu Chemnik, Sonntag, den 9. Januar 1876, von Vormittags 10 Uhr an, in Türk's Saal, Königstr. 8, statt­findet.

Tagesordnung:

1. Besprechung der nächsten Reichstags- Wahlen; 2. Berathung bezüglich des Vorgehens der Partei zur Erlan­gung des allgemeinen gleichen und direkten Wahlrechts für den sächsischen Landtag und die Gemeinde- Collegien. Indem wir die sächsischen Parteigenossen um zahlreiche Be­theiligung bitten, bemerken wir, daß Sonnabend, den 8. Januar, Abends, ein allgemeiner Commers im Elysium

zur Begrüßung der Gäste von den Chemnitzer   Parteigenossen in Aussicht genommen worden ist.

Die Letzteren werden für die schon Sonnabend eintreffenden Parteigenossen Quartiere besorgen und ist zu dem Zweck die rechtzeitige Anmeldung bei dem unterzeichneten Lokal- Comité er­forderlich.

An das Letztere wolle man auch etwa noch zur Tagesord= nung zu bringende Anträge bis zum 1. Januar n. J.

einreichen.

Mit social- demokratischem Gruß Bebel. Geib. Liebknecht. Motteler. Vahlteich. Für das Lokal- Comité:

Ph. Wiemer, Poststr. 34, Chemnit.

* Am 29. November fand die Verurtheilung der am 6. und 7. Nov. verhafteten sechs Parteigenossen vor dem Kreisgericht zu Altona   statt. Forschner wurde freigesprochen, vier Andere er­hielten je 7 Tage und einer 10 Tage Gefängniß. Die Verhand­lung wird in einer der nächsten Nummern eingehender besprochen

werden.

"

* Sonntag, den 28. November, fand in Berlin   in den Lokolitäten der Brauerei Tivoli" eine von Tausenden besuchte Arbeiterversammlung statt, in welcher der Reichstags- Abgeordnete Bebel über die Stellung der Arbeiter und Kleingewerbetreiben­den zum Socialismus referirte. Einen ausführlichen Bericht er­halten unsere Leser in der nächsten Nummer.

* Die strikenden Tucharbeiter in Langensalza   erlassen fol­genden Aufruf: Werthe Genossen und Brüder!

Es wird Euch wohl schon durch verschiedene Organe bekannt geworden sein, daß die Weber der Aktien- Tuchfabrik Langensalza  wegen unbegründeter Lohnreduzirung und unpassender Behand= lungen seit dem 9. Oktober die Arbeit eingestellt haben. Die Vororts- Verwaltung zu Krimmitschau ist mit ihrer Kasse nicht im Stande, eine solche Wasse auf die Dauer zu erhalten, die Kasse ist sogar schon erschöpft.

Wir wenden uns daher vertrauensvoll an Euch, werthe Ge­nossen und Brüder, und appelliren an die Gefühle der Mensch­lichkeit. Habt Erbarmen mit Euren darbenden Brüdern, damit fie der Kapitalmacht Widerstand leisten können! Helfet uns, damit wir nicht dem Hohne und Gespötte preisgegeben werden! Man wendet alle erdenklichen Mittel an, um unsere gerechte Sache in ein schlechtes Licht zu stellen, die ärgsten Lügen werden in öffentlichen Blättern verbreitet, um uns lahm zu legen. Der Aufsichtsrath von Krimmitschau ist hier gewesen und hat die Ursachen des Strikes untersucht und geprüft und hat sich selbst darüber ausgesprochen, daß er Alles viel schlechter gefunden habe, als wie wir es ihm nach Krimmitschau berichtet hätten, und daß der Strife ein gerechtfertigter sei."

Darum, werthe Genossen und Brüder, stehet uns bei und helfet, denn fast alle Strikende sind Familienväter und die Noth tritt immer ernster heran. Helfet uns den Sieg erringen, da­mit wir nicht unterliegen, damit wir dann nicht erst recht der Noth unterworfen sind.

-

Auch die kleinste Gabe ist willkommen, aber schleunige Hülfe thut sehr noth, lieben Brüder.

Das Comité.

J. A.: Georg Scharr, Vorsitzender. Neustadt 815.

Alle Briefe und Geldsendungen an obige Adresse. Quit­tungen werden in den Parteiblättern, oder wo es sonst gewünscht wird, veröffentlicht.

Alle Arbeiterblätter werden um Abdruck gebeten.

An die Mitglieder der Gewerkschaft der Holzarbeiter! Da in Folge einer zu Altona   gehaltenen Rede unser Freund und Leiter der Gewerkschaft Bruno Moje plötzlich verhaftet wurde und es bis zur Stunde noch nicht gelungen ist, ihn weder so, noch gegen angebotene Caution auf freien Fuß zu bringen, so sah sich der Ausschuß der Gewerkschaft genöthigt, Anstalten zu treffen, damit in der Führung der Geschäfte feine Störung ein­tritt. Es ist nun bis auf Weiteres der zweite Vorsitzende der

| Gewerkschaft, Reinhard Meier, mit der Redaction der ,, Union  " betraut und im Weiteren mit mehreren bewährten Freunden der Gewerkschaft ein Abkommen getroffen, wonach dieselben sich in die Führung der Geschäfte theilen. 57

Es wird also nach wie vor die Verwaltung eine geregelte fein und die Verhaftung unseres Freundes weiter feine Störung nach sich ziehen. Sollte im Laufe der letzten Woche das Eine oder Andere nicht besorgt worden sein, so ersuchen wir die Ge­werksgenossen, dies auf das Conto der plötzlichen Verhaftung zu setzen und etwa nicht besorgte Bestellungen zu erneuern.

Gewerksgenossen! Die Verhaftung unseres Geschäftsführers ist zwar ein harter Schlag, indessen werden wir denselben zu pa­riren wissen. Lasse sich kein Mitglied durch solche kleine Po­lizeimaßregeln abschrecken, sondern halten wir alle fest zur Fahne. Den Einen kann die Staatsgewalt aus unserer Mite reißen, um ihn auf kürzere oder längere Zeit unschädlich zu machen, uns Alle aber kann sie nicht ins Gefängniß stecken, und deshalb müssen die, die in der Freiheit sind, denen es noch gestattet ist, die freie deutsche Reichsluft zu genießen, unermüdlich weiter ar­beiten und wirken, damit unsere Vereinigung mehr wachse und gedeihe und somit bewiesen werde, daß unsere Verbindung auf Felsen gebaut und nicht durch die Beseitigung irgend eines Ein­zelnen vernichtet werden kann.

Gewerksgenossen! Seid am Platz! Die Adresse für alle an die Gewerkschaft bestimmten Briefe ist nach wie vor: Redac­tion der Union  ", Breitestr. 39 I.

11

Hamburg  , den 27. November 1875.

Mit social- demokratischem Gruß Der Ausschuß der Gewerkschaft der Holzarbeiter. Reinhard Meier, zweiter Vorsitzender. H. Somann, Kassirer. W. Eberhard, D. Weinhold, Beisitzer.

"

Crefeld  , 22. Nov.( Prozeßbericht.) Den Lesern des ,, Neuen Social Demokrat" wird es vielleicht nicht uninteressant sein, etwas Näheres über meine Verhaftung zu erfahren. Sonntag, 3. Oktober, sprach ich in Kempen   in einer Volksversammlung über die Bestrebun­gen der Socialistischen Arbeiterpartei. Nachdem ich, von der französi schen Revolution anfangend, die Entwickelung unserer gesellschaftlichen Zustände beleuchtet und die zwingende Nothwendigkeit der Gründung einer eigenen Arbeiterpartei flar gelegt hatte, ging ich dazu über, die einzelnen Forderungen unserer Partei zu spezialisiren. In politischer Beziehung strebten wir die volle Gleichberechtigung aller Staatsbürger an. Abschaffung aller Censuswahlen und Ümänderung unseres heuti­gen Steuersystems. In socialer Beziehung Abschaffung des Systems der Lohnarbeit und eine gerechtere, gleichmäßigere Vertheilung des Ar­beitsertrages durch Errichtung von Produktiv- Associationen mit Staats­hülfe. Um den Einwand, der Staat könne und dürfe nicht zu Gun­ften einer Klasse interveniren, von vornherein zu widerlegen, führte ich an, daß noch kein Krieg geführt worden sei, in dem nicht bedeu­tendere Summen aufgebracht worden, als wir sie zur Begründung von Produktiv- Associationen für nöthig hielten. So sind beispielsweise bei Sem letzten sogenannten heiligen Kriege zunächst 120 Mill. Thaler, nach der Schlacht von Sedan noch 100 Mill. Thaler vom norddeutschen Reichstage bewilligt und durch Zeichnungen aufgebracht worden. Nun geißelte ich das Kriegführen hier sprang der überwachende Bürgermeister, Herr Mooren von Kempen  , auf und rief: ,, Das werde ich mir merken!" Ich erklärte ihm, mich nicht mitten im Satz zu unterbrechen, sondern den Schlußsah aussprechen zu lassen; doch vergebens, er verfügte meine Verhaftung, die denn auch von den gleichfalls anwesenden zwei Polizeibeamten gleich ausgeführt wurde. An der Thüre des Saales angelangt, rief er: Schließt mir den Men­schen!" Ich protestirte gegen dies Vorgehen, indem ich meine Vereit­willigkeit mitzugehen sofort erklärte, aber umsonst, er fürchtete, ich könne ihm durchgehen".( 3wischen zwei Polizisten und hinterdrein der Bür­germeister.) Und so wurde ich denn, die Hände übereinandergeschlossen, durch die Stadt zum Munizipal- Gefängniß abgeführt. Dort angekom men, sagte der Herr Bürgermeister: Hätten sie nur das eine Wort nicht gesagt, ich bin selbst schon Abgeordneter gewesen und strebe für die Freiheit, allein das war zu viel." Ich erklärte ihm, wenn er mich hätte aussprechen lassen, so würde der Saz ganz anders gelautet haben, worauf er erwiderte: Ich habe an der Bewegung ihrer Stimme ge­hört, daß sie noch etwas hinzufügen wollten, sie hätten auch durch den Nachsatz den Vordensat lindern können, aber ich mußte Sie unterbrechen." Den andern Tag wurde ich zwischen 12 und 1 Uhr von den zwei Po­lizeibeamten geholt und nach dem Rathhaus geführt. Ob durch Zufall dies in der Stadt bekannt war, weiß ich nicht, die Straßen, die wir pafsirten, waren angehäuft met gaffenden Menschen. Nachdem mir das Protokoll verlesen und mir durch den Bürgermeister Feder und Papier bewilligt war, damit ich meine Rede auch reproduziren und an die Oberprofuratur einsenden könne, wurde ich wieder zurückgeführt. Er= wähnenswerth ist noch, daß zu gleicher Zeit ein Mann eingebracht wurde, den man auf frischer That beim Diebstahl ertappte. Er hatte Speck gestohlen. Nachdem der Thatbestand festgestellt, wurde ihm be­deutet, er könne nun gehen, das Weitere würde sich finden. Dienstag, Auf den 5. Oktober, wurde ich per Bahn nach Cleve transportirt. dem Transportzettel stand: Aufwiegler, wegen agitatorischer Rede!" gelehnt. Freitag, den 22. Oktober, hatte ich am Zuchtpolizeigericht zu Ein Antrag, mich gegen Leistung einer Caution freizulassen, wurde ab­Cleve Termin. Die Anklage lautete wegen Vergehen gegen§§ 130 und 131. Man hatte in meinen Ausführungen über das Dreiklassen­Wahlgesetz auch noch eine Aufreizung verschiedener Klassen der Bevöl terung gefunden. Als Belastungszeuge fungirte der Herr Bürgermeister. Er reproduzirte meine ganze Rede und suchte zu beweisen, daß ich in einem aufregenden Tone und jedesmal, wenn ich vom Staat oder von Beamten gesprochen, mit einer gewissen Verachtung gesprochen hätte und gab zu, daß er mich mttten im Sah unterbrochen. Der Staats­Anwalt beantragte zwei Monat Gefängniß. Als Entlastungszeugen waren die Parteigenossen F. Buchbender aus Crefeld   und C. Ullrich aus Uerdingen   anwesend. Nach einer gut gehaltenen Vertheidigung von Seiten meines Rechtsbeistandes, Dr. Hoffmann, und von mir selbst, worin namentlich Herr Hoffmann hervothob, daß der Krieg eine histo rische Thatsache sei und daß eine Kritik deffelben nicht strafbar sei, wolle man eine spätere Geschichtsschreibung nicht zur Unmöglichkeit

"

machen, und man auch außerdem in einem nicht ausgesprochenen Sah fein Vergehen erblicken könne, erkannte der Gerichtshof auf Freispre= chung chung in beiden Fällen. Schon glaubte ich mich der Freiheit wieder­gegeben; doch im Nathe der Götter war es anders beschlossen. Der Staatsanwalt legte Appell ein und ich wurde wieder in's Gefängniß zurückgeführt. Montag, den 25., wurde schon in der Appellinstanz verhandelt. Bürgermeister Mooren war wieder anwesend. Der Ober­prokurator beantragte nach einer längeren Rede über die Agitation der Socialisten und nach Verlesung verschiedener Berichte, worin das Wachsen der Bewegung und ich als ein gefährlicher"(?) Agitator geschildert Gefängnißstrafe von drei Monaten und die Kosten. wurde, Aufhebung des Urtheils erster Instanz und Erkennung einer Der Gerichtshof erklärte nach einer glänzenden Vertheidigungsrede meines Anwalts das Urtheil erster Instanz in Bezug auf§ 130 für bestätigt, hob dagegen dasselbe in Bezug auf§ 131 auf und verurtheilte mich zu sechs Wochen Gefängniß, unter Anrechnung der Untersuchungshaft, und in die Kosten. Bemerken will ich noch, daß der Herr Bürgermeister nach der Situng das Gefängniß besichtigte, wo er sich auch in meine Zelle führen ließ. Ueber die Behandlung in Cleve kann ich nicht klagen, sie war den Verhältnissen nach eine äußerst humane und bedeutend bessere, wie die in Stuttgart  , wo ich als Untersuchungs- Gefangener nicht einmal Licht bekam. Vor meiner Verurtheilung hatte ich Selbstverpflegung, nach derselben kam ich mit dem Redakteur und Verleger des Clevischen Volksfreund" zusammen und beschäftigte mich mit Buchbinderarbeit. Am 14. November wurde ich entlassen und habe die Agitation wieder frisch aufgenommen, denn derartige Schrecken verfangen nicht. Briefe, die Agitation betreffend, bitte ich an untenstehende Adresse zu richten. Mit social- demokratischem Gruß

August Dreesbach, Petersstr. 32.